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»Drei Ansatzpunkte?« Dirk Biss staunte. Er hatte das Bild natürlich auch genau angesehen. Die Leute waren sicher kaum ein Hinweis. Die Aufnahme war uralt und die Gesichter klein und unscharf. Dass man nach so langer Zeit darauf jemanden erkennen würde … das wäre ein reiner Glücksfall. Mehr Erfolg versprach da das Haus. Doch das war fraglich, denn auch Bauernhöfe veränderten sich mit der Zeit. Aber es war ein brauchbarer Ansatz. Der einzige, soweit Biss es erkannte. Und nun zauberte dieser Amateur noch zwei weitere Möglichkeiten aus dem Hut, an die Sache heranzutreten.
»Was für Ansatzpunkte meinen Sie?«
»Das Haus natürlich, die Bäume im Hintergrund und die Heiligenfigur da oben zwischen den Fenstern.«
»Die ist doch ganz unscharf. Da werden Sie auch keine bessere Darstellung herauskitzeln können. Das hab ich doch schon probiert. Oder können Sie die so unscharf etwa erkennen?«
»Naa. Erkennen kann i die aa ned. Aber mir können vielleicht trotzdem ziemlich genau abschätzen, wie groß die Figur sein muss.«
»Wie wollen Sie denn das schätzen?«
»Da, schaun S’. In der Lampe über der Tür sieht man a Glühbirne. Von der Kamera is die ziemlich genau so weit weg, wie die Nische mit der Figur. Und wie groß a Glühbirn ist, des weiß i zwar ned, sieben Zentimeter im Durchmesser, tät i schätzn. Aber des kann man doch rauskriegen. Und dann is es nur mehr a Rechenaufgab für die Mittelstufe: Dreisatz.«
»Respekt!« Biss nickte anerkennend. Mit einer verlässlichen Vergleichsstrecke konnte man tatsächlich die Größe der Nische und der Figur recht genau ausrechnen. »Das kann ein wenig helfen. Aber ob uns das wirklich weiterbringt, weiß ich nicht. Heiligenfiguren in der Größe gibt es sicher viele. Und was ist mit den Bäumen?«
»Da möcht i gern wen fragen. Vielleicht kriegen wir nicht raus, wo die Baam steh’n, aber i hoff, dass er uns sagen kann, nach was wir überhaupt schau’n sollen.«
Als sie angekommen waren, bat Wimmer Biss, im Auto zu warten. »Der Mann is a bisserl a schwieriger Charakter. Da bin i besser allein.«
Wimmer hatte erwartet, dass Biss protestieren würde, doch es schien ihm nichts auszumachen.
Johannes Rosskopf war Nebenerwerbslandwirt auf einem Hof unweit von Wolnzach und als ungeselliger Eigenbrötler bekannt. Er gab sich schweigsam und muffig. An schlechten Tagen konnte er sehr rüpelhafte Manieren an den Tag legen. So war es kein Wunder, dass er als Einzelgänger galt. Die meisten Flächen seines Hofs waren verpachtet, bis auf ein wenig Holz und ein paar Äcker, auf denen er Gerste, Sonnenblumen und Raps im Wechsel anbaute. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Lokführer im Rangierverkehr.
Seit seine Frau ihn sitzengelassen hatte, war das Thema Beziehung für ihn erledigt. »Die Weiberleut können mir g’stohlen bleiben. Wenn i a blöds G’wäsch hörn will, mach i den Radio an. Wenn i will, dass man mir was anschafft, geh i in die Arbeit. Und für a g’scheides G’spräch geh i in den Wald. So a Baam, der hört zu und unterbricht mi ned.«
So lebte er allein und war zufrieden, wenn man ihn in Ruhe ließ und er seine Bäume hatte. Rosskopf war weder Naturromantiker noch Waidmann. Wenn er in den Wald ging, dann allein wegen der Bäume, in denen er echte Freunde sah. Sie verstanden ihn, und er verstand sie.
Holz, das war ein wenig wie er selbst, sein Medium. Hart, zäh, ausdauernd und doch wunderbar gestaltbar. Seine Scheune hatte er mit der Zeit in eine kleine Schreinerwerkstatt verwandelt, in der übers Jahr eine Reihe außergewöhnlicher Vogelfutterhäuschen entstanden waren, mit Türmchen, kühnen Dachlandschaften und alle perfekt gearbeitet. Im Herbst verkaufte er sie für teures Geld im Internet. Das war ein willkommenes Zusatzeinkommen, von dem nur wenige wussten. Was keiner wusste: Rosskopf schnitzte auch herrliche Figuren. In seinem Keller gab es ein halbes Hundert spannenlanger Krippenfiguren, nur für ihn und seine private Freude.
Wimmer mochte den Sonderling. Vor ein paar Jahren hatte er ab und zu noch ein paar Schweine rund gemacht, und der Metzger hatte sie ihm gern abgekauft, denn diese Tiere hatten ohne Zeitdruck ihren Speck ansetzen dürfen, hatten Auslauf genossen und waren ein gutes Stück weit besser gewesen als der Durchschnitt.
Wimmer fand den Bauern nahe beim Hof auf einer Bank neben einer Linde in der Morgensonne sitzen und eine Pfeife rauchen.
»Griaß de, Ludwig!«
»Servus, Johannes.«
Es folgte eine Pause.
»Bist schon lang nimmer da g’wen.«
»Is scho a Weile her. Stimmt. Und? Dir geht’s gut?«
»Passt scho. Und selbst?«
»Mei … muss ja.«
Damit waren sowohl die Begrüßung als auch der Smalltalk beendet. Wimmer setzte sich, und sie schwiegen beide. Nach einer Weile drehte sich der Gastgeber halb zu Wimmer um und zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, genau, Johannes, i brauch was von dir. I hab da a Problem, und da warst du vielleicht der Rechte, der mir helfen kannt.« Rosskopf schwieg weiter. Auch Wimmer ließ sich Zeit, dann fuhr er fort. »I soll auf am alten Foto a Haus finden. A paar Baam san aa auf dem Bild drauf. Viel erkenn i da ned, aber vielleicht kannst du mir sagen, was des für Baam gewesen sind.«
Rosskopf nahm die Pfeife aus dem Mund und schmunzelte.
»Dann zeig doch amal her.«
Nach eingehendem Studium des Bildes stellte er fest, dass es kaum eindeutig zu sagen war.
»Die Qualität is scho recht lausig. Der linke Baam kannt mit a bisserl am Glück a Eiche sein. Wenn des aber a Kastanie ist, dann wirst die vielleicht gar nimmer finden. Die werden meistens ned so alt. Die wann im Inneren morsch werden, dann muss man die umschneiden. Im Hintergrund is a Birke. Die war damals a scho recht alt. Die wird ziemlich sicher nimmer stehn. Aber hier am Rand, des schaut aus, als ob des a Linde war … die könnt’s noch geben. So a Linde, die wird alt.«
Wimmer blieb noch eine Weile sitzen.
»Wenn’s a Linden is«, ergänzte Rosskopf, »dann kann’s sogar sein, dass ma die unter Schutz g’stellt hat. Seit etwa dreißig Jahren kannst so an schönen alten Baam nimmer einfach wegmachen. So a Baamfrevel is inzwischen oft aa gesetzlich verboten.«
Damit verstummte er wieder und hüllte sich in eine aromatische Wolke Tabakrauch. Wimmer bedankte und verabschiedete sich, dann kehrte er zu seinem Auftraggeber zurück. Biss legte gerade eine Art Satellitenschüssel aus Plexiglas mit Handgriff zu einem Kassettenrekorder in den Kofferraum.
»Is das a Richtmikrofon?«
»Ja, freilich. Haben Sie geglaubt, ich bleib im Auto und les derweil a Mickey-Maus-Hefterl?«
»Und aufgenommen ham S’ mi aa no?«
Das hatte Biss nicht getan. Der Kassettenrekorder, so erklärte er – und es stimmte sogar – sei nur eine Vorsichtsmaßnahme. Mit dem Rekorder und dem Buch »Unsere gefiederten Freunde – Band 1, Singvögel« könne er jederzeit und überall mit dem Richtmikrofon arbeiten und dann behaupten, nur ein Hobbyornithologe zu sein, auf der Suche nach dem Ruf des Ziegenschnäppers. Wer die Kassette anhörte, fand darauf tatsächlich nur Vogelgezwitscher. Wollte Biss mit dem Richtmikrofon etwas aufnehmen, stöpsele er sein digitales Aufnahmegerät an, so groß wie eine Zigarettenpackung.
Die Weiterfahrt war still und frostig. Wimmer fühlte sich getäuscht und schwieg hartnäckig. Schließlich lenkte Biss den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab.
»Herr Wimmer, wenn Sie sich hintergangen fühlen, tut es mir leid. Das war nicht meine Absicht. Aber ich denke, ich sollte doch genau das erfahren, was auch Sie wissen. Ich dachte, so ist es einfacher, als Sie zu verwanzen oder so was.«
»Wanzen haben Sie auch?«
»Ja. Freilich.«
»Darf man die denn überhaupt benutzen?«
»Nicht überall. Dieser Bereich ist rechtlich ein wenig – nennen wir es – sumpfig.«
»Ham Sie sonst irgendwelche Sonderrechte, Herr Biss? Darf so a Detektiv mehr, weil er wie die Polizei ermittelt?«
»Nein. Ich bin ja weder die Polizei noch eine Staatsbehörde. Ich darf alles, was normale Menschen auch dürfen. Aber mehr darf ich nicht.«
»Dürfen S’ einfach so Gespräche abhören?«
»Das darf ich nicht. Aber ich darf versuchen, Vogelstimmen aufzunehmen … und wenn ich da dann zufällig ein Gespräch höre …«
»Dürfen S’ wen festnehmen?«
»Das darf ich, und Sie dürfen es übrigens auch. Wenn Sie einen Dieb zum Beispiel in flagranti erwischen, dann dürfen Sie ihn festhalten, bis die Polizei da ist. Das nennt sich ›Festnahme durch Jedermann‹.«
»Aber ned jedermann hat deshalb gleich Handschellen dabei. Ich hab welche hinten im Kofferraum gesehen und so was wie a Filmkamera aa. So a große gleich, mit schwerem Holzstativ.«
Biss lachte. »Das ist keine Kamera, Herr Wimmer. Das ist nur ein Stativ mit einem Theodoliten, einem Landvermessungsgerät. Der ist sogar kaputt. Aber das macht nix. So ein Gerät ist sehr praktisch. Wenn Sie mal ein Objekt länger beobachten müssen, kann man sich dabei schlecht unsichtbar machen. Irgendwann gibt es dumme Fragen. Aber wenn Sie nur Grundstücke oder Gullideckel vermessen und dazu noch eine orange Jacke anhaben, dann fragt kaum einer, und wenn, dann kann man einfach was über neue Glasfaserleitungen für das schnelle Internet erklären, und die Leute sind zufrieden. So kann man ganze Tage um ein Objekt herumstreichen und es beobachten.«
Wimmer fand all diese Methoden recht zwielichtig. Der Detektiv kam ihm inzwischen sehr halbseiden vor. Vielleicht war er ja kein Ganove, aber ein Partner, dem man vertrauen konnte, war er sicher nicht. Seit er das Richtmikrofon erkannt hatte, spielte er mit dem Gedanken, die Zusammenarbeit abzubrechen.
Doch schon im nächsten Moment bekam er ein schlechtes Gewissen. Er selbst war ja kaum besser. Auch er hatte schon Menschen mit Technik ausgespäht, abgehört und überwacht. Vor allem Anna war es, die immer wieder neue »Spionage«-Anwendungen für ihr Mobiltelefon vorschlug. Und sie beide wussten, wie man mit erfundenen Geschichten Menschen zum Reden brachte. Ganz ehrlich waren sie also auch nicht. Immerhin versuchte Wimmer, diese fragwürdigen Methoden nicht ohne Notwendigkeit und so selbstverständlich einzusetzen wie sein Kollege. Für ihn waren sie ein letzter Ausweg, wenn er anders nicht weiterkam.
»Herr Biss, mich werden S’ nicht noch einmal aushorchen, bespannen oder sonst wie ausspionieren. Nicht ohne, dass i des weiß. So kann man doch ned z’sammarbeiten. Da muss doch a Vertrauen da sein. Ham S’ mich verstanden? Wenn S’ meinen, dass S’ Ihre Spielzeuge einsetzen wollen, dann geben S’ mir Bescheid. Sonst is Schluss mit unserer Kooperation. Is des klar? Ham S’ des kapiert?«
Biss versicherte noch einmal, nichts Böses mit dem Richtmikrofon beabsichtigt zu haben, und schon gar nicht sei das ein Zeichen von Misstrauen, und Wimmer war dann endlich wieder beruhigt.
Eine Weile fuhren sie noch herum und suchten nach passenden Bäumen. Wimmers Zorn legt sich allmählich. Eichen fanden sie einige und auch Linden. Doch sie standen nie so zueinander, wie das Bild es zeigte. Gegen drei Uhr fuhr Biss ihn zur Metzgerei zurück.
»Für heute müssen wir Feierabend machen«, sagte er. »Ich hab heute Nachmittag noch einen anderen Termin im Zusammenhang mit einem ganz anderen Auftrag. Wollen Sie die Sache mit der Heiligenfigur und der Glühbirne in Angriff nehmen? Und morgen suchen wir weiter nach den Bäumen.«
Zu Hause half Anna Wimmer mit der Aufgabe. In der Speisekammer fanden sie noch eine alte Glühbirne und maßen sie aus. Sie hatte einen Durchmesser von sieben Zentimetern. Das war ein wichtiger Wert.
Anna machte eine Aufnahme von Wimmers Foto mit ihrem Handy und hatte so ruck, zuck das Bild auf ihrem Rechner. Ein Grafikprogramm half, es ins Gigantische zu vergrößern.
»Da erkennt man ja gar nix mehr!«, motzte der Metzger.
»Natürlich ist das jetzt ganz schrecklich verrauscht. Aber des Wichtige können mir scho erkennen. Des da muss die Lampe sein, und das hier drin ist die Glühbirne.« Sie deutete auf einen helleren Schemen vor dunklerem Grau. »Das heißt, von hier bis da hin …«, sie zog mit der Maus zwischen zwei Punkten einen leuchtend gelben Strich, »… sind’s auf dem Foto sieben Zentimeter.«
Sie klickte ein paarmal mit der Maus und hatte plötzlich ein Lineal auf dem Bildschirm, an dem diese gelbe Strecke anlag. Es waren dreiundzwanzig Millimeter. Dann verschob sie das Bild, bis der Bildschirm die Nische zeigte. Was für ein Heiliger es war, war nicht zu erkennen. Aber sie konnte wieder zwei Strecken an der Nische einzeichnen und mit ihnen die Höhe und Breite bestimmen.
»Des muss a recht kleine Figur sein«, meinte sie, als sie ihren Taschenrechner zu Rate gezogen hatte. »Die Nische ist nur achtundzwanzig Zentimeter breit und dreiundfünfzig Zentimeter hoch. Und die Figur reicht aa ned bis ganz nauf.«
»Lass uns des aufrunden, falls wir uns vermessen ham oder die Glühbirnen früher größer g’wesen san. Dreißge in der Breiten und fümferfuchzig hoch. Und darin eine Figur, ned größer als fümfundvierzg Zentimeter. Das is doch schon a brauchbares Ergebnis.«
4
23. September – Montag
Zwei Tage später lud Wimmer Anna nachmittags zu einer Motorradfahrt ein. Auf Nebenstrecken fuhren sie kreuz und quer durch die goldbunte Landschaft im milden Altweibersommersonnenschein. Nach mehr als einer halben Stunde langten sie im zwölf Kilometer entfernten Geisenfeld an und machten da in der Eisdiele in der Rathausstraße Station.
»Ich hab gedacht, du bist wieder unterwegs mit deinem Kollegen.«
»Naa. Der Fall is abg’schlossen.«
»Ihr habt’s den Hof gefunden?«
»Dei Opa hat den Hof g’funden!«
Wimmer konnte den Stolz in seiner Stimme nicht unterdrücken. Tatsächlich hätte Biss noch tagelang vergeblich nach dem Hof suchen können, wenn er Wimmer nicht um Hilfe gebeten hätte.
Während Anna mit Genuss einem Eisbecher Malaga zu Leibe rückte, erzählte Wimmer bereitwillig von der erfolgreichen Suche.
Tags zuvor war der Detektiv wieder vorgefahren, um den Metzger abzuholen. Als Wimmer die Autotür öffnete, fand dieser den Beifahrersitz belegt mit Büchern.
»Ach, der Kruscht, entschuldigen Sie bitte. So ein Wagen ist immer auch Arbeitsplatz und darum nicht immer aufgeräumt. Legen Sie die Bücher ruhig auf die Rückbank«, erklärte Biss.
Wimmer staunte. Die Bücher waren groß, und das oberste zeigte eine Hopfendolde. Es war aber kein Bildband für Touristen, sondern eher ein landwirtschaftliches Buch. Auch die anderen Bände, alle in Plastikfolie eingebunden, waren Fachbücher mit komplizierten Titeln. Es gab das »Handbuch der Stolonen«, »Neue Wege der autovegetativen Vermehrung mit Auxinen«, »Totopotente Zellen in der Phythogewebekultur«, lauter wissenschaftliche oder zumindest landwirtschaftliche Fachbücher.
»Keine Angst, Herr Wimmer, das gehört zur Recherche von einem ganz anderen Fall.«
»Sie arbeiten an mehreren Fällen gleichzeitig?«
»Das kommt schon vor. Und in diesem Fall ist es sogar wichtig. Wenn ich nicht sowieso in der Gegend wäre, glaube ich kaum, dass ich unser Fotorätsel angenommen hätte. Doch wenn ich schon in der Holledau bin und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann, dann mache ich das natürlich.«
Und doppelten Stundensatz plus Spesen erhebst du natürlich auch, dachte Wimmer, beschränkte seinen Kommentar aber auf ein Grunzen.
»Weißt, Anna, der Kerl is scho a bissl a falscher Fuchz’ger, a weng schmierig und … mei, er hätt aa a guter Ganove wer’n können. Wennst so einem die Hand gibst, musst hernach deine Finger zählen. Ned, dass er welche behält – aus Versehen, sozusagen.«
»Du meinst, der bescheißt seine Mandanten?«
»I halt’s für wahrscheinlich. I hab ihn amal gefragt, was er so nimmt. Nicht dass mir jetzt a Gewerbe anmelden oder so. Aber interessiert hat’s mi halt. Der Mann nimmt fünfundsiebzig Euro pro Stunde. Aber er arbeitet gleich an zwei Fällen zur selben Zeit. Und er verlangt aa noch Spesen. Die wird der Hallodri, denk i ma, gleich beiden Auftraggebern in Rechnung stellen.«
»Spannt man das nicht?«
»Oh, i bin sicher, er is Hallodri genug, dass er des schon so geschickt hindreht.«
»Aber mit dir hat er Bäume g’sucht?«
»Genau. Wir ham die Baam g’sucht. Aber da warn mir ned recht erfolgreich. I glaub ned, dass es noch viele Eichen oder Linden in der Gegend um Wolnzach gibt, die mir ausg’lassen ham. Nix ham mir g’funden. Mir ham zwar rund zehn Paare von Linde und Eiche g’funden und dann da rund ummadum g’sucht. Häuser und aa Höfe hat’s da schon g’nügend, von denen man die Baam im Hintergrund erkennen tat, aber entweder stimmen die Häuser überhaupt ned, oder die Baam schaun ganz anders aus.«
»Schad! Und dann?«
»Heut Nacht is mir dann die Idee gekommen!«
Sie waren an diesem Vormittag noch einmal losgefahren. Wimmer lotste den Detektiv zu einer Linde. Es war der einzige große Baum in weitem Umkreis.
»Und wo ist jetzt die Eiche?«, wollte er wissen.
»Hier gibt es keine Eiche. Aber schauen S’ amal da hinüber. Sehen Sie da die Doppelhaushälften? Die ham s’ in de siebzger Jahr hingestellt. Vorher is da a Wiesen gewesen. Wissen S’, wieso ich mich da so gut erinner?
Biss schüttelte den Kopf.
»Da hab ich als Bua Kastanien g’sammelt, für die Wildfütterung.«
Sie gingen hinüber, und Biss zog das Foto heraus.
»Also, wenn hier etwa die Kastanie stand und es dieser Baum hier ist … und die Linde dort drüben die da …«, Biss peilte mit seinem aus der Faust gestreckten Daumen in die Landschaft, »… dann muss unser Hof in dieser Richtung liegen.«
Dort lag er dann auch. Bald hatten sie das Anwesen gefunden.
Biss war erleichtert. »Ich bin sehr froh, dass ich Sie gefragt habe. Ohne Sie, ich glaub, da hätte ich das Haus nie gefunden.«
»Ach, a bisserl a Glück war da scho aa dabei«, wehrte Wimmer das Lob ab, auch wenn es ihn natürlich freute, dieses Rätsel gelöst zu haben. Biss aber stellte fest, dass es schon auch seiner Tüchtigkeit geschuldet war.
»Ohne die Bäume hätten wir gar nicht gewusst, nach was wir schauen sollen. Glück ist schon recht, aber das ist dann nur noch dazugekommen.«
Der Hof lag bei Wolnzach, ein Stück südlich der Autobahn im Ortsteil Jebertshausen. Die Zeit war auch an diesem Anwesen nicht spurlos vorübergegangen. Die Gebäude waren in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals umgebaut worden und hatten ihr Aussehen stark verändert. Der Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen worden war, war inzwischen von einer Maschinenhalle überbaut. Diesen Blickwinkel aufs Gebäude gab es also so gar nicht mehr. Im ersten Stock waren einige Fenster zugemauert und andere vergrößert worden, die Treppe zur Haustür war neu und breiter angelegt worden, und wo früher eine Scheunentür gewesen war, waren heute zwei Garagenschwingtore.
Von den Einzelheiten des Fotos waren nur noch der Balkon zu erkennen und die Nische mit einem Heiligen Florian. Dennoch … die Strukturen und Dimensionen glichen denen auf dem Bild aufs Haar. Biss und Wimmer waren sich einig: Das musste das gesuchte Haus sein.
Biss brachte Wimmer zur Metzgerei zurück. Als der Wagen hielt, zog er einen Quittungsblock und füllte ihn aus.
»L. Wimmer Wolnzach – von Dirk Biss tausendvierhundert Euro für Recherchearbeiten – dankend erhalten«, stand auf dem Quittungsblock.
»Stimmt das so?«
Wimmer nickte. »Dann fehlt nur noch a Kleinigkeit. Wenn i des quittieren soll, müssen S’ natürlich auch zahlen.«
Doch Biss hatte schon das Handschuhfach aufgeschlossen. Darin sah Wimmer den Griff einer Pistole. Die interessierte Biss aber nicht. Er griff nach einer dicken schwarzen Geldbörse.
»Sie sind bewaffnet?«
»Ich bin bewaffnet. Ja. Aber ich rate niemandem, Waffen zu tragen. In fast allen Fällen machen Waffen die Situation nur komplizierter und gefährlicher.«
»Und wieso kutschieren mir dann so an Schießprügel im Auto umanand?«
»Um für jede Eventualität gewappnet zu sein. Außerdem: Ich bin ein Ex-Polizist und weiß, wann und wie man mit Schusswaffen umgeht und – was noch wichtiger ist – wann man sie im Handschuhfach lässt. Für Amateure ist eine Pistole ein ganz gefährliches Werkzeug. Wenn Sie mit dem Gedanken spielen …«
Das tat Wimmer ganz sicher nicht.
»… dann denken Sie daran, dass die Waffe Ihnen eine trügerische Sicherheit verleiht und Ihren Gegner fast immer provoziert. Je nachdem, wie der drauf ist, wird der dann etwas Verrücktes machen.«
Dann zählte er sieben Zweihundert-Euro-Scheine ab, während Wimmer die Quittung unterschrieb. Es mochte übertriebenes Misstrauen sein, aber der alte Metzger zählte die Scheine nach und stellte dabei erleichtert fest, dass sie echt aussahen, sich auch so anfühlten und alle verschiedene Nummern hatten.
»Tja, Herr Biss. Es hat mich gefreut.«
»Mich auch. Ich bedanke mich herzlich. Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie ernsthaft in das Gewerbe einsteigen wollen, kann ich Ihnen gern helfen. Ansonsten … es hat mir Spaß gemacht mit Ihnen. Alles Gute weiterhin.«
Die guten Wünsche erwiderte Wimmer. »Wie geht es jetzt weiter bei Ihnen?«
»Na ja, jetzt werd ich schauen, dass ich herausbringe, wer auf dem Hof lebt. Dann ist dieser Fall abgeschlossen, und ich teile es meinem Mandanten mit. Vorher aber stelle ich ihm noch eine Rechnung. Und dann hab ich ja noch den anderen Fall.«
»Um was geht’s da?«
»Ich darf darüber nichts sagen. Aber es ist was recht Großes!«
»Und was machen wir jetzt mit dem Geld, Opa?«
»I denk, mir kaufen der Assistenzdetektivin an g’scheiten Sturzhelm. Dann kannst deine Leihgabe wieder zurückgeben.«
Dass Anna am Abend mit einem zur Kombi passenden Sturzhelm nach Hause kam, ließ Karolas Blick hart werden.
»Wo hat die junge Madame denn das Geld für einen Helm her? Papa, hast du ihn ihr gekauft?«
»Na ja, sie hat mir a bisserl am Rechner geholfen bei dem Auftrag für den Detektiv. Und der hat heut bezahlt. Da hab i g’meint, der Helm, des is dann ihr Anteil.«
Karolas Miene hellte sich auf. »Ihr seid’s also fertig geworden mit eurem Detektiv-Schmarrn?«
»Ja. Mir ham des Haus g’funden, das er gesucht hat.«
»Der Opa hat’s g’funden, Mama!«
»Gott sei Dank, dass der Unfug diesmal so schnell a End hat. Und lass dir ned einfallen, jetzt die Detektivspielerei offiziell als Gewerbe zu eröffnen, Papa.«
»Naa, Karola, da bin i mir recht sicher. Des is dann doch a bisserl zu intensiv.«
»Dann hoff ich amal, dass das die letzte Detektivgaudi war und du künftig deine Freizeit so verbringst, wie man es von am anständigen Ruheständler erwarten kann.«
16.9.1957
Franziska seufzte. Es war wieder einmal schön gewesen. Nach den sechzehn Tagen bei den Bichlers sahen zwar ihre Hände wieder zum Fürchten aus, doch etwas Geduld und Atrix, ihre treue Handcreme, würden ihre zehn kleinen Helferlein schon wieder manierlich werden lassen.
Sie setzte sich in das Eck ihres Fensterplatzes zurecht und sah zu, wie die grüne Welt an ihr vorüberglitt, während der Zug sie wieder nach Süden, nach München, in ihr angestammtes Leben zurückbrachte.
Es ist schon seltsam, dachte sie. Hier hatte sie nur einen Strohsack auf der Tenne gehabt und nicht mehr als das, was sie im Rucksack hatte mitnehmen können. Dennoch hatte sie sich hier freier und besser gefühlt als zu Hause bei Mutter, der Tante und der Großmutter. Dabei hieß es doch, dass Stadtluft einen Menschen frei macht. Bei ihr schien es anders zu sein.
Es war nun ihr vierter Einsatz in der Holledau zum »Hopfenbrocken« gewesen. Wieder hatte sie hart gearbeitet, eine hübsche Summe verdient und bei all dem auch viel Freude mit den anderen Pflückerinnen und Pflückern gehabt. Wieder war das Essen einfach, aber überreichlich gewesen, wieder hatte man bei Regen und Sonne gearbeitet und dabei froh gesungen, gescherzt und sich gefreut. Gelegentlich war der Großvater der Bichlers zu den Pflückerinnen gekommen und hatte ihnen erst aus der Zeitung und später aus Romanheften vorgelesen. So hatten sie fast drei Wochen lang sechs Tage in der Woche gearbeitet.
An einem der Sonntage war beinahe der ganze Bichlerhof nach Hüll spaziert, dem Hopfenforschungsgut. Die Bäuerin meinte, nirgendwo sei die gebenedeite Jungfrau den Hopfenbauern und ihren Helfern so gewogen wie in der Kapelle dort, wo sich alles Denken und Trachten um die g’starrigen Ranken dreht. »Hier kann s’ gar ned anders als a Einsehen ham mit unseren Sorgen!«, erklärte sie.