Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis

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„Thomas Edward Faust, mein Sohn. Fräulein Doktor, Doktor Dorothee Keller aus Chicago, die heutige Referentin.“
Faust junior wollte sich über ihre Hand beugen, um einen angedeuteten Kuss darauf zu hauchen, aber herzlich lachend griff die junge Frau kräftig zu und drehte die Hand senkrecht, sodass Faust keine Möglichkeit für seine galante Geste erhielt. Irritiert blickte er die Amerikanerin an, als die seinen Vater auch schon unterhakte und mit ihm zurück zur Tür schritt.
„Amerikanerin ist nicht ganz richtig, Herr Doktor Faust. Geboren wurde ich in Braunschweig, und zwar schon am 21.4.1895.“
Der Polizeiagent stieß einen überraschten Laut aus.
„An dem Tag wurde auch ich geboren!“, antwortete er schnell und folgte den rasch Ausschreitenden in den geräumigen Empfangsbereich.
Fräulein Keller lachte fröhlich auf.
„Wirklich? Aber das ist ja ein herrlicher Zufall! Um welche Uhrzeit erblickten Sie das Licht dieser Welt?“
„Um präzise drei Uhr des Nachmittags!“, antworteten Vater und Sohn fast wie aus einem Mund.
„Dann bin ich die Ältere!“, rief die Dame aus. „Ich kam exakt eine halbe Stunde vorher zur Welt!“
„Und zogen dann nach Amerika?“
„Nein, erst im Alter von fünf Jahren. Mein Vater bekam in Chicago die Leitung einer großen Fabrik übertragen, und so mussten wir die schöne Stadt an der Oker verlassen. Aber ich freue mich, endlich einmal wieder in meiner alten Heimat zu sein und Sie beide heute bei meinem Vortrag zu wissen!“
„Jaaa“, antwortete Faust junior etwas gedehnt und weil ihm nichts Besseres einfiel, fügte er hinzu: „Sie sprechen ein ausgezeichnetes Deutsch, Fräulein Keller!“
Helles Lachen antwortete ihm, als die junge Frau erwiderte:
„Das will ich wohl meinen! Bei uns zu Haus in Chicago wurde Deutsch gesprochen, sonst natürlich nicht. Aber ich habe in Amerika auch in verschiedenen Städten studiert und dabei einige Freunde unter den Germanisten gehabt, die es schätzten, sich mit mir in der Sprache Schillers und Goethes zu unterhalten.“
„Aber Sie wurden nicht auch eine Germanistin, sondern – was?“, erkundigte sich der Agent und erhielt die Antwort:
„Promoviert habe ich sowohl in Chemie wie auch in der Medizin, Herr Faust, meine Lehrtätigkeit aber wieder eingestellt. Die Forschung reizt mich weitaus mehr, und die dadurch erworbenen Erkenntnisse führen mich in der Forensik wie der allgemeinen Gerichtsmedizin erheblich weiter.“
Faust hoffte in diesem Augenblick, dass man ihm seine Verblüffung nicht anmerken konnte. Aber das Fräulein hatte sich eben mit den Worten an einen Saaldiener gewandt: „Das sind die Herren Faust. Richard, bitte führen Sie die Herren zu der Loge, die ich Ihnen genannt habe. Meine Herren, Sie entschuldigen mich bitte, es sind nur noch wenige Minuten bis zu meinem Vortrag. Wir sehen uns danach sicher zu dem kleinen Empfang, den ich folgen lasse, um hoffentlich ein paar anregende Gespräche zu führen.“
Damit eilte sie schon davon, und fasziniert sah der junge Faust ihr nach, wie sie mit raschem Schritt durch den Saal eilte. Ihr Seidenschal wehte um ihre Schultern, und die weiten Hosenbeine spielten um die eleganten Schuhe, die von Faust als das Modell Tangoschuh eingestuft wurden, mit einem kräftigen Absatz und abgerundeter Kappe.
Diese modischen Details lernte er erst kürzlich kennen, als man die Leiche einer jungen Dame der gehobenen Bürgerschicht aus der Oker geborgen hatte. Der Gerichtsmediziner wies auf die kaum getragenen Schuhe mit einem verlegenen Lächeln und bemerkte dazu, dass sie leider durch die lange Zeit im Wasser völlig verdorben waren und so manche Frau darüber wohl betrübter sein mochte als über den Tod der jungen Unbekannten. Auch ein Bild von ihr in den Tageszeitungen der Stadt hatte noch keinen Aufschluss über ihre Identität erbracht.
„Du scheinst ja mächtig beeindruckt zu sein, mein Junge!“, ließ sich der alte Herr vernehmen, als sein Sohn auf den weichen Sessel neben ihm sank. „Damit hattest du wohl nicht gerechnet, was? Ich hoffe, du bist ihr gewachsen!“
„Wie meinst du das? Weil sie so ... modisch gekleidet ist? Zugegeben, sehr viele Damen in Hosen habe ich bislang noch nicht in Braunschweig gesehen, andererseits jedoch ...“
„Fürchtest du eine Suffragette?“, ergänzte sein Vater und strich sich über den Kinnbart.
„Wie? Nein, sie muss ja keineswegs ... ich meine, sie ist ...“
„Immerhin mit einem doppelten akademischen Grad, Thomas. Hat in unserer Familie bislang nur mein Vater geschafft, damals, als er sich neben der Juristerei auch der Medizin zugewandt hat. Übrigens hoffe ich, dass du deine Studien neben dem Beruf nicht vernachlässigst!“
„Nein, das mache ich nicht, meine Dissertation steht vor dem Abschluss. Und natürlich weiß ich, dass Großvater am Anatomischen Institut einen eigenen Lehrstuhl begründete. Aber trotzdem ist sie ...“
„Es geht los!“, unterbrach ihn sein Vater und deutete zur Bühne, auf die jetzt die junge Frau trat und von einem Scheinwerfer erfasst wurde.
Beifall brandete auf, und Thomas E. Faust blickte sich verwundert um. Er hatte kaum registriert, dass der Saal sich in den letzten Minuten derart gefüllt hatte. Seit 1914 gab es hier ein Kino im Haus, dazu ein Restaurant im Obergeschoss, zwei weitere neben dem großen Konzertsaal, in dem sie jetzt saßen, sowie im hinteren Bereich, wo es zudem einen Kaffee- und Biergarten gab.
Nach kurzer Begrüßung kam Fräulein Dr. Dr. Dorothee Keller gleich auf ihr Thema, begann jedoch zunächst mit der Methode, die der französische Anthropologe A. Bertillon entwickelt hatte. Danach konnte man mit elf verschiedenen Körpermaßen einen Menschen identifizieren. Dieses Verfahren war bei allen Polizeieinrichtungen in Frankreich, Österreich, der Schweiz und Deutschland eingeführt und stark genutzt. Das Publikum, das nach Einschätzung des jungen Fausts überwiegend aus der gehobenen Bürgerschicht bestand, schien von der Darstellung fasziniert zu sein. Kaum hatte das gelehrte Fräulein ein paar Punkte umrissen, brachten Helfer Geräte auf die Bühne und gleich darauf eine Reihe verwegen aussehender Männer, die sich, trotz ihres Aussehens, manierlich verhielten und den Anweisungen der jungen Dame folgten.
„Angenommen, wir müssen aus dieser Schar verdächtiger Männer einen möglichen Täter überführen, von dem wir nur eine vage Zeugenbeschreibung haben!“, begann sie ihre Ausführungen und die Helfer, die alle eine Art Uniform trugen, bemühten sich, die Männer auszumessen. Das brachte schon den einen oder anderen Ruf des Unmutes hervor, denn nicht jeder wollte seine Arme vom Körper weg strecken, damit man ihn ausmessen konnte. Schließlich wehrte sich ein großer, kräftiger Mann gegen diese Tätigkeit, indem er kurzerhand einen der Helfer bei dessen weißer Hemdbrust packte und zurückschleuderte. Fräulein Keller ließ sich davon nicht irritieren, und sofort ergriffen zwei kräftige Helfer den rabiaten Mann. Als jeder einen seiner Arme nun gewaltsam zur Seite bog, lachte das Publikum, während der so Behandelte vor Wut rot anlief und erneut versuchte, sich der Vermessung zu entziehen.
Bei dem Gerangel stolperte schließlich einer der Helfer und wäre um ein Haar von der Bühne gestürzt, als die junge Wissenschaftlerin mit wenigen, raschen Schritten vor ihnen stand und dem Widerborstigen etwas in die Hand drückte. Jetzt schien sein Widerstand gebrochen zu sein, und die Arbeiten an ihm konnten fortgesetzt werden.
Währenddessen erklärte Fräulein Keller dem Publikum, warum man welche Körpermaße nahm und erntete Gelächter auf die Erklärung, dass auch der Kopfumfang etwas über jemand aussagen könnte, der als geborener Verbrecher galt.
„Sie lachen mit Recht, meine Damen und Herren, über diese Bezeichnung. Aber der italienische Kriminologe und Jurist Cesare Lombroso begründete diese Lehre, delinquente nato, vom geborenen Verbrecher. Er behauptete, dass aggressive Verhaltensweisen vererbbar wären und einen Menschen auch äußerlich formten. Zusammengewachsene Augenbrauen und bestimmte Schädelformen sind nach seiner Lehre Hinweise auf eine atavistische und damit niedrige und gewalttätige Entwicklungsstufe. Betrachten Sie nun mit diesem Wissen diese drei Herren genauer!“
Rascheln von Kleidern, leises Flüstern, einige Damen packten kleine Operngläser aus und hielten sie sich an die Augen, gefolgt von unterdrückten Seufzern und leisem Stimmengemurmel.
Dann hob die Wissenschaftlerin wieder ihre Hand und bat um Ruhe.
„Nun, Sie haben sicher Ihre Beobachtungen gemacht. Mein Dank gilt den Freiwilligen, die sich hier für meine kleine Vorführung zur Verfügung gestellt haben. Herr Donners, darf ich Sie bitten, vorzutreten und uns Ihren Beruf zu nennen?“
Der so angesprochene Mann trat nach vorn. Es war der, der sich gegen die Vermessung seiner Körpermaße gewehrt hatte.
Fräulein Keller reichte ihm die Hand, und als sich der große Mann artig darüber beugte, ging erneut ein erstauntes Raunen durch die Reihen.
„Würden Sie bitte den anwesenden Herrschaften verraten, welchen Beruf Sie ausüben, Herr Donners?“
Der Mann, der nur ein grobes Leinenhemd über einer schmutzigen Hose trug, unter der unförmige Schuhe hervorsahen, verbeugte sich und antwortete strahlend: „Mein Name ist Ludwig Donners, ich bin Dirigent am Theater von Kassel und derzeit zu einem Gastspiel am hiesigen Theater!“
Ungläubiges Schweigen, dann folgte donnernder Applaus.
„Und jetzt diese drei Herren, die sich auf meinen Wunsch seit gestern nicht mehr rasiert haben. Sehen Sie nicht furchtbar aus? Möchten Sie diesen Herren im Dunkeln begegnen? Nein? Bitte, stellen Sie sich doch einmal vor, meine Herren!“
„Das ist doch ...“, sagte Faust senior leise, denn er hatte die drei Männer trotz der derben Arbeiterkleidung erkannt.
„Wir sind alle drei Wachtmeister der hiesigen Polizei und nennen ausnahmsweise einmal nur unsere Vornamen – dort steht Walter, daneben Otto, ich höre auf den schönen Namen Wilhelm!“, erklärte einer der Männer, und auch sie erhielten donnernden Applaus.
„Danke, verehrtes Publikum. Sie ahnen es, ich habe Sie auf das Glatteis geführt. Alles, was Sie bislang gesehen haben, war ein Teil meiner Show. Ich wollte Ihnen zeigen, dass nicht jeder, der ein wenig grob aussieht, auch ein Verbrecher sein muss. Und auch, dass die Bestimmung eines Menschen nach einer Beschreibung und erfolgten Vermessung äußerst unzuverlässig ist. Wir sollten deshalb endlich zu einem Verfahren wechseln, das es ermöglicht, die Identität eines Menschen zweifellos zu klären.“
„Etwa mithilfe von Lichtbildern? Viel zu aufwändig!“, rief jemand aus dem Publikum, und Faust senior beugte sich rasch nach vorn, um zu erkennen, wer den Zwischenruf getätigt hatte.
„Natürlich, der Herr Erich Bertram!“, sagte er leise und sein Sohn bemerkte, wie sich die rechte Hand seines Vaters um die Lehne verkrampfte. Der alte Polizeipräsident hegte keine sonderliche Sympathie für seinen Nachfolger im Amt.
„Danke, für Ihren Zwischenruf, Herr Polizeipräsident!“, antwortete die junge Dame und erntete dafür erneut Beifall. „Die Lichtbildtechnik ist aus dem Alltag eines Kriminalisten schon längst nicht mehr wegzudenken. Nein, ich meine das Verfahren der Daktyloskopie, und zwar in der Form, in der sie von dem Engländer Francis Galton verbessert, ja, geradezu perfektioniert wurde.“
„Hört, hört!“, ließ sich erneut die Stimme des Polizeipräsidenten vernehmen. „Das ist doch nichts als wissenschaftlich verbrämter Humbug!“
Sein Amtsvorgänger stieß ein verächtliches Schnauben aus, das aber nur sein Sohn vernehmen konnte, denn sie saßen in ihrer Loge zu weit von den anderen entfernt.
„Dank auch für diesen Zwischenruf, Herr Polizeipräsident. Das zeigt mir, dass Sie sehr offen für neue Techniken sind!“, konterte Fräulein Keller, und noch bevor der Mann erneut etwas rufen konnte, wandte sie sich direkt an ihn.
„Herr Polizeipräsident, ich darf doch davon ausgehen, dass Sie mit dem Fall Vincenzo Peruggia vertraut sind?“
„Mona Lisa!“, antwortete Erich Bertram knapp, aber laut.
Immer mehr Menschen in den vorderen Reihen drehten sich zu ihm um, und der Polizeipräsident erkannte, dass er nun im Mittelpunkt des Interesses stand. Und wenn er ehrlich zu sich war, gefiel ihm das am heutigen Abend überhaupt nicht. Er wollte unerkannt und allein im Publikum hören, was diese amerikanische Suffragette zu verkünden hatte, und danach handeln. Aber nun entwickelte sich alles in eine andere Richtung, zumal Fräulein Keller erneut lautstark um Aufmerksamkeit und Ruhe bat.
Warum konnte ich mich wieder einmal nicht zurückhalten?, ging es Bertram durch den Kopf. In diesem Augenblick glaubte er, im Halbdunkel des Saales ein paar Reihen vor sich ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben, aber der Mann drehte sich hastig wieder um, und Bertrams Aufmerksamkeit wurde abgelenkt.
„Meine Damen und Herren, Polizeipräsident Bertram hat es mir soeben bestätigt: Einer der spektakulärsten Kunstraube konnte nicht aufgeklärt werden, weil man dem Dieb, jenem Vincenzo Peruggia, den Diebstahl der Mona Lisa nicht beweisen konnte.“
„Sehr richtig!“, ließ sich erneut der Polizeipräsident vernehmen. „Und das trotz des vorhandenen Fingerabdruckes!“
„Da stimme ich Ihnen zu, Herr Bertram! Mit seinen hinterlassenen Fingerabdrücken hatte man ihm den Diebstahl nachweisen können,“ konterte die junge Wissenschaftlerin. „Aber nicht, weil man sie ihm nicht zuordnen konnte, sondern weil aufgrund einer unglaublichen Schlamperei in der zuständigen Polizeibehörde die genommenen Fingerabdrücke nicht mit denen in der Kartei befindlichen Daten verglichen werden konnten! Und weshalb war das nicht möglich? Weil man sie in einem chaotischen System abgelegt hatte!“
„Der Fall wurde schließlich auch ohne diese Fingerspuren gelöst!“, rief Bertram erneut dazwischen.
„Ja, nachdem das berühmte Bild der Mona Lisa zwei Jahre im Besitz des Diebes war und er dann dumm genug war, es einem Händler zum Kauf anzubieten!“, antwortete Fräulein Keller.
Erneute Unruhe im Publikum, es wurde geflüstert, aber dann brachte die Referentin alle mit ihrer nächsten Ankündigung wieder zur Ruhe.
„Bitte, bewahren Sie absolute Ruhe. Ich benötige jetzt Ihre Aufmerksamkeit für ein besonderes Experiment!“
Einen kurzen Moment wartete Fräulein Keller ab, dann hob sie beschwörend ihre Hände.
„Was Sie jetzt erleben werden, ist der Beweis, dass die moderne Wissenschaft in der Lage ist, einen Täter zu überführen. Dazu müssen Sie wissen, dass bei der Daktyloskopie nachgewiesen werden kann, welcher Mensch zum Beispiel eine Waffe in der Hand gehalten hat. Jeder Mensch hinterlässt bei allen Gegenständen, die er angefasst hat, seinen persönlichen Abdruck. Zahlreiche Experimente haben bewiesen, dass es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die die gleichen, völlig übereinstimmenden Fingerabdrücke haben.“
Es gab erneut Unruhe unter den Besuchern, und tatsächlich standen mehrere Männer auf, und wollten den Saal verlassen. Allerdings folgten ihnen in fast allen Fällen ihre weiblichen Begleitungen nicht. Ein paar männliche Besucher ließen sich davon nicht abhalten, den Saal trotzdem zu verlassen. Die meisten anderen setzten sich, wenn auch widerstrebend.
„Meine Damen und Herren, werden Sie Ohren- und Augenzeugen bei der Überführung eines möglichen Täters. Natürlich werden wir die Show ohne einen wirklichen Verbrecher fortsetzen. Alles dient nur der wissenschaftlichen Dokumentation. Auf der Bühne befinden sich noch immer drei Wachtmeister der Braunschweiger Polizei, die sich bereits vorgestellt haben. Wenn wir jetzt das Licht verlöschen, wird einer der drei Polizisten eine geladene Pistole ergreifen, die ich hier auf den Tisch lege, und einen Schuss daraus abfeuern. Bitte, erschrecken Sie nicht. Es wird nur einen Knall und den sichtbaren Feuerstrahl aus der Waffe geben. Ich habe dafür gesorgt, dass es nur eine mit Pulver gefüllte Patrone gibt, die vollkommen unschädlich aber doch laut einen Schuss ermöglichen wird. Bitte, erschrecken Sie nicht, wenn das Licht ausgeht. Gleich danach werden Sie den Knall hören und das Mündungsfeuer der Waffe sehen. Anschließend wird das Licht wieder angehen, und die drei Polizisten stehen wie zuvor am Tisch. Und mit der Methode der Daktyloskopie werde ich Ihnen danach zeigen, wer von den drei Polizisten die Waffe abgefeuert hat.
Mit dieser Methode wird es künftig leichter möglich sein, einen Straftäter zu überführen. Alles fertig? Keine Angst, es ist alles nur eine Show! Licht aus!“
Diese Aufforderung wurde sofort umgesetzt.
Der Saal wurde dunkel.
„Jetzt die Waffe aufnehmen!“, erklang Fräulein Kellers helle Stimme.
„Achtung, der Schuss erfolgt jetzt – Feuer frei!“
Es krachte, der Mündungsblitz leuchtete in beeindruckender Weise auf, die Reaktion im Publikum war ein lautes „Ah!“, dann wurde das Flüstern lauter, und als man das Licht wieder andrehte, begannen die Diskussionen.
Auf dem Tisch lag wieder die abgefeuerte Waffe, die drei Polizisten in ziviler Kleidung standen dahinter, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Fräulein Keller näherte sich ihnen zusammen mit einigen Helfern, die eine kleine Holzkiste trugen. In dem Augenblick, in dem sie die Kiste vor dem Tisch abstellten, gellte ein Schrei durch den großen Saal.
„Hier ist ein Toter!“, schrie jemand laut, und alle Köpfe fuhren herum.
„Der Polizeipräsident wurde erschossen!“, rief ein anderer, und nun brach eine Panik unter den Zuschauern aus, die kaum zu bewältigen war. Alles drängte sich zu den Ausgängen, niemand nahm Rücksicht auf den anderen. Jeder hatte nur den einen Wunsch: So schnell wie möglich den Konzertsaal zu verlassen.
„Warten Sie bitte! Es besteht kein Grund zur Flucht! Überall an den Türen stehen meine Helfer bereit, bitte, seien Sie doch vernünftig! Niemand hat in diesem Saal scharf geschossen!“, klang flehentlich die Stimme der jungen Wissenschaftlerin durch den Raum.
„Warum hat dann der Polizeipräsident ein Loch in der Brust?“, rief jemand laut, und ein mehrfaches Kreischen antwortete ihm. Gleich darauf drängte alles verstärkt zu den Ausgängen, und die dort postierten Ordner hatten ihre Mühe, die Massen aufzuhalten. Doch die Türen blieben verschlossen, und über das Geschrei der Menge klang jetzt die Stimme des alten Polizeipräsidenten. Dr. Thomas Faust hatte die Bühne erreicht und ließ sich von Fräulein Dr. Keller das Mikrofon geben.
„Bleiben Sie bitte ruhig und kehren Sie auf Ihre Plätze zurück. Ich bin Thomas Faust, Polizeipräsident im Ruhestand. Seien Sie unbesorgt, Ihnen droht keine Gefahr. Aber bitte, kehren Sie auf Ihre Plätze zurück! Seien Sie vernünftig und vermeiden Sie jegliche Lauferei durch den Saal! Meine Männer sind vor Ort und werden Sie schützen!“
Als die Menschen die Stimme des alten Präsidenten hörten und ihn schließlich auf der Bühne entdeckten, kehrte tatsächlich allmählich wieder Ruhe im Saal ein. Die meisten gingen zu ihren Plätzen zurück, nur einige wenige sammelten sich vor den Ausgängen und warteten ab, ob man nicht doch noch die Türen für sie öffnen würde. Doch daran war nicht zu denken.
„Gut, bitte bleiben Sie so ruhig und besonnen wie bislang. Wir werden in Kürze die Ausgänge öffnen. Bitte, haben Sie Verständnis dafür, dass wir von jedem die Namen und Adressen erfassen müssn. Immerhin hat es wirklich einen Toten gegeben.“



2.

„Ich gehe zu Fuß zum Präsidium zurück!“, verkündete der Polizeiagent seinem Vater, als endlich auch die letzten Personalien erfasst waren und die Menge, die noch in lebhafter Unterhaltung vor dem Gebäude am Damm zusammenstand, mehrfach von uniformierten Beamten aufgefordert wurde, weiterzugehen.
„Ja, mach das!“, antwortete sein Vater etwas abwesend und musterte die Gestalt eines Mannes in eleganter Kleidung, der eben in Richtung Kohlmarkt die Straße überquerte. Er trug zu seinem Gehrock einen Zylinder und schwang einen Spazierstock im Takt zu seinen Schritten. Etwas in der Art und Weise, wie der Mann rasch nach links und rechts schaute, dann wieder vor der Auslage eines Geschäftes stehen blieb, hatte das Misstrauen des alten Polizeipräsidenten geweckt.
Der Bursche bleibt doch nur immer wieder stehen, um festzustellen, ob jemand ihm folgt. Aber warum ist er so misstrauisch? Was hat er zu verbergen?
Fast unwillkürlich setzte sich der alte Herr in die gleiche Richtung in Bewegung, hielt aber einen großen Abstand ein und folgte dem Mann auf diese Weise bis zum Hotel de Prusse. Hier blieb der Zylinderträger erneut stehen, warf einen raschen Blick in alle Richtungen und trat schließlich ein. Die große, schwere Pendeltür mit den auffallenden Messingbeschlägen war gerade zum Stillstand gekommen, als ein weiterer Herr mit Zylinder in das Foyer trat, sich rasch umsah und dann dem Concierge ein Zeichen mit dem Kopf gab.
Der Mann, der hier schon seit vielen Jahren seinen Dienst verrichtete, hatte den alten Präsidenten sofort erkannt und eilte ihm entgegen.
„Herr Breschke, eben trat ein Herr vor mir ein, der ebenfalls einen Zylinder trug. Ist er Gast Ihres Hauses?“
„Herr Poli...“ Er brach ab, denn der alte Herr Faust machte sofort eine heftige Geste und setzte leise hinzu: „Keine Titel, keine Namen, bitte.“
Der Concierge trat noch etwas näher und raunte dem ehemaligen Polizeipräsidenten zu: „Sie meinen gewiss diesen Ferdinand Lücke, ein unangenehmer Mensch. Verzeihen Sie meine Offenheit, Herr Po... Herr Faust, aber wenn ich so etwas über einen Gast sage, dann gewiss nicht ohne Grund.“
Nachdenklich sah der alte Herr ihn an, dann wurde ihm plötzlich klar, woher er den Mann kannte.
„Ferdinand Lücke!“, wiederholte er den Namen. „Natürlich! Die Anschläge auf dem Gaußberg, dann das Labor in der Bismarckstraße und sogar das Tennisheim im Bürgerpark! Lücke sollte daran beteiligt sein, ein bekannter Anarchist aus Berlin, der sich hier regelmäßig mit den Revolutionären Merges und Fasshauer getroffen hat! Besten Dank, Breschke, Sie haben meinem alten Gedächtnis wieder auf die Sprünge geholfen. Ich war ja 1921 nicht mehr im Dienst, als diese Sprengstoffanschläge stattfanden.“
„Ja, Herr ... Faust, wir lebten damals alle in Angst und Schrecken. Wissen Sie, Herr Doktor, ich wohne ja am Hagenring, und dort wurde doch ein furchtbarer Überfall mit Sprengstoff auf die Post verübt. Alles flog in die Luft, und ich konnte ...“
„Ja, ich erinnere mich gut, Herr Breschke, besten Dank. Und der Herr Lücke – wie lange will er wohl noch bleiben?“
Der Concierge hob die Schultern und machte eine verlegene Miene dazu.
„Ich weiß es leider nicht genau, Herr ... Doktor Faust. Aber eines kann ich gewiss sagen: Sein Zimmer wurde bis zum Ende dieser Woche im Voraus bezahlt.“
„Im Voraus?“
Der alte Polizeipräsident zog die Augenbrauen hoch.
„Ja, das ist ... bei bestimmten Personen ... von der Direktion so gewünscht“, versicherte der Concierge eifrig mit unterdrückter Stimme und warf dabei einen Blick über die Schulter, ob auch niemand seine Worte verstehen konnte.
„Aha, und der Herr Lücke, der ist also so eine bestimmte Person?“
Breschke nickte eifrig, Faust drückte ihm beim Verabschieden ein üppiges Trinkgeld in die Hand, rückte seinen Zylinder zurecht und war aus der Tür, bevor der Concierge noch eine Frage stellen konnte.
Nachdenklich sah er dem alten Polizeipräsidenten hinterher.
Der Lücke hatte doch Dreck am Stecken!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er Faust mit erstaunlich elastischem Schritt zurück zur Münzstraße gehen sah. Hoffentlich hat der Bursche nicht noch Sprengstoff auf dem Zimmer. Ich sollte bei nächster Gelegenheit dort selbst einmal nachsehen, bevor mir das schöne Haus um die Ohren fliegt! Er drehte sich auf dem Absatz um und – erstarrte. Da stand der Mann unmittelbar vor ihm und sah ihn durchdringend an. Vollkommen lautlos musste er die Halle durchquert haben, was schon aufgrund der Marmorfliesen eine Herausforderung war.





