Mörder sind keine Engel: 7 Strand Krimis

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„Leslie Harper“, sagte die Besucherin. „Haben Sie Angst vor Correggio?“ „Jeder hat Angst vor ihm“, sagte Bount gelassen.
„Auch Sie?“
„Wenn ich gegen ihn Front mache, riskiere ich mein Leben. Dafür bezahlen Sie mich. Machen Sie sich keine Gedanken über meine Gefühle und Reaktionen. Ich bin es gewohnt, mit der Angst zu leben. Sie wird mich nicht dazu bringen, vor Correggio zu kneifen.“
„Das klingt gut. Correggio will Andreous ein Bein stellen“, sagte Leslie Harper.
„Wer ist Andreous?“
„Viertgrößter Reeder der Weltschifffahrt. Ein Mann, der erst vor zwei Jahren die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben hat und bestrebt ist, im Schatten seiner größeren und populäreren Konkurrenten zu bleiben. Andreous scheut die Öffentlichkeit. Publizität ist ihm verhasst, einfach ein Gräuel. Er will nur eines: in Ruhe arbeiten und seinen Einfluss erweitern. Soviel mir bekannt ist, hat er gute Aussichten, eines Tages zur Nummer eins seiner Branche aufzusteigen.“
„Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber meines Wissens hat die weltweite Rezession die großen Reeder am härtesten betroffen“, sagte Bount. „Bei denen ist im Augenblick nicht viel zu holen.“
„Männer wie Andreous haben ihr Schäfchen ins Trockene gebracht“, meinte Leslie Harper. „Die sind immer noch millionenschwer.“
„Fassen wir zusammen. Correggio hat vor, sich mit Andreous anzulegen. Sie wissen darüber keine Einzelheiten, aber Correggio befürchtet, dass Sie informiert sind und den geplanten Coup zum Platzen bringen könnten. Korrekt?“
„Richtig“, nickte Leslie Harper. „Bill ist fest entschlossen, mich aus dem Verkehr zu ziehen, noch ehe ich plaudern kann.“
„Haben Sie versucht, mit Andreous Kontakt aufzunehmen?“, fragte Bount.
„Ich habe selbstverständlich erwogen, ihn zu warnen, dann habe ich den Gedanken wieder aufgegeben. Was sollte ich ihm denn sagen? Ich weiß nichts! Ich weiß nur, dass Correggio mit dem Reeder Schlitten fahren will.“ Sie stieß hörbar die Luft aus. „Ich verlange von Ihnen doch nichts Unmögliches! Sie sollen Correggio einheizen und ihm klarmachen, dass es selbstmörderisch von ihm wäre, mich zu attackieren. Er soll und muss wissen, dass New Yorks bester Mann auf meiner Seite steht.“
„Ich kann Sie nicht Tag und Nacht beschatten“, machte Bount der Besucherin klar.
„Es gibt für mich keinen totalen Schutz, das weiß ich selbst. Ich will nur, dass Sie Ihr Bestes für mich tun, das ist alles.“
„Correggio soll demnach erfahren, dass ich für Sie arbeite?“
„Er wird bereits wissen, dass ich bei Ihnen bin“, sagte Leslie Harper.
„Er lässt Sie beobachten?“
„Ich fühle mich jedenfalls beobachtet.“
Bount musterte den Briefumschlag, der das Geld enthielt. Zweitausend Bucks! Die Summe reizte ihn, aber mehr noch reizte ihn die junge Frau, die ihm das Geld offerierte. Bount hatte das Gefühl, dass Leslie Harper nicht einmal die halbe Wahrheit sagte, ja, er hielt es sogar für möglich, dass sie log.
Sie bot ihm einen Vorschuss von zweitausend Bucks an, um diese Lüge glaubhaft zu machen.
Bount wünschte herauszufinden, warum das so war.
Er sah immer noch Zusammenhänge zwischen dem Besuch von Mary Miller und dieser Leslie Harper, die sich zunächst als Sally Brown vorgestellt hatte, deshalb sagte er: „Okay, ich nehme den Auftrag an. Wie und wo kann ich Sie erreichen?“
„Nur vormittags, da ist Wilbur im Büro.“ Sie entnahm ihrer Handtasche eine Visitenkarte. „Hier ist meine Adresse.“
Bount warf einen Blick auf das Kärtchen. Die Adresse war exzellent. Battery Park 16.
„Darf ich erfahren, welchen Beruf Ihr Mann ausübt?“, fragte er.
„Er ist zweiter Direktor eines Multikonzerns“, sagte Leslie Harper und stand auf. „Sein Jahreseinkommen liegt bei zwei Millionen Dollar. Ich liebe nicht ihn, sondern sein Geld. Aber ich würde ihn niemals umbringen, um an dieses Geld heranzukommen ...“
„Warum sagen Sie das?“, wunderte sich Bount.
Leslie Harper lächelte dünn. „Weil ich genau weiß, was im Kopf eines Privatdetektives vorgeht. Sie fragen sich, ob mein Besuch nicht ein Bluff ist, irgendein Ablenkungsmanöver, hinter dem ganz andere Motive stehen. Ich kann Sie beruhigen. Ich führe nichts gegen Wilbur im Schilde. Ich will ihn behalten, um jeden Preis.“
Als Bount seine Besucherin zur Tür gebracht hatte, sagte er zu June: „Folgen Sie der Frau. Finden Sie heraus, ob sich noch andere für sie interessieren und stellen Sie fest, wer das ist. Die junge Frau heißt Leslie Harper und behauptet, auf Correggios Abschussliste zu stehen.“
June nickte, zog sich eine weiße Baskenmütze über den Kopf und eilte aus dem Office. Für Fragen war keine Zeit.
Bount tätigte ein paar Anrufe, die ihm lediglich die Bedeutung des Reeders Andreous und die Prominenz des Ölfirmendirektors Wilbur Harper bestätigten. Obwohl es Bounts Aufgabe war, Leslie Harper vorbehaltlos zu unterstützen, hielt er es für unerlässlich, erst einmal die Glaubwürdigkeit seiner Klienten zu testen.
Er fuhr mit seinem Mercedes 450 SEL zur Center Street, wo er sich im Police Center von Captain Rogers ein Foto der ermordeten Mary Miller aushändigen ließ und gleichzeitig erfuhr, dass die Tote noch nicht identifiziert werden konnte.
„Ihre Prints sind nicht registriert“, sagte der Captain. „Wir wissen nur eines: Sie muss sehr wohlhabend gewesen sein, denn was sie auf dem Leibe trug, kriegt man nicht im Kaufhaus. Na. und die Hände! Beste Manikürarbeit, die haben niemals hart zupacken müssen.“
„Damit kann ich nichts beginnen, eine Beschreibung wie diese passt unter Umständen auf jedes Call Girl“, erklärte Bount.
Er fuhr zum Battery Park am Südzipfel Manhattans und klingelte dort an der Tür des Patrizierhauses 12. dessen auf Hochglanz poliertes Namensschild einen Besitzer mit drei Vornamen offerierte: Ashley Cedric F. Barkley.
Ein Butler mit tiefgefrorener Miene führte ihn in einen kleinen, mit Möbeln der Regency-Epoche ausgestatteten Empfangsraum. Kurz darauf rauschte eine stattliche, weißhaarige Dame herein: Mrs. Barkley.
Sie war mit einem halben Kilogramm Brillanten behängt, ohne deshalb von ihrer schlaffen, runzeligen Haut und ihrem Alter ablenken zu können. Bount stellte sich vor, zeigte das Bild der Ermordeten und behauptete: „Es gibt Hinweise, denen zufolge angenommen werden darf, dass diese Frau in der Gegend des Battery Parks verkehrte. Ich wüsste gern von Ihnen, ob ...“
Mrs. Barkley unterbrach ihn.
„Aber das ist doch Jessica Thorpe!“, rief sie aus.
„Sie wohnt in der Nähe?“
„Ja, in der 9, glaube ich. Oder ist es die Sieben? Egal, in einem der beiden Häuser jedenfalls. Was ist mit ihr? Weshalb hält sie auf dem Foto die Augen geschlossen?“
„Sie ist tot, ermordet. Was können Sie mir über Jessica Thorpe sagen?“, erkundigte sich Bount. Er hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Er erinnerte sich nicht, jemals so rasch fündig geworden zu sein.
Mrs. Barkley sank auf einen Stuhl. „Ermordet! Mein Gott, wie schrecklich! Wie konnte das bloß passieren? Und wie äußert sich Jessicas Mann dazu? Ich muss sofort Ashley anrufen. Er hat Jessica geschätzt, er fand sie hochgebildet, ganz reizend, unerhört charmant ...“
„Was sind die Thorpes für Leute?“, fragte Bount.
Mrs. Barkley atmete schnaufend. Sie war so erregt, dass sie sitzen bleiben musste. „Leute? Ich muss Sie bitten, etwas respektvoller zu sprechen. Die Thorpes gehören zur Society. Zu einer Society im guten Sinne, meine ich damit, zu den meinungsbildenden Köpfen einer moralisch durchaus intakten Oberschicht, zu ...“
„Schon gut“, unterbrach Bount die Lobeshymne der Glitzerdame. „Wovon leben die Thorpes?“
„James Thorpe ist Direktor und Mitinhaber des Bankhauses Thorpe, Thorpe & Friggley.“
„Ein bekanntes Geldinstitut“, sagte Bount kopfnickend und fragte sich, was die junge, hochattraktive Frau eines so bedeutsamen, vermögenden Mannes wohl in die Lage gebracht haben mochte, sich unter dem Decknamen Mary Miller den Nachstellungen skrupelloser Mörder entziehen zu müssen – ein Versuch, der am Ende gescheitert war, ausgerechnet in seinem Office, was, wie Bount befürchtete, seine Kollegen zu ein paar hämischen und wenig imagefördernden Bemerkungen über die Effizienz und Wirksamkeit seiner Tätigkeit inspirieren würde.
„Mit wem war Jessica Thorpe befreundet?“, fragte er.
„Jessica? Sie kannte hunderte von Leuten, natürlich nur bedeutsame ...“
„Versteht sich“, sagte Bount ungeduldig. „Wen kannte sie aus dieser Straße?“
„Nun, junger Mann, ich setze voraus, dass Sie Battery Park nicht als gewöhnliche Straße einstufen. Battery Park ist Geschichte. Das gilt auch für die meisten Familien, die hier leben. Einige wohnen schon seit Generationen hier, andere haben sich eingekauft – aber alle sind durch das Markenzeichen Battery Park miteinander verbunden. Nennen Sie das meinetwegen Snobismus, aber es ist wunderbar, in dieser oberflächlichen, schnelllebigen Zeit noch Symbole für Solidität und Moral zu finden. Battery Park ist wie eine große Familie. Hier kennt jeder jeden – aber daraus zu schließen, dass jeder mit jedem klatscht, wäre ebenso dumm wie falsch. Jessica lud ein und wurde eingeladen, aber das gilt für die meisten Familien dieser Straße.“
„Wie eng war Jessica Thorpe mit Leslie Harper befreundet?“, fragte Bount.
Mrs. Barkley hob die sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt miteinander befreundet waren. Natürlich kannten sie sich, und selbstverständlich haben sie sich wiederholt getroffen, auf Gesellschaften und Partys ...“
„Wie gut kennen Sie Leslie Harper?“
„Nicht besser oder schlechter als die anderen Frauen der Straße ...“
„Wenn Sie ersucht würden, Leslie Harper zu beurteilen – wie würden Sie sie einstufen?“
„Wie Jessica Thorpe. Jung, attraktiv, modebewusst und gebildet, eine junge Frau aus bestem Haus“, meinte Mrs. Barkley.
Bount bedankte sich und ging.
Die Thorpes wohnten in einem Haus, das dem der Barkleys verblüffend ähnlichsah, aber das gehörte zur geschichtsträchtigen Fassade des Battery Parks, hier manifestierte sich alteingesessener Reichtum auf kleinstem Raum, hier verband sich Museales mit dem Anspruch, zur Creme der Gesellschaft gezählt zu werden. Die meisten Hausbesitzer benutzten ihre exklusive Bleibe nur als Stadtwohnung, als Aushängeschild und Visitenkarte. Fast alle besaßen weit größere Häuser in vornehmen Suburbs.
Noch während Bount damit beschäftigt war, die schmale, imponierende Fassade zu betrachten, öffnete sich die Tür und ein Mann trat über die Schwelle.
Bount wandte sich rasch ab. Er hatte den Mann auf Anhieb erkannt.
Es war der Gangster, der sich als Dr. Stillers Assistent ausgegeben hatte und mit Jessica Thorpes Handtascheninhalt verschwunden war.



3

Der Gangster mit dem hübschen, schmalen Gesicht und den dunklen Augen ging leise pfeifend an Bount vorbei. Er schenkte Bount keinen Blick. Das war nicht überraschend. Battery Park wimmelte von neugierigen Besuchern, und Leute, die alte Hausfassaden bewunderten, gehörten hier gleichsam zum Inventar.
Bount folgte dem Gangster in sicherem Abstand. Es schien, als würden sich die glücklichen Zufälle dieser Stunde addieren. Der Gangster kletterte in einen 74er Plymouth, der nur fünfzig Meter vor Bounts Mercedes parkte. Bount hatte keine Mühe, die Beschattung seines Gegners mit dem Wagen fortzusetzen.
Die Fahrt ging stadtaufwärts bis zur 34ten Straße. Dort passierte es.
Plötzlich. Völlig unerwartet und mit tödlicher Präzision.
Der Plymouth explodierte.
Er löste sich auf in einen Feuerball, der Rauch, Metall und ein ohrenbetäubendes Krachen ausspuckte. Zerberstende Scheiben, aufeinanderprallende Wagen, schreiende Menschen und jähe Panik lieferten das Echo. Es war ein Stück Inferno im Verkehrsgewühl der großen, von unablässigen Qualen heimgesuchten Stadt.
In Sekundenschnelle war von dem Plymouth nur noch ein brennendes, qualmendes Kernstück vorhanden. Sein Fahrer war mitsamt dem Karosserieaufbau verschwunden, zerfetzt. zerbombt, von der gewaltigen Explosion buchstäblich ausgelöscht.
Auf dem Gehsteig wälzten sich Verletzte in ihrem Blut. Sie machten damit alles nur noch schlimmer, denn unter ihnen glänzten die scharfen, gezackten Scherben der Glassplitter, die aus zersprungenen Fenstern auf die Straße geregnet waren.
Ein Cop tauchte auf. Er rannte zur Fahrbahnmitte, stoppte dort und blies mit hochrotem Kopf und geblähten Backen in seine Trillerpfeife. Bount fand, dass der Cop auf erschreckende Weise den Eindruck machte, die Situation nicht meistern zu können.
Bount sprang aus dem Wagen.
Zwischen seinem silbergrauen Mercedes und dem brennenden Plymouth befand sich ein Pulk von fünf Wagen, drei davon hatten sich hoffnungslos ineinander verkeilt. Bount hatte zwar die Druckwelle der Explosion verspürt, aber weder er noch sein 450 SEL hatten auch nur eine Schramme abbekommen.
Obwohl es gut fünfhundert Augen und Ohrenzeugen der Katastrophe geben mochte, hastete Bount in einen Drugstore und verständigte telefonisch Polizei und Notarztwagen. Erfahrungsgemäß verließ sich in derlei Situationen einer auf den anderen, und die Neugierde der Zuschauer war fast immer größer als ihr Bedürfnis, sich durch einen Anruf um prickelndes Erleben zu bringen.
Bount rannte zurück zur Straße. Dort hatte die erste Erstarrung einer hektischen Aktivität Platz gemacht. Man kümmerte sich um die Verletzten, und einige Autofahrer versuchten mit ihren Handlöschgeräten, dem brennenden Wrack zu Leibe zu rücken.
Bount sah, dass es für ihn nichts mehr zu tun gab. Er machte kehrt, betrat erneut den Drugstore und rief Captain Rogers an. Bount berichtete, was er erlebt hatte, nannte die Nummer des explodierten Wagens und erfuhr, dass der Plymouth auf einen Mann namens Jeremy Winter zugelassen worden und nicht als gestohlen gemeldet worden war.
Bount notierte sich die Adresse des Mannes, bedankte sich bei dem Captain und versuchte dann, Jeremy Winter telefonisch zu erreichen. Das Freizeichen tutete ihm monoton entgegen. Winter meldete sich nicht.
Bount fragte sich, ob der Tote Jeremy Winter sein mochte. Er bezweifelte es. Gangster pflegen selbst bei kleineren Coups nicht mit dem eigenen Wagen zu fahren, und hier stand immerhin ein Mord zur Debatte.
Bount verließ den Drugstore. Inzwischen waren mehrere Polizei- und Ambulanzwagen eingetroffen. Die Cops sperrten die Unfallstelle ab und bemühten sich gleichzeitig darum, den Verkehrsstau aufzulösen.
Bount stieg in seinen Mercedes und brauchte fast eine halbe Stunde, um sich aus dem Stau zu lösen. Er fuhr zum Bankhaus Thorpe, Thorpe & Friggley und fand einen Parkplatz in dem für Kunden reservierten Teil der Tiefgarage. Kurz darauf saß er James Thorpe gegenüber, einem drahtig wirkenden Endvierziger mit eisblauen Augen und dunkelblauem Anzug, dessen Äußeres eine gesunde Mischung von Intellekt und Sportlichkeit signalisierte.
Bount legte dem Direktor schweigend das Foto der Toten vor. James Thorpe runzelte die Augenbrauen. „Das ist Jessica“, sagte er. „Was ist mit dem Bild?“
Bount berichtete, was geschehen war. Er beobachtete sein Gegenüber dabei scharf. James Thorpes Backenknochen traten deutlich hervor, es schien, als wollten sie die Haut sprengen, ansonsten gab es keinerlei Anzeichen für Trauer, Schock oder innere Erregung. Kein Zweifel: James Thorpe war ein Mann mit großer Selbstdisziplin, der sich fabelhaft in der Gewalt hatte.
„Ich verstehe das alles nicht“, sagte er.
„Vor wem war sie auf der Flucht, wer hat sie vergiftet – und warum?“, fragte Bount.
Die eiskalten Augen hielten Bounts Blick fest. „Finden Sie es für mich heraus“, sagte Thorpe. „Geld spielt keine Rolle. Ich muss wissen, was passiert ist.“
„Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen und gesprochen?“, fragte Bount.
„Beim Frühstück. Sie war wie sonst. Nein, warten Sie. Sie war eher nervös, aber sie war bemüht, diese Nervosität zu überspielen. Ich stellte keine Fragen. Ich war damit beschäftigt, den Wirtschaftsteil der Zeitung zu lesen. Ich bin ein Morgenmuffel, wissen Sie.“
„Haben Sie diese Nervosität schon früher bemerkt – und wenn ja, wann zum ersten Male?“
„Ich will ganz ehrlich sein. Jessica und ich führten eine eher unterkühlte Ehe. Es gab niemals Streit, aber es gab auch keine himmelhochjauchzende Liebe, allenfalls eine nüchterne Harmonie. Jessica war schön, intelligent und charmant, es war ein Vergnügen, sie auf Gesellschaften zu erleben, sie wusste um ihre Rahmenfunktion und verstand es großartig, zu repräsentieren. Warum ich Ihnen das erzähle? Sie haben es gewiss schon erraten. Obwohl wir wie ein perfektes Ehepaar wirkten und auftraten, ging jeder seine eigenen Wege. Es gab deshalb keinerlei Gegnerschaft, nicht einmal eine Absprache – es war eine fast selbstverständliche Entwicklung, die keinem zu schaden schien.“
„Ich muss jetzt sehr direkte, persönliche Fragen stellen“, sagte Bount. „Hatte Ihre Frau einen Freund, oder gar mehrere?“
„Es mag seltsam klingen – aber ich bezweifle es“, meinte Thorpe. „Ich glaube, Jessica neigte zur Frigidität. Sie brauchte Männer nur, um sich in Szene zu setzen.“
„Wie gut war Jessica mit Leslie Harper befreundet?“, wollte Bount wissen.
„Oberflächlich. Warum?“
„Darauf komme ich später zurück“, wich Bount aus. Leslie Harper war seine Klientin. Er war nicht befugt, über sie zu sprechen. Bount fragte: „Wer hat den direkten Nutzen vom Tod Ihrer Frau?“
„Jessica besitzt eigenes Vermögen. Ich erbe es“, sagte Thorpe. „Also bin ich der Nutznießer. Ich hoffe, Sie wittern dahinter kein Tatmotiv. Meine Bankeinlage beträgt sieben Millionen Dollar, und mein Privatvermögen bewegt sich in ähnlichen Dimensionen. Ich verdiene glänzend und befinde mich nicht in finanziellen Schwierigkeiten. Außerdem“, fügte er mit mattem Lächeln hinzu, „bin ich knallhart im Verhandeln, aber stockkonservativ. Ich habe Jessica gemocht, ich bin zutiefst erschüttert über ihren Tod – auch wenn es für Sie nicht so aussehen mag.“
„Der Gangster, von dem ich Ihnen berichtete, hat offenbar unter anderem die Hausschlüssel aus der Tasche Ihrer Frau entwendet. Er ist damit in Ihr Haus eingedrungen. Beschäftigen Sie keine Dienstboten?“
„Doch, einen Butler und ein Mädchen. Der Butler wohnt im Haus, das Mädchen kommt stundenweise zu uns.“
„Rufen Sie den Butler an, bitte, schnell!“
„Er meldet sich nicht“, stellte Thorpe stirnrunzelnd fest.
„Kommen Sie“, sagte Bount.
Wenige Minuten später waren sie in Bounts Wagen zum Battery Park unterwegs. „Halten Sie es für möglich, dass Ihre Frau in schlechte Gesellschaft geraten ist?“, wollte Bount unterwegs wissen.
„Wir sahen uns morgens und abends“, sagte Thorpe. „Dazwischen lagen acht bis zehn Stunden, wo jeder das erledigte, was er für wichtig hielt. Bei mir war es die Arbeit, bei Jessica waren es die gesellschaftsorientierten Verrichtungen einer jungen Frau, die keine Geldsorgen kennt. Sie organisierte Bazare, konferierte mit der Schneiderin, besuchte kulturelle Veranstaltungen – und so weiter, und so weiter. Ob sie in schlechte Gesellschaft geraten ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich halte es aber für wenig wahrscheinlieh. Jessica war in Stilfragen sehr eigen. Sie schätzte Klasse, sie bestand darauf. Wo, frage ich Sie, findet man in schlechter Gesellschaft Stil, wo Klasse? Nein, ich bin sicher, dass sie nichts dergleichen getan hat, schlechte Gesellschaft hätte nur ihren Abscheu wecken können.“
„Hat man Sie jemals erpresst?“
„Gut ein Dutzend Male. Es hing niemals mit Jessica zusammen und konnte in jedem Fall vom FBI zu Ungunsten der Erpresser erledigt werden.“
Als sie das Haus am Battery Park erreichten, fanden Sie in seinem Inneren den Butler vor, gefesselt und geknebelt. Nachdem sich der Butler einigermaßen erholt hatte, berichtete er von dem Fremden, dem er sich plötzlich im Hause gegenübergesehen hatte.
„Es war ein recht gutaussehender, tadellos gekleideter Mann, nicht älter als 30“, fuhr der Butler fort. „Als ich ihn zur Rede stellen wollte, richtete er eine Waffe auf mich und befahl mir, mich flach auf den Boden zu legen. Er fesselte und knebelte mich, danach hörte ich, wie er in den oberen Räumen herumstöberte. Er blieb etwa zwanzig Minuten, danach ging er.“
„Was hat er mitgenommen?“, wollte Thorpe wissen.
„Bedaure, Sir – das muss erst noch festgestellt werden“, erwiderte der Butler. „Ich kann nur sagen, dass er die meiste Zeit im Zimmer von Madame verbrachte. Ich habe Grund zu der Befürchtung, dass er es auf den Schmuck abgesehen hatte.“
Thorpe schüttelte den Kopf. „Unsinn. Die großen Stücke liegen im Banksafe. Das andere ist keine fünftausend Dollar wert.“
Sie gingen nach oben. Jessicas in Elfenbein und Mattgrün gehaltenes Zimmer war gründlich durchwühlt worden, der Inhalt von Schränken und Schubladen lag auf dem Boden. Thorpe sah sich ratlos in dem Durcheinander um. „Was hat der Kerl bloß gesucht?“, fragte er.
Bount ging zum Telefon. Er wählte die Nummer seines Offices. June meldete sich nicht. Sie war also noch immer unterwegs, um Leslie Harper zu beschatten.
„Sie übernehmen doch den Fall?“, erkundigte sich James Thorpe. „Geld spielt dabei keine Rolle!“
„Das“, sagte Bount, „höre ich gern. Ja, ich übernehme den Fall.“



4

Bruce Copper zögerte nur einen Augenblick, dann presste er seinen Finger auf den Klingelknopf und lauschte mit schräggehaltenem Kopf den Schritten, die hinter der Mansardentür laut wurden.
Die Tür öffnete sich. In ihrem Rahmen zeigte sich, hemdsärmelig und verschwitzt, ein bulliger Boxertyp. „Was gibt's?“, fragte er.
„Du bist doch Alec Hamish?“, fragte Copper.
„Rundherum und bis auf die Knochen“, erwiderte Hamish. „Willst du mir was verkaufen?“
„Sicher“, nickte Copper gelassen. „Den Tod.“
„Du bist ein Spaßvogel“, höhnte Hamish, dessen Augen sich jäh verengten. „Mich legt keiner um.“
„Unverwundbar, was?“, höhnte Copper.
„Das behaupte ich nicht.“
„Wir kommen einander näher, Alec. Ich bin dein Killer. Wie findest du das?“
„Mich legt keiner um“, sagte Hamish. Seme Muskeln spannten sich, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Dann wiederholte er zum dritten Male: „Mich legt keiner um.“
„Was macht dich so sicher?“
„Das ist leicht erklärt. Ich bin ein kleiner Ganove, ich kann und weiß nichts. Es ist für niemand von Bedeutung, ob ich lebe oder sterbe.“





