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Aber sie haben dich durchgelassen, nicht?
Ja, ja. Die Sache ist bestimmt harmlos. Aber sag Ruksala nichts davon.
Der Murugan-Tempel war ein schlichtes Gebäude mit einer überdachten Kolonnade und einem wunderschönen Sandsteinturm, der von oben bis unten mit Schnitzereien und Skulpturen verziert war. Auf der linken Seite befand sich ein freistehender Glockenturm, unter dem der Tempeljunge das gestraffte Seil hielt. Als sie sich näherten, ertönte die riesige Messingglocke, und sie beeilten sich, die Schuhe auszuziehen, die Hemden abzustreifen und ihre Füße unter den Wasserhähnen zu waschen.
Im dunklen Tempelinneren schlug ihnen der berauschende Duft von Kampfer und Sandelholz entgegen. Mit freiem Oberkörper und gekreuzten Beinen saßen Mahindan und Rama mit anderen Männern im Kreis auf dem Fußboden, vor ihnen Messingschalen mit Obst und Blumengirlanden. Das innere Heiligtum war Murugan geweiht, der obersten Gottheit des Tempels. Von seinem Thron aus überschaute er die Gläubigen, während der Priester Sanskrit-Verse anstimmte. Mahindan faltete die Hände, schloss die Augen, entspannte und überließ sich dem Weihrauch und dem vertrauten rhythmisch beschwörenden Gesang.
Seit ihre Frauen schwanger waren, kamen er und Rama in der Mittagspause ein oder zwei Mal in der Woche zum Tempel. Mahindans Gebete waren immer dieselben: eine gesunde Schwangerschaft, eine unkomplizierte Entbindung, ein kluges Kind. Es hatte sich so eingespielt, dass Chithra vor dem Einschlafen ihr Nachtgewand hochzog und Mahindan den Mund auf ihren Bauch legte und ein närrisches, selbstausgedachtes Liedchen sang. Wenn Chithra dann lachte, spürte er das Vibrieren in ihrem Bauch und stellte sich vor, wie das Baby darin umherschwamm, wie es Ammas Lachen von innen und Appas Schmachtgesang von außen hörte. Wir lieben dich, sagte er dem Baby jeden Abend. Wir lieben dich so sehr.
Das Wunder, welches Chithras Körper vollbrachte, war nicht zu fassen: Jeden Tag wurden Hände und Füße, Wimpern und Fingernägel etwas länger. All die winzigen Einzelheiten, die sich ins Dasein entfalteten.
Wem wird das Baby ähneln? Wird es so schallend lachen wie Ammachi? Tante Nilas fotografisches Gedächtnis bekommen? Ganze Abende füllten sie mit glückseligen Spekulationen, stundenlang malten sie sich ihre werdende Familie aus. Fast konnten sie darüber die Wirren der Außenwelt vergessen.
Der Priester war rund wie ein Fass. Seine Stirn war gezeichnet von drei mit weißer Asche gezogenen Linien und einem gelben Sandelholztupfen mit rotem Kumkum in der Mitte. Weiße Streifen liefen ihm vom einen Arm zum andern Arm quer über den breiten Brustkorb. Auf einem Tablett balancierte er eine Öllampe und schwenkte die Flamme vor dem Thron des Murugan hin und her, sang Mantras, auf dass die Gottheit herabsteige und diese Statue mit ihrer heiligen Macht erfülle. Zu seiner Linken schlug der Tempeljunge einen Gong.
Mahindan fiel in einen Trancezustand. Seine Lippen bewegten sich kaum. Die Verse waren so tief in ihm verwurzelt, dass sie sich wie von selbst formten. Wie viele werdende Väter waren schon vor ihm hierher gekommen, um dieselben Gebete zu sprechen? Er empfand eine tiefe innere Ruhe und nahm seinen Platz in der uralten Bruderschaft ein.
Eine sichere Entbindung. Ein gesundes Baby. Sein Vater musste dieselben Gebete gesprochen haben und vor ihm sein Großvater, in den Tempeln von Colombo. An Orten, wohin sein eigenes Kind eines Tages, wenn Freiheit herrscht, vielleicht zur Andacht gehen wird. Seine größte Hoffnung für sein Baby war: ein Leben unbehelligt von Krieg.
Es gab ein Foto von Mahindans Großvater aus der Zeit, als er stellvertretender Leiter der Abteilung für landwirtschaftliche Bewässerung war. Auf diesem Bild sieht man Appappa in westlicher Kleidung mit Jackett und Schlips, einer dicken, schwarzgerahmten Brille und glatt zurückgekämmtem Haar. Damals besaß die Familie einen Bungalow in Colombo 7, sie hatten Dienstpersonal und vollständige Essbestecke. Wenn es nicht den Terror von 83 gegeben hätte, wären sie jetzt vielleicht noch in der Hauptstadt.
Aber Mahindan wollte gar kein Dienstpersonal haben, und auch kein Haus in Colombo. Das Essen schmeckte ihm besser, wenn er es mit den Händen aß. Er liebte seine Arbeit und das einfache Leben mit Chithra, er liebte die Familie, die sie jetzt gründeten. Aber er wünschte seinen Kindern mehr und bessere Möglichkeiten. Möglichkeiten, die sein Großvater hatte, ehe die Singhalesen von Neid getrieben Quoten einführten, die die Rechte der Tamilen immer weiter beschnitten.
Der Priester ließ die Öllampe sinken und die Männer verneigten sich kniend vor der Gottheit. Mahindan bat mit zu Boden gewandtem Gesicht: Lass diese Nöte enden. Als die heilige Flamme ihm dargeboten wurde, stand er auf, berührte die Öllampe mit den Händen, schöpfte mit schneller Geste den heiligen Rauch und fächelte ihn über Gesicht und Kopf. Unartikulierte Bitten schwirrten ihm durch den Kopf. Für mein Kind. Für mein Kind.
Die Sakramentschale wurde herumgereicht, und Mahindan tauchte den Mittelfinger in die rote Kumkum-Paste, drückte sich einen Punkt auf die Stirn und verrieb den Rest auf beiden Seiten des Halses. Als die Puja beendet war, lud der Priester sie zum Mittagessen im hinteren Tempelraum ein.
Willst du dableiben? Rama war immer für eine Mahlzeit zu haben. Er schaute auf die Uhr und sagte: Wir haben noch etwas Zeit.
Mahindan fasste sich unwillkürlich an den roten Punkt auf der Stirn. Er war unruhig, ihm war gar nicht nach Geselligkeit.
Komm, sagte Rama, du musst deinen Kopf freikriegen.
Sie schritten mit zusammengelegten und zur Stirn geführten Händen den inneren Kreis des Tempels ab und verbeugten sich vor jeder Gottheit in ihrer je eigenen Nische. Als sie zu Ganescha kamen, blieb Rama stehen. Er ließ die Hände auf die Brust sinken.
Ooooooommmmmm.
Rama hatte eine schöne Stimme. Tief und klangvoll, schien sie aus dem innersten Kern seines Seins zu strömen. Mahindan stimmte ein, und gemeinsam hielten sie die heilige Silbe, bis sie anschwoll und den Raum füllte und sich mit dem Kampfer und Weihrauch mischte.
Ooooooommmmmm.
Mahindans Herz schlug kräftig und regelmäßig. Sein Körper kribbelte, jedes Chakra belebte sich, wurde aufnahmebereit.
Ooooooommmmmm.
Om. Ganzheit. Vollkommenheit. Alles. Sie hielten den Ton, bis ihnen der Atem ausging und Mahindan spürte, wie der Nachhall das Ohr jeder Gottheit im Tempel berührte, auch das Ohr des Murugan im Innersten des Heiligtums.
Da begann Rama zu singen. Om Gam Ganapataye Namaha. Seine Stimme war fest und sicher. Der Klang des Gan vibrierte weit hinten in seiner Kehle. In einem anderen Leben mochte er ein Brahmane gewesen sein. Om Gam Ganapataye Namaha. Mahindan stimmte ein, und mit den Füßen den Rhythmus schlagend, vereinten sie sich in einem Wechselgesang, dessen langsam ausgehauchtes Om Mahindan von Mal zu Mal beruhigte.
Om Gam Ganapataye Namaha. Mahindan hörte, wie seine Stimme sich beim Singen ausdehnte, kräftiger und sicherer wurde. Die Unruhe schwand, sein Geist war still und klar, sein Körper ein reines Gefäß für die heiligen Klänge. Om Gam Ganapataye Namaha. Er war eins mit Rama, eins mit aller Kreatur. Eins mit der Gottheit.
Sie beendeten ihre Meditation mit drei abschließenden Oms. Dann wandte Mahindan sich seinem Cousin zu, strahlte ihn an.
Besser?, fragte Rama.
Weißt du, Machan, sagte Mahindan, das ist für mich immer Ramas Lied.
Lord Ganeschas Lied, nicht meins, sagte Rama. Hör jetzt auf mit dem dummen Gerede. Wir müssen zurück zur Arbeit.
Aber sie nahmen sich Zeit und blieben noch eine Weile an dem heiligen Ort unter der Obhut der Gottheiten. Rama sang ganz leise noch ein Lied aus dem Thiruvasagam. In weltvergessenem Wohlgefühl zog Mahindan sein Hemd aus der Gesäßtasche und steckte die Arme in die Ärmel.
Vor dem Tempel befand sich eine lange Kolonnade, von deren unterer Decke Girlanden aus Orangenblüten in der Brise schaukelten und ihren Duft verströmten. Rama sang jetzt die beschwingten Verse und trommelte auf seinen Oberschenkeln den Rhythmus dazu.
Komm her, Täubchen, rief er und schlenderte mit nach außen gekehrten Füßen durch die Kolonnade.
Die Tempelglocke schlug und Mahindan, der immer noch mit seinen Hemdknöpfen beschäftigt war, schaute nach oben. Rama blieb urplötzlich stehen. Vor dem Tempel, auf der anderen Straßenseite, stand ein Lastwagen, auf dessen Ladefläche eine Gruppe finster dreinschauender junger Männer saß. Daneben standen zwei bewaffnete Kommandanten in Tarnuniform.
Mahindan blieb völlig ruhig. Das Dunkel des Tempels war direkt hinter ihm. Ich könnte jetzt noch zurücklaufen und verschwinden, dachte er. Die Kommandanten winkten ihnen scheinbar freundlich zu, doch Mahindan wurde übel vor Schreck, als er Arun erkannte. Mahindan war klar, dass sie nicht in die Kolonnade kommen würden. Aber Rama konnte dort auch nicht versteinert stehenbleiben.
Die Glocke schlug ein zweites Mal und Mahindan sah, wie ein Teenager mit beiden Händen wild am Strick zog. Das war keiner von den asketischen, zartgliedrigen Tempeljungen. Die Hosenbeine hatte er über die Knöchel hochgerollt, das offene Hemd flatterte um ihn herum.
Rama ging, als wäre er hypnotisiert, auf die Kommandanten zu. Schuldgefühl zwang Mahindan, ihm barfuß über die Kieselsteine zu folgen, die sich scharf in seine Fersen bohrten. Er und Rama waren zusammen mit Arun in die Schule gegangen. Schon als Kind hatte Arun sich ein Vergnügen daraus gemacht, seine Schulkameraden zu drangsalieren. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die für den Krieg lebt. Als die Rekrutierungen begannen, war er der Erste gewesen, der sich einschrieb, noch ehe er die Schule abgeschlossen hatte.
Mr. Ramachandran, Sri-Lehrer, rief Arun über die laut tönende Glocke hinweg. Seit Jahren hatten sie ihn nicht gesehen, und er hatte inzwischen sein linkes Ohr verloren. Wir bringen dir eine Einladung, sagte er. Im Namen des Führers.
Der Junge unter dem Glockenturm kicherte. Mahindan, der die halbe Kolonnade hinuntergelaufen und nur noch wenige Schritte hinter Rama war, sah seine gläsernen Augen, sein unsicheres Gebaren. Er hatte den Glockenstrick losgelassen und hielt mit beiden Händen einen Cricket-Schläger, den er wie einen Krückstock auf den Boden setzte.
Mir? Ramas schrille Stimme verriet seine Erregung. Mahindan konnte sehen, wie sein Rücken bebte, auch sein feingliedriges, ungeschütztes Genick. Aber ich bin doch ein … ein … Lehrer … meine Schüler …
Jeder Dummkopf kann Mathe geben, sagte Arun. Tamil Eelam braucht dich für eine höhere Sache.
Eine höhere Sache, gackerte der betrunkene Junge. Er ging, den Schläger schwingend, auf Mahindan zu.
Die gefangengenommenen Männer auf dem Lastwagen starrten stumpf geradeaus. Mahindans Blickfeld verschwamm, ihm wurde schwindelig und er musste stehenbleiben, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie hatten die Kolonnade passiert und waren jetzt gnadenlos der Sonne ausgesetzt und dem heißen Boden, der ihnen die Füße verbrannte.
Was ist los mit dir, Machan? Arun ging auf Rama zu und schlug ihm leicht auf den Rücken. Du bist doch Lehrer, nicht? Du musst uns helfen, diesen singhalesischen Kerlen eine Lehre zu erteilen.
Mahindan musste hilflos zusehen, wie sein Cousin abgeführt wurde, vorbei an ihren Fahrrädern, die sie zusammen mit den Sandalen im kühlen Schatten einer Palmyrapalme hingeworfen hatten.
Währenddessen hatte der andere Kommandant mit geschultertem Gewehr dagestanden und zugeschaut. Jetzt ließ er das Gewehr sinken und fasste Mahindan am Arm.
Bist du auch Lehrer?, fragte er freundlich. Er war älter als Arun und hatte offensichtlich nichts dagegen, dass Arun den Befehl führte.
Mahindan merkte, wie er nach vorn geschubst wurde. Noch hatte er Ramas Gesang in den Ohren. Om. Gam. Ganapataye. Namaha.
Seine Knie fingen an zu zittern. Kaum konnte er das Wort Nein herausbringen. Da kam ihm, wie ein Geschenk Gottes, eine Idee. Me… Mechaniker, stammelte er. Ich … bin … Autos, Busse, Lastwagen … Ich …
Sein Mund war total ausgetrocknet. Er glaubte, an seinen eigenen Worten zu ersticken, stattdessen hustete er.
Ich repariere sie … in meiner … meiner … (Husten) …Werkstatt.
Du kannst Motoren umbauen?, fragte Arun.
Von Diesel auf Kerosin? Er spürte Erleichterung, und mit ihr kam der Mut. Ja. Das mache ich dieser Tage für alle. Motoren, Bremsen, neue Reifen … alles. Das kann ich machen.
Er hörte, wie ihm die Worte aus dem Mund sprudelten, und er hasste sich dafür.
Arun winkte seinen Komplizen zur Seite, und Mahindans Arm war wieder frei. Gott sei gelobt! Er wollte auf die Knie fallen.
Lass den Mechaniker laufen, sagte Arun. Er gab Rama einen heftigen Stoß, so dass er auf den Laster zustolperte. Einsteigen! Mach schon!
Rama versuchte, sich auf den Laster zu hieven, kam aber nur zur Hälfte hoch und rutschte rückwärts wieder auf den Boden. Seine Beine gaben nach. Mahindan wandte sich voller Scham ab und sah aus dem Augenwinkel, wie Arun ihn brutal nach oben bugsierte.
Sag es Ruksala, rief Rama, und seine Stimme brach.
Mahindan konnte Ramas Blick nicht standhalten. Das mache ich.
Wo ist deine Werkstatt?, fragte Arun, und Mahindan, der sich hilfsbereit zeigen wollte, erklärte ihm den Weg. Er versuchte, nicht auf das gekräuselte Stückchen Haut zu schauen, wo Aruns Ohr hätte sein müssen.
Gut, einen Automechaniker zu haben, sagte Arun und setzte sich auf den Fahrersitz. Dann steckte er die Hand aus dem Fenster, schlug zweimal ungeduldig auf die Tür und rief dem Jungen: Na mach schon, du Idiot!
Er schaltete den Motor an. Der Junge lehnte sich schwer auf seinen Schläger und blickte zu Boden.
Dann kommst du eben allein nach, rief Arun.
Die Tür auf der Beifahrerseite wurde zugeschlagen und Rama hob die Hand.
Mahindan tat das Gleiche, und für einen kurzen Moment hielten sie sich fest im Blick. Dann fuhr der Lastwagen ab.
Der betrunkene Junge schwankte und torkelte nach vorn. Er sah sehr jung aus, und verängstigt. Alles, was Mahindan spürte, war sein heftig schlagendes Herz, und Erleichterung. Ihre Blicke trafen sich in dem Moment, als der Junge den Mund aufriss und sich erbrach.
DIE NATUR DER DINGE
Priya hatte den Schlüssel zu ihrem Elternhaus. Sie ging hinein, streifte die Sandalen ab und riss sofort ein Fenster auf. Das Haus roch nach verbranntem Knoblauch und gebratenen Zwiebeln. Ihr Vater und Rat waren im Wohnzimmer und spielten Schach. Appa hatte gerade den schwarzen Läufer aufgenommen und musterte, seinen nächsten Zug erwägend, mit angestrengten Augen durch die Brillengläser das alte, ramponierte Schachbrett. Eine Büroklammer ersetzte die weiße Dame. Rat hatte sie in der Mitte des Bretts so hingelegt, dass sie den schwarzen Springer herausfordernd anstarrte.
Priyas Vater war klein von Statur, keine ein Meter siebzig groß, hatte schlanke Glieder und einen Bauch so rund wie ein Basketball. Als Ma noch lebte, neckte sie ihn gern damit, dass er im fünften Monat schwanger sei. Zwei graue Haarbüschel standen ihm drahtig vom kahlen Kopf ab. Priya küsste ihn flüchtig auf die Wange und sagte: Hallo, Appa. Sie wusste nicht warum, aber seit Mas Tod nannte sie ihn so. Vorher war er immer Dad gewesen.
Ihr älterer Bruder war ein gutes Stück größer, seine Haut war dunkler, das Haar kurzgeschoren, die Gestalt schlaksig und locker. Er war von der Arbeit direkt hierher gekommen und saß breitbeinig hingelümmelt in einem Lehnstuhl, den Schlips hatte er über die Armlehne geworfen.
Priyanke, sagte er.
Sie antwortete mit militärischem Salut. Lingaratnam.
Als er elf Jahre alt war, hatte Rat verkündet, er wolle Michael genannt werden. Ich hasse meinen Namen! Ihr habt ja keine Ahnung, was die mich in der Schule alles schimpfen.
Ma war in Tränen ausgebrochen, Appa wurde ungnädig. Aber zu seinem achtzehnten Geburtstag hatten sie die Formulare nach Hause gebracht und es offiziell gemacht. Aber Priya nannte ihn nach wie vor immer nur Rat.
Im Fernseher hinter ihnen lief ein Dokumentarfilm: Zwei Affen, jeder in seinem eigenen Käfig, reagierten auf eine Person, deren blau behandschuhte Finger wiederholt im Bild erschienen.
Die Natur der Dinge?, fragte Priya.
Rat legte einen Finger auf den Mund und überschaute das Schachbrett.
David Suzukis wohlbekannte Stimme erklärte: Die Kapuzineraffen tauschen einen Stein gegen eine Gurkenscheibe. Solange beide dieselbe Belohnung bekommen, gehen sie diesen Tauschhandel immer wieder gern ein.
Ich habe gesehen, dass deine Firma was mit diesem illegalen Schiff zu tun hat, sagte Rat.
Appa knurrte unwirsch, und als Priya hinschaute, sah sie, wie Rats Turm Appas Läufer schlug. Nicht illegal, korrigierte ihn Priya. Es ist völlig legal, an der Landesgrenze anzukommen und einen Asylantrag zu stellen. Die Regierung lässt viele falsche Anschuldigungen vom Stapel, um die Sache zu vernebeln. Sie hörte, wie Gigovaz’ Wort vernebeln aus ihrem Mund kam und sagte nichts weiter.
Rat hob abwehrend die Hände: Ich sage ja nur, was ich aus den Nachrichten habe.
Ja, Reporter plappern jede erlogene Behauptung der Regierung einfach nach, sagte Priya.
Na, und was ist die wahre Geschichte dieser Schiffsflüchtlinge?, fragte Rat. Und was hat deine Firma damit zu tun?
Priya, sagte ihr Vater, ohne den Kopf zu heben. Geh mal und hilf deinem Onkel.
Onkel Romesh lebte, seit er vor Jahren nach Kanada gekommen war, bei ihnen als dritter, nachsichtiger Elternteil, der eher gütig als streng war. Schon als Kind hatte Priya die Distanz zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel gespürt, eine Kälte, die sie nicht begreifen konnte. Nachdem sie einmal eine scharfe Auseinandersetzung zwischen den beiden miterlebt hatte, fragte sie: Kannst du Onkel Romesh denn nicht leiden? Appa hatte nur gesagt: Doch, doch. Er ist mein Bruder.
Aber als Ma krank wurde, hatte sie Priya aufgetragen: Romesh darf auf keinen Fall weggehen.
Weggehen?, hatte Priya daraufhin gefragt und bei sich gedacht, dass die Chemotherapie dem Kopf ihrer Mutter zugesetzt haben musste. Wohin könnte Onkel denn gehen wollen?
Du darfst nicht zulassen, dass dein Vater ihn wegschickt, hatte Ma gesagt und Priya dabei das Handgelenk gedrückt. Romesh ist hier genauso zu Hause wie wir.
Doch was immer Ma befürchtet hatte, es trat nicht ein. Als sie krank war, führte der Onkel den Haushalt. Danach hatte er eine Trauerzeit von sechs Monaten eingeräumt, doch dann brachte er Ordnung in ihren Tagesablauf. Am Montag spielten er und Appa Euchre im Vietnamesischen Gemeinschaftszentrum. Am Mittwoch gab es Cricket mit ein paar Freunden aus Bangladesch. Und jeden Abend stärkten sie sich vor dem Schlafengehen mit einer Episode aus der Fernsehreihe Schatten der Leidenschaft, die sie auf dem Videorecorder aufzeichneten. Der Verlust hatte die beiden Brüder so eng verbunden, wie Ma, als sie noch lebte, es nie vermocht hätte, und die Distanz, die Priya gespürt hatte, schien zu verschwinden.
Onkel Romesh war in der Küche. Er trug einen Sarong und ein kariertes Hemd mit aufgerollten Ärmeln. Die Arbeitsfläche war mit Mehl bestäubt. Neben einer offenen Flasche Kokosöl stand ein Messbecher mit Wasser. Der Onkel kämpfte mit einem hart geratenen Teigklumpen, den er auszurollen versuchte. Nebenbei verfolgte er eine Call-in-Radiosendung.
Mas Kochbuch lag aufgeschlagen da. Priya blätterte eine Seite weiter, das Papier war abgenutzt und fast durchsichtig, wie eine Zwiebelschale. Die akkurate Handschrift ihrer Mutter verzierte die Ränder. Ihre Notizen hatte sie auf Englisch geschrieben, aber die Buchstaben hatten noch die kunstvollen Rundungen der tamilischen Schrift. Priya strich behutsam über die verblassten Schriftzeichen.
Godamba Roti?, sagte sie. Gar nicht so einfach.
Der Onkel klatschte den Teig auf den Metzgerblock. Unmöglich!
Der Radiomoderator gab seine Meinung über das G8-Gipfeltreffen kund. Priya versuchte, die irritierende Stimme zu ignorieren, und ging zum Onkel hinüber. Kauf es das nächste Mal doch einfach schon fertig.
Er legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie leicht. Wie geht es dir, mein Schatz? Wie läuft die Arbeit?
Mein Chef ist ein Säufer, sagte Priya.
Wenn Ma noch am Leben gewesen wäre, hätte sie gesagt: Tschi, tschi … so was darfst du nicht sagen. Aber Ma war nicht mehr da, und es gab niemanden mehr, der sie zurechtwies.
Ich dachte, du hättest ein gutes Verhältnis zu deinem Chef. Der Onkel machte eine Schranktür unter dem Spülbecken auf und warf den Teig in den Komposteimer.
Priya nahm einen Reiskocher aus dem Schrank und erklärte ihm, wie es sich mit Gigovaz und ihrer neuen Arbeit verhielt. Sie maß den Basmati ab und schüttete Wasser aus dem Messbecher darüber. Der Onkel gab mit einem Löffel noch etwas Kurkuma hinzu und rollte eine Handvoll Kardamom, Nelken und Curryblätter in ein Seihtuch. Priya hatte ihm diesen Trick beigebracht. Ma hatte einfach alle Gewürze in den Reis geworfen, und beim Essen mussten sie dann die Gewürzreste herauspicken. Priya und Rat maulten dann immer darüber, besonders wenn sie versehentlich auf eine Kardamomschote bissen und den bitteren Geschmack auf der Zunge hatten. Und Ma wies sie zurecht, wenn sie aufmucksten. Wussten sie denn nicht, dass es Kinder in Äthiopien gab, die hungern mussten?
Der Onkel hatte von dem Schiff gehört. Fünfhundert Menschen!, sagte er. Nicht vorzustellen! Und jetzt stecken sie die Männer ins Gefängnis, nicht? Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: Gut, dass sie dich haben.
Warum flüstern wir eigentlich?, fragte Priya belustigt. Onkel konnte manchmal abergläubisch sein wie ein altes Weib. Als Ma krank war, hatte er das Wort Krebs kein einziges Mal über die Lippen gebracht.
Na ja, sagte er und nickte in Richtung Wohnzimmer. Lass sie ihre Sendung hören.
Meine Klienten hätten es viel leichter mit Leuten, die wissen, was sie tun, sagte sie.
Gigovaz hatte ihr ein Buch über Flüchtlingsrecht geliehen, und sie kam nur langsam damit voran. Es war unfair gewesen, ihr diesen Auftrag zu geben, und das machte ihr schwer zu schaffen. Ihre ganze berufliche Laufbahn war über den Haufen geworfen worden – nur wegen ihrer Hautfarbe.
Bisher habe ich immer nur Formulare ausgefüllt, sagte sie. Sklavenarbeit.
Zunehmend regte sich in Priya der Verdacht, dass sie nur zu Gigovaz’ Vorteil da war. Er gerierte sich als Professor und hörte sich gern reden. Es entging Priya nicht, mit welchem Stolz er sie als meine Jurastudentin vorstellte. Die Art und Weise, wie er mit seiner ungeduldigen, fleischigen Hand gestikulierte, machte sie wahnsinnig. Er hatte immer noch nicht gelernt, ihren Namen richtig auszusprechen.
Im Radio erging sich ein Anrufer in philosophischen Erörterungen. Er sprach mit leicht südasiatischem Akzent und machte das runde W jedes Mal zu einem schlanken V. Der Onkel drehte den Wasserhahn auf, und in einer ihrer Gesprächspausen hörten sie, was der Anrufer sagte: Es gibt zwei Wege für den Einwanderer. Den schweren Weg, den ich gegangen bin: Englisch lernen, eine Hochschulbildung erwerben und Berufserfahrung sammeln. Und dann den leichten Weg: Terrorist werden und Flüchtlingsstatus beantragen.
Ah! Der Onkel fuhr zusammen und zog seine Hand aus dem laufenden Wasser.
Abfangen und abschieben, so würde ich das machen, pflichtete der Moderator dem Anrufer bei.
Priya schaltete das Radio aus. Warum hörst du dir diese Station an?
Aus dem Wohnzimmer kam Rats schadenfrohes Gelächter.
Dankbar für diese Ablenkung, steckte Priya ihren Kopf durch die Tür. Sie wollte jetzt nicht mehr über ihre Arbeit sprechen. Auf dem Bildschirm warf ein Affe eine Gurkenscheibe auf den Wissenschaftler, schlug auf die Stangen ein und rüttelte wild am ganzen Käfig.
David Suzuki erklärte: Kapuzineraffen werden böse, wenn sie einen ungerechten Vorteil wittern. Sie sind zufrieden mit der Gurke, bis sie sehen, dass ein anderer Affe Trauben bekommt.
Rat, der immer noch kicherte, schaltete die Sendung auf Pause und stand auf. Was gibt’s zu essen?, fragte er, rieb sich den Bauch und ging in die Küche.


