Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis

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Dr. Stiller zuckte mit den Schultern und verließ den Lift. Nur mit Hose und Oberhemd bekleidet kam er sich beinahe halbnackt vor. Er wandte den Kopf. Der Schwarzhaarige eilte mit der Instrumententasche und wehendem, weißen Kittel den Korridor hinab.
Stiller schüttelte verzweifelt den Kopf. Er las gern und viele Krimis und bildete sich ein, mit einer gut funktionierenden Kombinationsgabe glänzen zu können, aber er sah sich diesmal außerstande, einen Sinn in das Geschehen zu bringen.
Nur eines war klar. Die Gangster hatten damit gerechnet, dass man ihn in Reinigers Office rufen würde. Und sie waren entschlossen, die dort notwendig gewordene Behandlung zu unterbinden oder, was vielleicht noch schlimmer war, auf ihre Weise durchzuführen.
„Los, Doktorchen“, raunzte der Gangster. „Du schließt dich jetzt in eine der Boxen ein und kommst erst dann wieder heraus, wenn ich dreimal klopfe. Wenn du Ärger machst, perforiere ich die Scheißhaustür mit Blei, verstanden?“
Stiller nickte und ging, gefolgt von dem Gangster, auf die Toiletten zu.
Der Schwarzhaarige hatte Bount Reinigers Officetür erreicht. Er zögerte nur eine Sekunde, dann trat er ein. Das Vorzimmer war leer, aber die Verbindungstür zum eigentlichen Office stand offen. Der Mann im weißen Kittel trat über die Schwelle. June March kam ihm entgegen.
„Dr. Williams. Dr. Stiller hat mich gebeten, nach dem Rechten zu sehen. Was gibt es, bitte?“
„Dr. Williams? Sie sind ein Kollege von Dr. Stiller?“, wunderte sich June.
„Ja, sein neuer Assistent“, erklärte der Besucher ungeduldig. „Ich bin in Eile. Wo ist die Dame? Dr. Stiller sprach von einer Patientin.“
Bount erschien im Türrahmen. Er hob die Augenbrauen.
„Das ist Dr. Williams, Dr. Stillers neuer Assistent“, sagte June rasch. Bount trat zur Seite. „Es gibt nicht mehr viel für Sie zu tun“, bedauerte er. „Mrs. Miller ist tot.“
Der Mann im weißen Kittel betrat das große, modern möblierte Zimmer und stoppte an der Couch, auf der die Tote lag. Er öffnete die Instrumententasche, fischte eine kleine Lampe heraus und lenkte deren Punktstrahl in eines der starren, weit offenen Augen.
„Die Indikationen sprechen eindeutig für eine Vergiftung“, sagte er. „Kein Puls. Natürlich kann es sich auch um eine toxikologische Starre handeln, wir müssen das sofort überprüfen. Der Notarztwagen ist bereits unterwegs. Dr. Stiller hat ihn vorsorglich bestellt.“
„Und ich“, sagte Bount, „habe inzwischen Toby Rogers informiert.“
„Wen, bitte?“
„Die Mordkommission“, sagte Bount. „Captain Rogers.“
„Ich verstehe. Wie konnte das bloß passieren? Ein Jammer um dieses junge Menschenleben! Sie sind Privatdetektiv, nicht wahr?“
„Ja. Einiges deutet daraufhin, dass Mrs. Miller das Opfer einer von ihr selbst eingenommenen hochgiftigen Tablette wurde“, sagte Bount. „Sie hat sie einem kleinen, goldenen Pillendöschen entnommen. Offenbar wurden ihre Beruhigungspillen gegen das giftige Präparat ausgetauscht.“
„Mord, wie schrecklich!“ Er setzte sich auf den Couchrand, öffnete die Bluse der Toten, hielt plötzlich inne und sagte ernst: „Würden Sie mich bitte ein paar Sekunden mit der Unglücklichen allein lassen?“
Bount und June gingen ins Office, ließen die Tür jedoch hinter sich offen. „Weshalb glauben Sie, dass sie verheiratet ist?“, wunderte sich June. „Sie trägt keinen Ring.“
„Sie ist verheiratet, ich fühle es“, sagte Bount. „Sie ist eine Ehefrau. Ein Klassegesicht wie dieses bleibt nicht ledig.“
„Ein reizendes Kompliment für mich“, spottete June. „Ihrer Logik zufolge ist mein Gesicht in eine weniger männermordende Kategorie einzuordnen, denn ich bin ja auch noch frei und unbemannt.“
„Und das mit 24 Jahren“, sagte Bount. „Sie können einem wirklich leidtun.“
Der Mann im weißen Kittel tauchte auf. „Ich erstatte jetzt Dr. Stiller Bericht, komme aber sofort wieder zurück, um beim Eintreffen des Notarztwagens zugegen zu sein. Bis gleich!“
Er verließ das Office.
Bount betrat den Wohnraum, stirnrunzelnd. „Rufen Sie Dr. Stiller an“, bat er. „Fragen Sie ihn, warum er diesen Williams geschickt, hat.“
„Dr. Williams macht doch einen sehr tüchtigen, kompetenten Eindruck ...“
„Ich finde, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Ich kann mich nicht erinnern, bei einem Fall wie diesem jemals eine kürzere, schlampigere Untersuchung miterlebt zu haben“, sagte Bount.
„Dass die Ärmste tot ist, haben selbst Sie festgestellt, und das ohne Instrumente! Was hätte er denn noch machen sollen?“, fragte June.
„Rufen Sie Dr. Stiller an“, drängte Bount und griff nach der Handtasche der Toten. Er öffnete sie. Seine Augen weiteten sich. Die Tasche war leer. Selbst das Pillendöschen war daraus verschwunden.
Bount warf die Tasche aus der Hand und sprintete zur Tür. Als er den Korridor erreichte, sah er an seinem Ende zwei Männer im Gespräch. Der Mann im weißen Kittel war bereits verschwunden.
Er raste zum Lift und drückte auf den Knopf. Er verfolgte die elektrischen Anzeigen und biss sich ungeduldig auf die Unterlippe. Endlich hielt einer der Fahrstühle. Bount fuhr ins Erdgeschoss.
Er hastete durch die Mall zur Straße, ohne den Mann zu sehen, den er suchte. Er stürmte in die Tiefgarage des Buildings. Ein paar Wagen kamen ihm auf der Rampe entgegen, aber in keinem von ihnen saß der angebliche Dr. Williams. Bount machte kehrt, er fuhr mit dem Lift nach oben und betrat sein Office.
„Es gibt gar keinen Assistenten von Dr. Stiller“, empfing ihn June aufgeregt.
„Ich weiß. Wo ist Dr. Stiller?“
„Ich habe mit seiner Assistentin gesprochen. Er ist sofort nach meinem Anruf mit seiner Instrumententasche losgegangen und bis jetzt nicht zurückgekehrt.“
Bount setzte sich. „Ich wette, er ist noch im Haus.“ Bount sprang auf und rannte erneut aus dem Office. Er folgte einer logischen Eingebung. Wenn man Dr. Stiller seiner Instrumententasche beraubt hatte (Bount kannte diese Tasche, sie trug die Initialen des Arztes und hatte sich in den Händen des angeblichen Dr. Williams befunden) war anzunehmen, dass man dies im Lift getan hatte, auf dem Wege vom neunten zum vierzehnten Stockwerk.
Hier oben gab es eigentlich nur einen Ort, wo man den Arzt vorübergehend festsetzen konnte: die öffentliche Toilette. Jede andere Lösung hätte eine Eskalation der Gewalt bedeutet, ein Eindringen in andere Office Räume.
Bount stieß die Tür zu dem großen, weißgekachelten Raum auf. Er war leer. Nur eine der Boxen war besetzt. „Dr. Stiller?“, rief Bount halblaut.
„Sind Sie das, Reiniger?“, ertönte es prompt aus dem Innern der Box.
„Sie können herauskommen“, sagte Bount.
Stiller tauchte auf, schaute sich um und stieß die Luft aus. „Der Kerl hat mich geblufft. Wahrscheinlich ist er in dem Moment gegangen, als sich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Was hat das zu bedeuten, Reiniger?“
„Keine Ahnung. Ich werde herausfinden müssen, warum die Burschen meiner Klientin gefolgt sind. Einiges spricht dafür, dass es ihre Mörder waren. Diese Gangster müssen damit gerechnet haben, dass Mrs. Miller in meinem Office stirbt. Aber sie wollten sicher sein, dass das Gift wirkt – und dass kein Arzt ihnen ins Handwerk pfuscht.“
„Sie glauben, diese Männer wussten, dass ich der einzige Arzt im Gebäude bin und dass Sie sich an mich wenden würden?“, fragte Dr. Stiller.
„So sieht es aus. Die beiden haben nur logisch kombiniert und dabei ins Schwarze getroffen. Wie sah der Mann aus, der Sie hier einsperrte?“
„Er war der Handlanger eines gutaussehenden Schwarzhaarigen, der meinen Kittel und meine Instrumententasche übernahm – offenbar der Anführer des Unternehmens. Haben Sie ihn kennengelernt?“
„Ja. Ich möchte nur wissen, wie Ihr Mann aussah. Lassen Sie uns in mein Office gehen. In wenigen Minuten wird die Mordkommission eintreffen.“
Sie verließen die Toilette und schritten den Korridor hinab. Dr. Stiller lieferte eine kurze, präzise Beschreibung des Boxertyps. „Eine Visage wie seine muss doch aufzuspüren sein“, schloss er. „Ich wurde sie unter tausend anderen erkennen!“
Als sie das Office betraten, klingelte das Telefon. June nahm den Anruf entgegen. „Für Dr. Stiller“, sagte sie und streckte dem Arzt den Hörer entgegen. Gleichzeitig betätigte sie den Knopf, der das angeschlossene Bandgerät in Betrieb setzte. „Ich glaube, das ist unser Mann – der Schwarzhaarige!“, flüsterte sie Bount ins Ohr.
„Dr. Stiller“, meldete sich der Arzt.
„Hallo, mein Freund. Ich dachte mir, dass Sie in Reinigers Office zu erreichen sind. Ein schlauer Bursche, dieser Schnüffler. Sie sollten aber nicht so weit gehen, ihn zu unterstützen. Sie haben eine wundervolle Praxis, Doktor. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sie plötzlich von einer Bombe verwüstet würde ...“
„He, wer sind Sie? Was soll dieser Unsinn?“, rief der Arzt erregt in die Sprechmuschel.
„Sie wissen, wer ich bin. Ich bin Ihr Stellvertreter. Das heißt, ich war es. Ihre Instrumententasche habe ich in eine Mülltonne geworfen, zusammen mit dem Kittel. Sie werden den Verlust dieser Dinge verschmerzen können, aber nicht den Ihrer Praxis. Ihre Versicherung mag für Einbruchsschäden geradestehen, aber sehen Sie mal nach, was in dem Kleingedruckten der Police über Terror und Bombenanschläge steht. Das ist für die höhere Gewalt, dafür würden Sie keinen müden Dollar kriegen. Also seien Sie klug und erstatten Sie keine Anzeige. Falls die Polizei eine Beschreibung meines Freundes haben möchte, werfen Sie am besten das Handtuch. Das Gleiche gilt für eventuelle Gegenüberstellungen. Um Reiniger kümmern wir uns schon. Das wär's fürs erste. Seien Sie clever, Doktor. Alles andere wäre beruflicher Selbstmord, und an dem kann Ihnen unmöglich gelegen sein.“
Es klickte in der Leitung, der Teilnehmer hatte aufgelegt. „Dieses Dreckstück“, zerquetschte Dr. Stiller zwischen seinen Zähnen. Er berichtete, was der Gangster gesagt hatte. Bount nickte. „Wir haben uns erlaubt, einen Mitschnitt zu machen.“
„Was soll ich jetzt tun?“
„Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“ Dr. Stiller schob die Unterlippe nach vorn, er sah bekümmert aus. „Wären Sie mir böse, wenn ich kniffe?“, fragte er.
„Keine Spur, Doktor“, sagte Bount. „Leider ist nicht auszuschließen, dass der Anrufer es verdammt ernst meinte. Weder die Polizei noch ich können garantieren, dass Ihre Praxis nach einer Aussage heil bleibt. Verzichten Sie also meinetwegen auf Anzeige und Beschreibung, es genügt ja, dass ich den Burschen kenne.“
„Der Anrufer drohte, dass man sich um Sie kümmern würde ...
„Das kenne ich“, winkte Bount gelassen ab. „Mit solchen Mätzchen lebe ich.“
Im Vorzimmer wurde ein Geräusch laut. June eilte davon. Sie kehrte sofort zurück. „Captain Rogers mit seinen Leuten“, meldete sie.
Bount legte die Beine hoch und hielt die Augen halbgeschlossen. Das leise, monotone Summen der Klimaanlage war von einschläfernder Wirkung, aber Bount war weit davon entfernt, dieser Versuchung zu erliegen.
Toby war mit seinen Leuten vor einer halben Stunde abgezogen, die Tote befand sich längst im Leichenschauhaus, und irgendwann im Laufe des Tages würde die Polizei vermutlich herausgefunden haben, wer sich hinter dem mutmaßlichen Decknamen Mary Miller verbarg.
Eine schöne junge Frau war hergekommen, weil sie keine Lust verspürt hatte, eines gewaltsamen Todes zu sterben, aber ihre letzten Schritte waren überwacht gewesen, und sie hatte den Tod bei sich getragen, ohne es zu wissen.
Ihm gingen weder die Angst in ihren schönen, hellgrünen Augen aus dem Sinn, noch die Art, wie der Glanz in diesen Augen erloschen war, zerstört von einem Gift, vernichtet vom Willen ihrer Mörder.
Bounts Beruf brachte es mit sich, dass er dieses Sterben nur zu gut kannte, aber es war ihm bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, sich damit abzufinden. Er führte dabei einen Kampf gegen Windmühlenflügel, diese Stadt war nicht zu bändigen, schon gar nicht von einem Einzelnen, aber er war entschlossen, nicht aufzugeben. Es war sein Job, dem Verbrechen Paroli zu bieten, er ließ sich dafür bezahlen, man warf ihm sogar vor, dass er mit gepfefferten Honoraren vom Leid der anderen lebe, aber die Wahrheit sah natürlich anders aus. Die meisten seiner Klienten waren begüterte Leute. Sie konnten erstens nicht erwarten, dass er seine Haut für ein paar Dollar zu Markte trug, und zweitens hielt er es durchaus für legitim, seine Officeunkosten, das allgemeine Berufsrisiko und seine Lebensansprüche zu einer Mischkalkulation zu machen, deren Ergebnisse ihn in der Branche als „teuer“, aber auch als Spitzenkraft gelten ließen.
June kam herein, einen Hauch von Röte auf den Wangen. „Eine Klientin“, meldete sie. „Sally Brown.“
„Nochmal, bitte.“
„Sally Brown, Sir.“
Er schwang die Füße vom Schreibtisch auf den Boden. Nachgerade hatte er genug von Namen, denen man anmerkte, dass sie erfunden waren.
Erst Mary Miller, jetzt Sally Brown. Aber vielleicht hieß die Besucherin wirklich so.
Aber seltsam, seine Berufserfahrungen gingen dahin, dass Menschen mit schlichten Namen selten in die Lage kamen, sich eines Privatdetektivs zu bedienen.
„Jung, alt?“, fragte er und zog sich den verrutschten Schlipsknoten gerade.
„Jung“, sagte June. „Nicht älter als Mary Miller.“
„Bitten Sie sie herein.“
Er erhob sich, als die Besucherin sein Office betrat. Bounts Herz machte einen Sprung. Sally Brown war auf ihre Weise von der gleichen, umwerfenden Attraktivität, die Mary Miller ausgezeichnet hatte.
Sally Brown war rothaarig. Rotblond, um genau zu sein. Zu dieser schimmernden, nostalgisch gelockten Haarpracht bildete das warme, leuchtende Blau der großen Augen einen aufregenden Kontrast. Auch an der kurvenreichen, aber schlanken Figur zeigten sich keine Ansatzpunkte zur Kritik.
Bount schritt der Besucherin entgegen. Sally Brown? Das konnte sie einem anderen erzählen. Er streckte ihr die Hand entgegen und hatte auf seltsame Weise das Gefühl, eine Szene zu wiederholen, deren Generalprobe am Vormittag mit Mary Miller erfolgt war.
„Miss Brown?“, fragte er.
„Mrs. Brown“, korrigierte sie.
Er schob ihr den Besucherstuhl zurecht und nahm den Duft des teuren, herbsüßen Parfüms wahr, der die junge Frau umschmeichelte. Bount setzte sich der Klientin gegenüber. „Eine Zigarette?“, fragte er. „Einen Drink?“
Nie zuvor war ihm sein Handeln so eingefahren, so klischeehaft erschienen.
„Wenn ich etwas Wasser haben dürfte ...“
Er blinzelte. Er glaubte, Mary Miller zu hören. Nein, Mary Miller war tot, und zwischen den beiden Besucherinnen bestand keinerlei äußere Ähnlichkeit, allenfalls die des Alters und einer gewissen Blässe.
Bount drückte auf die Sprechtaste. „Ein Glas Wasser, bitte“, sagte er.
June brachte es herein. Sie hatte gelernt, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten, aber Bount entging nicht die Beunruhigung in Junes Augen. Sie fragte sich genau wie er, ob diese Wiederholung mit dem gleichen tragischen Knalleffekt enden mochte wie Mary Millers Besuch.
Aber zum Glück unternahm Sally Brown keinen Versuch, sich etwas ins Glas zu schütten, sie trank das Wasser pur, mit kleinen Schlucken. June ging hinaus.
„Was kann ich für Sie tun, bitte?“, fragte er.
„Es ist eine etwas diffizile Situation“, begann Sally Brown zögernd.
„Darauf bin ich spezialisiert“, sagte er.
„Ich soll sterben“, erklärte Sally Brown. „Ich bin zum Tode verurteilt.“
In Bounts Gesicht zuckte kein Muskel, aber er merkte, wie seine Hände feucht wurden. „Warum?“, fragte er. „Das ist eine lange Geschichte.“
Bount presste die Lippen aufeinander. Wann würde das Geschehen endlich aufhören, ihn mit diesem qualvollen, rätselhaften Synchronlauf herauszufordern?
Was steckte hinter dem Ganzen?
Er musste es herausfinden, und zwar schnell, sonst passierte am Ende noch das, was Mary Miller zugestoßen war.
„Sie heißen nicht Sally“, sagte er, „und schon gar nicht Brown.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich weiß nicht. Sie sind einfach nicht der Sally-Brown-Typ.“
„Danke. Ich nehme an, dass soll ein Kompliment sein. Nun gut, ich habe den Namen erfunden. Schlecht erfunden, wie es scheint. Ich habe meine Gründe. Bestehen Sie darauf, dass ich mich vorstelle?“
„Das muss ich Ihnen überlassen, aber wenn Sie erwarten, dass ich Ihnen helfe oder für Sie arbeite, müssen Sie mir schon Ihr Vertrauen zeigen – es ist die einzige Basis, auf der ein Zusammenwirken möglich ist.“
„Geben Sie mir noch etwas Zeit, bitte“, sagte die Frau. „Ich nenne Ihnen vorerst nur meinen Vornamen. Ich heiße Leslie. Mein Mann weiß nicht, dass ich hier bin. Er darf es auch nicht erfahren.“
„Okay, Leslie. Wer will Sie töten, wer hat Sie zum Tode verurteilt?“
„Correggio.“
„Bill Correggio?“, fragte Bount. Correggio war längst zu einem New Yorker Warenzeichen geworden, zu einem Negativsymbol der Gewalt.
Correggios Syndikat gehörte zu den mächtigsten Organisationen der City. Es reichte mit seiner Einfluss und Operationszone bis nach Jersey hinein.
„Sie waren seine Geliebte?“, fragte Bount.
Leslie hob die makellos geschwungenen Augenbrauen. „Sie haben eine sehr direkte Art, das Gespräch in den Griff zu bekommen“, sagte sie.
„Das dient beiden Seiten.“
„Es war für Sie nicht schwer, diese Frage zu stellen“, sagte Leslie bitter. „Schließlich will ich meinen Mann aus dieser Geschichte heraushalten. Ja, ich war Correggios Geliebte. Aber er wird es bestreiten.“
„Das beantwortet nicht die Frage, warum Sie glauben, dass er Sie töten will.“
„Er hat es bereits zweimal versucht. Nicht er, versteht sich, aber seine Leute. Außerdem macht er keinen Hehl aus seinen Absichten. Er hasst mich.“
„Was ist geschehen?“
„Nichts. Ich habe zufällig mitgekriegt, welchen Coup sie gelandet haben. Eine große Sache. Correggio hat Angst, dass ich singen könnte.“
„Natürlich hat er von Ihnen verlangt, dass Sie den Mund halten. Sie haben es ihm versprochen. Aber das ist ihm nicht sicher genug, stimmt’s?“
„Genau. Er will kein Risiko eingehen, deshalb versucht er mich umzubringen.“
„Warum gehen Sie nicht zur Polizei?“
„Dumme Frage! Ich habe einen guten Mann. Einen reichen Mann, wie ich hinzufügen darf. Wenn ich mich um eine Schutzhaft bemühte oder bereit wäre, mich als Zeugin zur Verfügung zu stellen, müsste Wilbur erfahren, was geschehen ist. Dann würde er bei seiner engstirnig ausgelegten Moral sofort die Scheidung beantragen. Und das will ich vermeiden.“
„Warum haben Sie sich mit Bill Correggio eingelassen?“, fragte Bount.
„Ja, warum? Er sieht gut aus. Er ist auf seine Weise ein berühmter Mann. Wer hat schon den Mut, einer solchen Persönlichkeit einen Korb zu geben? Ich war neugierig. Wohl auch etwas ehemüde ...“
„Sie? So lange können Sie nicht verheiratet sein“, sagte Bount. „Bei Ihrer Jugend.“
„Ehemüdigkeit kann sich schnell einstellen, vor allem dann, wenn der Partner so bieder ist wie Wilbur, mein Mann. Missverstehen Sie mich nicht, bitte. Ich schätze Wilburs Seriosität, seine Zuverlässigkeit, seine Qualitäten als Mensch und Partner, aber irgendwie genügt mir das nicht. Ich erwartete mehr vom Leben und glaubte, es mir nehmen zu dürfen.
Dabei habe ich mir die Finger verbrannt.“
„Sie sagten, dass Correggio bestreiten würde, Sie zu kennen“, meinte Bount. „Welchen Grund hat er, diese Liaison in Abrede zu stellen?“
„Er ist verheiratet, er hat Familie. Seltsamerweise ist er, der skrupellose, brutale Gangster, peinlichst bemüht, sich als makelloser Ehemann aufzuspielen. Er hat vor keinem Menschen Angst, nur vor seiner Frau. Aber es gibt für ihn noch einen zweiten Grund, die Verbindung mit mir zu leugnen. Ich soll sterben. Er will es so. Correggio wünscht selbstverständlich mit diesem geplanten Mord nicht in Verbindung gebracht zu werden.“
„Das leuchtet ein. Aber ich kann nicht gegen Correggio Krieg führen. Ich kann nicht gegen ein ganzes Syndikat kämpfen, selbst wenn ich es wollte. Ich kann nur eines tun. Ich kann – mit Ihrer Hilfe – versuchen. Correggio selbst auszuschalten. Sie haben das Material, das ihn ans Messer liefern würde. Benutzen Sie es!“ „Ohne meine Zeugenaussage wären diese Angaben wertlos“, sagte Leslie. „Aber Sie wissen, dass ich nicht als Zeugin auftreten kann.“ „Was erwarten Sie von mir?“ „Kümmern Sie sich um Correggio. Verunsichern Sie ihn. Lassen Sie ihn merken, dass Bount Reiniger, New Yorks berühmtester Privatdetektiv, an seinen Fersen klebt. Das wird Correggio warnen, es wird ihn vermutlich sogar dazu bringen, die Mordpläne auf Eis zu legen. Mehr verlange ich nicht von Ihnen.“
„Heute Morgen ist in diesem Office eine junge Frau gestorben. Sie wurde vergiftet. Sie war Ihnen ähnlich. Sie stellte sich unter falschem Namen vor, und sie erklärte wörtlich, sterben zu müssen, weil man sie zum Tode verurteilt habe. Sie kam nicht mehr dazu, in Details zu gehen aber ich frage mich, was diese Koinzidenz für eine Bedeutung haben mag.“
„Ich weiß es nicht.“
„Diese junge Frau nannte sich Mary Miller“, sagte Bount. Er beschrieb das Aussehen der Ermordeten und schloss fragend: „Kannten Sie sie?“ „Wie kommen Sie darauf? Ihre Beschreibung passt auf viele Frauen. Nun ja, immerhin auf einige. Können Sie mir kein Foto der Ärmsten zeigen?“
„Sie werden es spätestens morgen in den Zeitungen finden“, meinte Bount. „Ich hoffe schon früher zu erfahren, wer sie war. Es kann nicht schwer sein, sie zu identifizieren.“
„Was hat das mit mir zu tun, mit meinem Problem?“, fragte Leslie.
„Ich sagte es bereits. Es gibt ein paar erschreckende Übereinstimmungen.“
„Zufall“, sagte Leslie. „Es muss so sein! Sonst wäre ich schon tot. Aber vielleicht bin ich das tatsächlich. Was würde geschehen, wenn ich die Flucht nach vorn anträte und Correggio tötete?“
„Schlagen Sie sich das aus dem Kopf“, sagte Bount scharf.
„Es ist Unsinn, ich weiß. Ich komme nicht mehr an ihn heran.“
„Wer ist sein Killer?“
„Ein Mann namens Burkharts. Ich habe ihn gestern vor meinem Haus gesehen. Er trug eine riesige Sonnenbrille und schaute sich scheinbar interessiert die Gärten an – aber ich wette, es ging ihm nur darum, die Gegend auszubaldowern.“
Bount machte sich eine Notiz. Die Besucherin holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche. „Das habe ich Ihnen mitgebracht“, sagte sie, „als kleinen Anreiz. Zweitausend Dollar. Betrachten Sie das Geld als Anzahlung. Sie übernehmen doch den Fall?“
Bount schob den Umschlag mit spitzen Fingern über die Schreibtischplatte zurück. „Noch sind wir nicht soweit“, sagte er. „Erst muss ich ein paar Einzelheiten wissen. Was hat Correggio vor?“
„Er will mich töten.“
„Das meine ich nicht. Welchen Coup sieht er durch Sie gefährdet?“ „Darüber möchte ich nicht sprechen.“
„Sie behaupten, dass Corregio vorhat, Sie aus dem Wege zu räumen, weil er in Ihnen ein Sicherheitsrisiko sieht. Wenn das so ist, müssen Sie tatsächlich die Flucht nach vorn antreten, freilich auf andere Weise, als es Ihnen durch den Kopf geisterte. Legen Sie Correggio das Handwerk. Geben Sie der Polizei konkrete Hinweise auf den geplanten Coup. Ermöglichen Sie Correggios Verhaftung. Man wird Rücksicht auf Ihre besondere Situation nehmen und sich bemühen, Ihren Mann aus dieser Geschichte herauszuhalten.“
„Meinen Sie, daran hätte ich nicht schon selbst gedacht? Dummerweise habe ich keine Hinweise, jedenfalls keine konkreten.“
„Sie müssen doch wissen, was gespielt wird. Correggio hätte sonst keinen Grund, Sie töten lassen zu wollen“, sagte Bount.
„Er vermutet, dass ich mehr weiß, als tatsächlich der Fall ist. Es ist zwecklos, ihm klarmachen zu wollen, dass ihm von mir keine Gefahr droht. Er hält das für eine Schutzbehauptung.“
„Hören Sie auf, mir und sich selbst etwas vorzumachen“, bat Bount. „Legen Sie endlich die Karten auf den Tisch. Danach werde ich entscheiden, ob ich für Sie arbeiten kann. Wie heißen Sie wirklich?“





