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Wenn am Gründonnerstag die Glocken nach Rom flogen, kamen die Jungs mit ihren Holzklappern, den Rätschen und Raspeln. Morgens, mittags und abends. »Et löckt Bätklock!« Dann scharfe, schneidende und knallende Geräusche. Für Mädchen verboten, sagten sie, wenn wir mitmachen wollten. Auch Bertram war damals wenig tolerant.
Am Ostermorgen war unsere Kirche voller Gesang, der sicher in den Mauern geblieben ist.
»Halleluja, Jesus lebt, Jesus lebt, Jesus lebt, hallelu-u-ja–a Jesus lebt!« Draußen auf dem Parkplatz vor der Kirche dann Nummernschilder aus Düsseldorf, Köln, Trier. Nachmittags Türme von Cremekuchen. Auf der Wiese warfen wir hartgekochte Eier in die Luft.
An Pfingsten, wenn die Gegend gelb war vom Ginster, baute der Schützenverein auf dem Platz vor der Schule ein Zelt auf. Flatterfähnchen in grün-weiß, vor dem Zelt eine Schiffschaukel und ein billiger Jakob mit allerhand Tinnef. Drinnen eine Drei-Mann-Band und Onkel Nikla, der sein Glas gegen die Musikanten erhob und schrie: »Frau Wirtin, eine Lage für die Mussik!« Sie spielten Kasatschok für uns Kinder und Foxtrott für die Erwachsenen, die schunkelten und lachten und grölten und später, am Stand der Bitburger Brauerei, schwankend von Bier und Schnapsseligkeit, versuchten, uns Kinder nach Hause zu schicken.
Immer wenn die Schützen ihre grünen Anzüge mit Orden und Ehrenabzeichen anzogen, die Hüte mit den Schützenfedern aufsetzten und Fahnen und Gewehre schulterten, schien die Sonne. Für Glaube, Sitte und Heimat.
An St. Martin verbrannten wir nach dem Fackelumzug unterhalb des Berges, an einer Fichtenschonung, alte Reifen und Holz. Das Feuer war weithin zu sehen, erhellte unsere Gesichter und strahlte bis hinauf in den Himmel.
Zu Weihnachten baute Berni, unser Küster, zu Füßen der Madonna eine Krippenlandschaft auf mit einem Ziehbrunnen, Palmen und Schafen und einem Mohr, der den Kopf nickend bewegte, wenn man ihm Geld in den Schlitz vor seinen Knien einwarf.
Schön war das und vieles andere auch, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber auch zu uns gehört hat.
Aber nein, in einer Idylle lebte niemand.
6.
Untereinander sprachen wir Moselfränkisch, einen Dialekt, der etwas Treuherziges und Gemütliches hat und den ein Fremder nicht lernen kann. Wir zählten uns zu den Rheinländern, denen man Fröhlichkeit nachsagt. Aber fröhlich waren wir eigentlich nur an Karneval und vielleicht zu den Dorffesten. Richtige rheinische Frohnaturen waren kaum darunter. Dass das an der kargen Gegend läge, meinte Bertram. Ich solle mir mal die Weingegenden ansehen, dort ginge es anders zu.
Mit Wein, Weib und Gesang war es bei uns wirklich nicht allzu weit her. Dafür aber mit den Christenpflichten. Anders als Bertram ging ich als Kind gerne in die Kirche. Ich mochte die Heiligenbildchen, die in meinem Gebetbuch lagen. Auch die Bilder der Kreuzwegstationen gefielen mir, wenn sie auch mit einem Schauer verbunden waren. Dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden: Wie brutal die Soldaten Jesus durch die Straßen Jerusalems trieben, wie schmerzgekrümmt er unter dem Kreuz lag. Wie gut es war, dass Simon ihm beim Tragen half und Veronika ihm ein Schweißtuch reichte. Die Nägel, das Kreuz, durchbohrte Hände und Füße – die Kirchenwände erzählten Grausames. Von den Kreuzwegbildern konnte ich immer nur einen Ausschnitt sehen. Wenn ich mich zu weit aus der Bank beugte, drehte mir meine Mutter den Kopf zurecht. »Guck nach vorne!«, flüsterte sie.
Zu Hause, über meinem Bett, hing ein Bild von Jesus mit Heiligenschein, der mit beiden Händen ein blutendes Herz mit Strahlenkranz hochhielt, aus dem ein Kreuz aufragte. Das Bild beschäftigte mich. Es schien zu pulsieren. Was machte Jesus da? Woher hatte er das Herz? Ich hatte oft beim Schlachten zugesehen und dachte, dass er es vielleicht daher hätte, obwohl die geschlachteten Herzen anders und längst nicht so schön aussahen.
Ich mochte auch die einfachen Gebete, betete ernsthaft und ehrlich, auch, wenn ich nicht alles verstand und vieles nur auswendig gelernt war. Viele Worte blieben mir ein Rätsel. Gebenedeit zum Beispiel. Ich verstand nicht, weshalb wir ständig um Erbarmen baten und wie das Lamm Gottes es schaffen sollte, uns die Sünden hinwegzunehmen. Trotzdem schien mir alles gut und lebendig, wohl, weil ich etwas zu verstehen glaubte, das über die Bedeutung der Rituale hinausging. Gleichzeitig fühlte ich mich fremd und gar nicht darin aufgehoben. Ich empfand, dass ich mit Christus leiden müsste, ob er mir nah war oder nicht. Ich verstand, dass er für uns Sünder gestorben war, also für unsere Sünden, und dass wir für die Sünden anderer leiden müssten als wären es unsere eigenen, dass wir aber im Leiden eine heilende und reinigende Kraft finden würden.
Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel kommʼ.
Die Kirche war voll damals. Nur Bertram fehlte gelegentlich, was man seinem evangelischen Vater ankreidete. »Dafür kann der Jung nix.« Dass er, wenn er kam, seine Werktagshose trug und die Haare nicht richtig gekämmt hatte, wertete man hingegen als Versäumnis der Mutter, der man nachsagte, nicht besonders ordentlich zu sein.
Für uns hingegen gab es keine Ausnahmen. Kein Widerwort. Sonntagspflicht. Wer nicht in die Kirche geht, kommt nicht in den Himmel.
Die Frisuren saßen akkurat. Auch die Kleider. Keine Knitter, keine Löcher, keine Laufmaschen. Keine Bartstoppeln. Niemand wäre in Jogginghosen gekommen.
Vorne im Altarraum eine riesige Christusfigur aus Holz, mit unnatürlichen Proportionen und trotzdem gut geraten, furchterregend groß, besonders Hände und Füße, aber das hat wohl so sein sollen. Über dem Haupt mit Dornenkrone ein Täfelchen: INRI. Jesus Nazarenus Rex Judaeorum. Riesige Nägel hatte man der Figur durch Hände und Füße gebohrt und ein viereckiges Loch in die Rippen gestoßen. Überdies war die Figur sehr mager, aber jeder wusste ja, was Jesus an seinen letzten Tagen durchgemacht hatte.
Zu Jesu Füßen der Tabernakel, das Taufbecken, der Altar, der Blumenschmuck.
Ganz vorne in den ersten Reihen die Kinder. Mädchen links. Jungen rechts. Frauenseite. Männerseite. Sogar die Heiligen, die von den Fenstern leuchteten, hatten sich dieser Ordnung unterworfen. Auf der Männerseite Aloysius, Sebastian, Antonius von Padua und der gute Hirte. Auf der Frauenseite Margaretha, Agnes, Elisabeth und Anna. Elisabeth gefiel mir am besten. Wohl wegen der Rosen, die sie in der Schürze trug, und die, je nach Licht, rote Muster auf die hellen Bodenplatten warfen.
Vom Ducksaal2 aus, wo der Chor saß und ein paar Alte, die glaubten, ein Anrecht auf einen Platz zu haben, trafen Leuchtziffern die linke Wand über einer Madonna mit Jesuskind: 257, 1. Strophe. Finger anfeuchten, blättern im Gebetbuch, Orgelmusik, Gesang: Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. An der Orgel saß Lorse Maria. Alle nannten sie so, also mit dem Nachnamen zuerst. Sie dirigierte nebenbei den Kirchenchor. Schwungvoll griff sie in die Tasten, ließ gelegentlich, je nach Stück, mit den Bässen ihres Instruments den Bau fast explodieren.
Aufstehen. Knien. Sitzen. Lasset uns beten. Weihrauchgeruch.
Stehend bekannten wir unseren Glauben, indem wir uns an die Brust klopften, als wollten wir ihn damit fixieren. Die Fürbitten des Küsters, klar und kräftig vorgetragen, die Kehrreime der Psalmen, das Gemurmel der Gebete empfand ich wie Rauschen in einem Bienenstock. Ob alle sooo gläubig waren, wie sie taten, weiß ich nicht.
Wir Kinder waren gehalten, uns zu schicken. Kein Mucks. Was nicht einfach war, wenn Tante Anni hinter uns saß, die sich ständig im Text verhaspelte und beim Singen eine ungewöhnliche Oberstimme erfand, was in den Ohren schmerzte und dazu führte, dass sie aus dem Takt geriet und ihr die Puste ausging. Dann rückten wir zusammen, die Hand vor dem Mund, unterdrückten das Kichern, wurden rot im Gesicht und platzten manchmal heraus.
Später drängte sich alles an der Kirchentür. Himmes’, Krämers, Klasens, Schellens, Cornesses, Dahms, Willars’, von Landenbergs, Durrys und Arnoldys wünschten sich einen schönen Sonntag, redeten ein bisschen, alles gesund und munter, lieben Gruß zu Hause, was machen die Kleinen? Dann tauchten sie die Finger ins Weihwasser, das ein bisschen abgestanden roch, aber immer nach Segen, als sei es von der Sonne gewärmt worden.
Noch ein bisschen später sah man sie an den Gräbern stehen. Die meisten Gräber lagen um eine alte Linde, in deren Schatten am Sonntag, lange bevor die Messe endete, die Männer standen und redeten.
Damals schon bewunderte ich Bertrams Anderssein, beobachtete, was er tat, war aber gleichzeitig von ihm abgestoßen. Es hatte etwas Herausforderndes, wie er in seinen ausgebeulten Werktagshosen lässig in der Bank saß, nicht mitsang, das Brustklopfen verweigerte und den Messdienern, wenn sie in ihren rotweißen Gewändern mit Opferstöcken durch die Reihen gingen, einen mitleidigen Blick hinterherschickte und einmal sogar schadenfroh auflachte, als einer der Ministranten über eine Treppenstufe stolperte. Nein, die Gläubigen waren keine Gesellschaft für ihn.
»Der wird bald gar nicht mehr kommen«, meinten die Leute und in diesen Worten schwang genausoviel Vorwurfsvolles mit wie Besorgtes. Dass er sich nicht fügen könne, keine Regeln und keinen Anstand hätte, hörte ich sagen und sah in missbilligende Gesichter. Bertram wusste, was die Leute dachten und sagten. Es machte ihm nichts aus. Seine Überlegenheit imponierte mir. Ich hielt ihn für klug.
Sonntags nach der Messe sah ich ihn manchmal in der Pfarrbücherei. Ich verfolgte seine Bücherauswahl, merkte mir die Titel. Sobald er sie zurückbrachte, lieh ich sie aus und las, was er gelesen hatte. ›Robinson soll nicht sterben‹ war dabei, oder ›Kein Winter für Wölfe‹.
In jenen Jahren sprachen wir noch nicht über Bücher. Ohnehin redeten wir kaum. Wir trafen uns auch nie alleine, sondern immer mit anderen. Er hing eher mit den Jungs zusammen und ich mit den Mädchen. Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen wir in seinem Schuppen spielten und in einem rostigen Opel, der dort abgestellt war.
Sonntags ging Bertram mit seinem Vater wandern. Sie hatten eine richtige Wanderausrüstung mit Rucksack, festen Schuhen, Regenjacken und einer Vesper und kamen oft erst nachts wieder zurück.
Bei uns waren die Sonntage eher Familientage. Die Vormittage verbrachte ich mit Lesen. Bis zum Mittagessen dauerte es. Mein Vater verspätete sich meist wegen des Frühschoppens und war beim Essen wenig gesprächig. Meine Mutter musste schon nachhelfen, wenn sie wissen wollte, was es an Neuigkeiten gab, wer im Dorf mit wem was angefangen hatte, wer miteinander im Streit lag. Zwischen den Gesprächen die Koteletts. Dazu dampfende Kartoffeln, Salat aus dem Garten mit Schnittlauch, Petersilie und Dill. Und Vanillepudding in geschliffenen Glasschälchen.
Wenn mein Vater keinen Mittagsschlaf machte, was vom Ausmaß des Frühschoppens abhing, fuhren wir zu den Großeltern. Oder raus in den Tierpark nach Lünebach, wo Nasenbären, Strauße, Pfauenziegen und Uhus lebten. Die Pelmer Kasselburg gefiel uns mit den Greifvögeln und dem Wolfsgehege. Auch Manderscheid mit den beiden Burgen, wo wir in einem Ausflugslokal Cola tranken und goldene Fische in engen Teichen füttern durften. Wenn Namenstage auf Sonntage fielen, besuchten wir Verwandte oder wurden von Verwandten besucht. Josefstag, Gertrudstag, Annentag. Natürlich Sankt Matthias. Das war am 24. Februar und der Namenstag meines Vaters. Immer gab es Cremekuchen, Fladden3, Marmorkuchen. Am wichtigsten war der 19. November. Der Namenstag der heiligen Elisabeth von Thüringen. Dann saß meine Großmutter, die Elisabeth hieß, ab zehn Uhr morgens im Sonntagskleid und mit einer Goldkette um den Hals vor dem Telefon und nahm Glückwünsche entgegen.
Bertram kannte keine Namenstage. Sein Kalender ging anders als unserer. Auch das lag an seinem Vater, der regelmäßig für Feste der Tugend, des Geistes und der Revolution sorgte, die immer zu ganz bestimmten Tageszeiten stattfanden und von Musik und französischen Liedertexten begleitet wurden. Die Monate waren anders eingeteilt und hießen Nebelmonat, Schneemonat, Windmonat, Keimmonat oder Hitzemonat. Er nannte sie mit ihren französischen Namen: Brumaire, Nivôse, Ventôse, Germinal oder Thermidor.
7.
Als wir Kinder waren, lebten fast alle in unserem Dorf von dem, was sie aus ihren Gärten und von den Feldern nach Hause trugen. Vor den Mahlzeiten bedankten wir uns für das Essen, sprachen ein Gebet, weil kein Bissen für uns selbstverständlich war und Mühe und Arbeit, aber auch Glück bedeuteten. Wir hatten alles, was wir brauchten, aus eigener Produktion, weshalb Einkäufe im Supermarkt selten und wenn, dann auf das Nötigste beschränkt waren.
Bertrams Vater war einer der letzten in unserem Dorf, der daran festhielt und den Weg in die Stadt mied. Er misstraute den vielen Lockangeboten, den Waren, die von Gott weiß woher kamen, der immer größer werdenden Auswahl in den Regalen und mutmaßte, dass die Verbindung der Menschen mit der Natur abreißen werde und die Kinder in der Schule lernen müssten, wo die Milch herkommt. »Die billigen Supermarktangebote lenken uns von allem Wichtigen ab und lassen uns glauben, dass sie unser Leben besser und glücklicher machen. Sie geben uns das Gefühl, dass wir Land und Felder nicht mehr brauchen. Die Jungen wissen bald nicht mehr, ob sie eine Kuh oder einen Esel vor sich haben.« Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Er fluchte auf das Wirtschaftssystem, auf den Kapitalismus und das überzogene Konsumverhalten. Er war der erste, den ich über vergeudete Energien sprechen hörte, über Hitzeperioden und Katastrophen, die auf die Menschen zukämen, wenn wir diesen Lebenswandel beibehalten würden. Er sammelte den Dreck am Berg auf, den die Leute hinterlassen hatten: Plastiktüten, Bierdosen, Zigarettenstummel, Klopapier, Radkappen. Sogar Autoreifen bugsierte er bergabwärts.
Nicht alles, was er sagte, verstand ich. Es war so ein Gefühl für etwas Fernes, Zukünftiges, das er mir vermittelte. Im Dorf genügte das, was er sagte, um ihn zu verurteilen. Narrisch sei er geworden. Gleiches dachten sie über Bertram.
Bertrams Vater kam aus dem Norden und fühlte sich zeitlebens wie ein Ausländer. Er sprach eigentümlich, betonte die Endungen anders als wir und auch nach Jahren in unserem Dorf blieb seine Satzmelodie eine andere. Er sah auch anders aus, hatte flachsblondes Haar und graue, tiefliegende Augen, die er Bertram vererbt hat. In wadenlangen Hosen kam er daher, darüber trug er ein blaugefärbtes Hemd mit steifem Kragen. Sein grauer Filzhut mit der blauen Kordel war auf merkwürdige Weise längs der Krone nach unten geknickt und vorne an beiden Seiten eingekniffen. Ich weiß nicht, wie er es aushielt, aber selbst an heißesten Sommertagen setzte er ihn nicht ab.
Das Leben auf dem Land hatte er sich idyllisch vorgestellt. Ein Einklang mit der Natur. Ruhe hatte er sich erhofft und Beschaulichkeit in einem eigenen Garten mit eigenem Gemüse. Er mochte die alten Holzkassetten in der Bauernstube, das Holzlager im Schweinestall mit den Pflöcken, die Weizenfelder, das unberechenbare Wetter, war er doch in der Stadt mit Wetter nicht wirklich konfrontiert gewesen. Er mochte es, wenn er im beginnenden Herbst alleine draußen war. Dann hatte er das Land für sich und konnte die Kraniche beobachten, wie sie sich formierten und für die Reise nach Süden rüsteten oder die Schwalben, wenn sie abends in den Wind schossen.
Unabhängig wollte er sein, fuhr mit seinem Getreide zur Mühle, backte sein Brot selbst, räucherte Speck und Schinken, bewirtschaftete seinen Garten und die Felder, hielt neben allerhand Vieh schwarze Hühner und einen bunten Hahn, und war stolz, nicht viel hinzukaufen zu müssen.
Sein wertvollster Besitz war ein Grammophon. Es war ein schwarz lackierter Holzkasten mit einem Lautsprecherhorn und der Abbildung eines Hundes, dem die Schriftzeile »His masters voice« galt. An der Seite befand sich eine abnehmbare Kurbel zum Aufziehen der Feder des Antriebswerkes. Zum Grammophon gehörte eine Schallplattenkassette und eine Nadel, die einer speziellen Dose entnommen am Ende des Abtastarms eingesteckt und fest verschraubt wurde. Das Grammophon hatte er mit in die Ehe gebracht und es gehörte zu seinem Sonntagvormittag, wenn er sich in Opern und Operetten verlor, in Konzerten von Haydn und Strauss. Seine Grammophonstunde zelebrierte er ebenso wie die regelmäßige Lektüre der ›Meisterwerke der Dichtkunst‹, von denen er fünf Bände besaß. Gelegentlich holte er auch sein Schifferklavier aus einem eckigen, schwarzen Kasten, spielte Volkslieder, denen man den Norden und das Meer anhörte, ging damit durch die Stube, während seine Finger über die Tasten flogen. Fest hielt er das Instrument über der Brust gespannt, zog es auseinander, dass es mit seinem papierenen Balg Luft zog und sang: »Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise, nimm uns mit in die weite, weite Welt! Wohin geht, Kapitän, deine Reise? Bis zum Südpol, da langt unser Geld! …«4
Man kann sagen, dass Bertrams Vater ein musischer Mensch war. Sein Unwohlsein begann, als die Technik alles überrannte. Er sah keinen Fortschritt in modernen Maschinen und Ställen, verteufelte Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger und verzichtete auf höhere Erträge, die ihm diese Neuerungen versprachen. Er war sicher, dass man mit Grund und Boden nicht machen konnte, was man wollte. Es gäbe eine Verpflichtung der Menschen gegenüber ihrem Land und den Tieren. Dass uns das alles noch teuer zu stehen komme. Mit Argusaugen beobachtete er, wie mehr und immer größere Maschinen immer schneller Aussaat und Ernten übernahmen und viele der kleinen Bauern die Höfe aufgaben. Die moderne Tierhaltung war für ihn ein Verbrechen an der Kreatur. Er hasste die engen Legebatterien, in denen die Hühner sich nicht bewegen konnten. Er hasste Bauernhöfe, die zu Industriebetrieben geworden waren. Er hasste die Weizenfelder, von denen er meinte, dass jedem, der sie genauer betrachte, auffallen müsse, dass irgendwas nicht stimmte.
Bertrams Mutter hatte immer schon im Haus gewohnt, träumte allerdings von Amerika, von einer Farm irgendwo in den Südstaaten inmitten leuchtender Felder, im Herbst weiß von Baumwolle.
Sie war eine stille Frau, nickte zu allem, was ihr Mann sagte. Ich habe sie blass und unscheinbar in Erinnerung. Ihr reichten ein labberiger Pulli, Latzhose und Gummistiefel. Aber sie war eine gute Bäckerin. Dann und wann backte sie herzförmige Waffeln, die sie mit Puderzucker überstreute und Bertram stapelweise in die Schule mitgab, so, dass es für die halbe Klasse reichte.
Eigentlich hätte Bertram noch zwei Brüder haben sollen, Zwillinge. Beide waren noch im Säuglingsalter an einer seltenen Krankheit gestorben. Zeitlebens sehnte sich Bertram nach seinen Brüdern. Ein Lied hatte er für sie geschrieben mit einer Melodie aus Morgenlicht und Himmel.
8.
Je älter wir wurden, desto ähnlicher wurde Bertram seinem Vater.
Er war es gewöhnt, seine Kleider aufzutragen, Essensreste wieder aufzuwärmen und jegliches zu verwerten. Dies nicht nur, wie bei uns, aus Gründen der Sparsamkeit. Bei ihm war es eher so etwas wie eine Lebenseinstellung.
Vom Sperrmüll schleppte er alles Mögliche nach Hause. Mit allem konnte er etwas anfangen oder er hob es auf, bis er es gebrauchen konnte. In seinem Schuppen türmten sich Dosen mit alten Schrauben, gefundenen Brettern und Werkzeug von der Mülldeponie.
Er war zwei Jahre älter als ich. Wir gingen beide aufs Gymnasium, von dem er meinte, dass es ihn von allen wichtigen Dingen abhielt. Pro Woche vier Stunden Englisch bei Fräulein Brämer, eine Doppelstunde Erdkunde bei Linnerth, den wir Schorsch nannten, vier Stunden Mathe bei Andersch und sechs Stunden Deutsch im Leistungskurs bei Noell. Die anderen Fächer waren zu vernachlässigen. Außer Kunst vielleicht, aber der Kunstlehrer mochte mich nicht, weil ich mal einen Franz Marc gefälscht und er mich beim Versuch, das Gemälde auf einem Flohmarkt als echt zu verkaufen, erwischt hatte.
Die Lektüren, die wir im Deutschunterricht lasen, interessierten uns. Effi Briest bewerteten wir als literarisch mäßig, Wilhelm Tell als unglaubwürdig, Maria Stuart als gute Story, aber leider passé. Der von Armut geplagte und von seinen Mitmenschen diskriminierte Franz Woyzeck hingegen war unser Held. Er löste Diskussionen aus. Wir zogen Parallelen zu den Ausgebeuteten von heute, kritisierten die Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt und endeten bei der Massentierhaltung. Das alles war für uns Franz Woyzeck.
So wie Bertram, so hasste auch ich die Physik- und Mathestunden. Lieber drehte ich mich zum Fenster, beobachtete, was auf dem Schulhof vor sich ging, folgte dem Lauf der Fliegen auf der Scheibe, las Comics unter der Bank oder kritzelte Pfeile, Zickzacklinien oder Frauengesichter mit schwarzen Augen auf die herausgerissenen Seiten meines Spiralblocks. Wichtig waren die Bücher, das Denken, das Schreiben und Bertrams Gitarre. Gedichte von Brinkmann verbinde ich mit dieser Zeit, von Paul Celan, Ingeborg Bachmann. Besonders aber Hesses Siddharta, die Geschichte eines indischen Brahmanen, der sein Leben der Suche nach Erleuchtung widmete, sich dazu in Meditationen versenkte und schließlich unter einem Feigenbaum begriff, was das Leben von ihm wollte. Das Buch beeindruckte uns zutiefst. Es stellte einige festgeschraubte Lehren in Frage. Viele Sätze unterstrichen wir. Etwa die Stelle, in der Siddharta lernte, auf einen Fluss zu hören und ihn zu beobachten, wobei er feststellte, dass sich der Fluss ständig wandelte und doch immer derselbe blieb.
Man kann sagen, dass Bertram seine Zeit oft mit Nichtigkeiten füllte. Überhaupt tat er kaum etwas, womit er jemandem genützt hätte und doch war er nicht müßig. Gerne lag er auf der Wiese in der Sonne, rauchte, hörte über sein Batterieradio den Pop Shop mit Frank Laufenberg oder kickte mit der Dorfjugend auf dem Bolzplatz.
Schon als Kind spielte er Gitarre und Klavier. Später gab er gelegentlich Musikstunden. Damit verdiente er so gut wie nichts, aber er brauchte auch nicht viel. Er fand, dass zwei Monate Arbeit im Jahr ausreichten, um über die Runden zu kommen und war sicher, dass niemand im Schweiße seines Angesichts seinen Unterhalt verdienen müsse. Wenn er über Arbeit sprach, hatte er immer einen leicht spöttischen Gesichtsausdruck. Auch zu Geld hatte er ein merkwürdiges Verhältnis. Ich fragte ihn einmal, ob er sich vorstellen könnte, ohne Geld zu leben. Da verzog er das Gesicht, meinte, dass man ohne Geld ständig etwas tauschen müsste, was aufwändig wäre, weswegen Geld also eine bequeme Sache sei, die andererseits, und das hielt er für fatal, alles auf diesem Globus bewege, da die Menschen sich immer nur nach Arbeit und Geld orientierten. Andererseits sei Geld ein Mittel der Toleranz, weshalb niemand darauf verzichten sollte. Geld sei nämlich toleranter als jede Kultur und jedes Gesetz. Es sei das einzige von Menschen geschaffene Mittel, das fast alle Kulturbarrieren überwinden könne und nicht nach Religion, Geschlecht und Rasse frage.
Hin und wieder half er auf dem Hof. Aber immer nur so, wie es ihm gefiel. Bertram war einer, dem man nichts aufzwingen konnte. Da war er einfach nicht zu greifen.
Druck hielt er nicht aus. Etwas zu müssen, lehnte er ab. Keiner muss etwas, davon war er überzeugt. Er ließe sich nicht verschlingen, von nichts und niemandem, weshalb er verachtete, was ihm von oben diktiert wurde. Du musst nichts, du kannst. Wer einer Herde hinterher läuft, läuft Ärschen hinterher. Das waren seine Sätze.
Auch bei Machtverdacht machte er zu. Mir wünschte er, dass ich eine Freidenkerin werden und bleiben solle. Dass ich aber aufpassen müsse, denn kein Staat der Welt wolle unabhängige Menschen, sondern Steuerzahler. Das war typisch für ihn.
Bertram wartete ab. Ließ alles auf sich zukommen. Wo seine Ruhe herrührte, war mir unbegreiflich.
Er lernte nicht für Prüfungen, versuchte nicht, jemandem zu gefallen, kam nie oder jedenfalls selten in Hektik. Im Gegensatz zu mir, der man einiges aufschwätzen konnte, war er nahezu immun gegen die Versprechungen der Werbung, glaubte den überall einsickernden Botschaften der Medien nicht. Was er beherzigte, war die Regel, so zu handeln, wie man gerne selbst behandelt werden wollte. Darüber dachte er häufig nach und überprüfte sich.
Oft schien es mir, als ob er über den Dingen schwebe, alles schon erlebt habe, alles schon kenne. Seine Gelassenheit brachte mich manchmal dazu, ihn anzuschreien. Aber sogar meine beleidigte Miene ließ ihn kalt. Überdies war er manchmal übellaunig und streitlustig, stellte alles in Frage, engagierte sich für etwas mit wortreicher Begeisterung, um sich kurz darauf wieder davon abzuwenden. Er hatte so eine Art, die Stirn zu runzeln und dazu zu schweigen, wenn immer jemand etwas tat, das ihm nicht gefiel. Wie Goethes Mephistopheles schien er mir, ein verneinender Geist. Von Anfang an.


