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„Ach, nicht sehr gemütlich. Mein Onkel ist Gerber und redet von nichts anderem. Vom Geld machen und so.“
„Ich dachte, Menschen lieben Gold.“
Axel verharrte kurz und suchte offensichtlich nach Worten. Dann erklärte er: „Nicht alle. Ruhe und Frieden sind auch sehr wichtig.“
„Familie, möchte ich meinen.“ Sie lächelte kokett ihm zu. „Es muss schön sein, eine Familie zu haben. Aber es gibt bestimmt auch interessantere Themen wie Familie und Geld.“
„Zum Beispiel?“ fragte er lauernd und blickte sich um. „Wo sind wir?“
Sie standen beide am Scheideweg einer kleinen Kreuzung.
Claudile hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und blickte vielsagend zu einem Schild, das an der Mauer eines Hauses genagelt war.
Tuchmüllenstraße.
Axel starrte sie an und sagte kein Wort.
„Wie tragisch. Es muss schlimm gewesen. Eine große Familie stirbt in den Flammen. Vor einem Jahr.“ Claudile schaute nach links und rechts und witterte kurz. Sie waren allein. Kein Zweifel. „Seltsam, dass ein Stadtwächter diese Straße nicht kennt“, bemerkte sie höflich. „Wir könnten auch über Frisuren reden. Oder Kleidung. Ver…kleidung.“
Axel Gesicht gefror zu einer starren Maske. Langsam erschlafften seine Schultern.
„Mich stört es nicht. Du beweist Einfallsreichtum.“
„Das habt Ihr extra gemacht!“
„Ja, das wollte ich geklärt wissen“, meinte sie jovial und trat näher heran. „Es liegt am Geruch, musst du wissen. Den Baron Mattes Lyren konntest du täuschen, wahrscheinlich weil er die meiste Zeit betrunken und seine feine Nase schon fast taub war von dem billigen Fusel.“
Axel errötete und nahm seine Mütze ab. „Alexandra Häberlein, Euch zu Diensten.“
Hauptmann Gaver starrte auf die Menge vor sich im Saal. Auf der Liste der Dinge, die er besonders gut konnte, kam Starren an zweiter Stelle, direkt nach reglosem Hocken. Er brachte immer die besten Leistungen, wenn es darum ging, nichts zu tun. Einfach wie erstarrt dasitzen – das war seine größte Stärke. Er war auf eine besondere Art Dumm, die eine gewisse Faulheit voraussetzte. Zu seinem Glück gab es unter den Leuten keine nennenswerten Verbrechen.
Als die Menge sich nach und nach lichtete, und die meisten mit Säcken voller Geld verschwanden, trat er vor und versuchte sein Glück.
Francesco sah ihn fragend an.
Gaver nickte. Ganz in seinem Universum vertieft.
„Du musst schon etwas sagen, wenn du etwas willst“, knurrte Francesco leise.
„Ich komme von der Stadtwache, Herr.“ Er bearbeitete beim Sprechen eine Lücke im Zahn, hinter der sich etwas vom Mittagessen verkrümelt hatte. Er wartete geduldig, bis die Zunge das Stück loseisen konnte und nickte glücklich.
„Und?“
Gavers Handfläche tauchte auf. Er hatte wohlweislich etwas aufgeschrieben. „Nja, Ich bin Gaver“, las er tapfer ab. „Wir benötigen ein neues Sitzkissen.“
Francesco starrte ihn an.
„Was-?“
„Die Sitzkissen sind ganz durchgescheuert, also besser zwei oder drei. Lavendel finde ich schön. Aber du solltest wissen, Herr, nja, dass wir nicht nur arbeiten!“
„Ach?“
„Wir brauchen eine neue Pfanne, Herr.“ Er schniefte leise. Etwas hatte sich in seinem linken Nasenloch gebildet. Starr vor Staunen beobachtete Francesco wie sich sein Finger hob. „Und der Winter naht, Herr. Ein neuer Ofen wäre nicht schlecht, nja. Etwas Kohle dazu, eine neue Pfanne und ich mache die besten Speckkartoffeln, die du dir vorstellen kannst. Ist kein Witz, Herr.“
„Bitte benutz ein Taschentuch. Willst du Geld, Mann? Schulden wir euch Gehalt? Wenn ja, wieviel?“
Gaver erstarrte, blickte Francesco aus großen Augen an und hob langsam die rechte Hand, um davon abzulesen. „Wir… haben… Gehalt von Juli bis August… und das kann ich nicht lesen!“
„Gibt es eine Mama oder einen Papa, mit dem ich reden dürfte?“ half Francesco aus und spürte, wie sich sein Nacken verspannte. „Jetzt verstehe ich, warum du als Letzter kommst.“
Das letzte Haus in der Tuchmüllenstraße war ein einsames, bis auf die Grundfesten niedergebranntes Gemäuer. Die Balken waren schief und krumm, aus der Asche sprossen vereinzelt Setzlinge. Nach über einem Jahr hatte niemand daran gedacht eine Neues zu bauen. Zum Glück der Stadt war es an der Mauer gelegen, so dass die Flammen kaum Chancen hatten, überzugreifen. Brände in Städten konnten alles zerstören – das war kein Geheimnis.
Alexandra Häberlein setzte sich schweratmend auf einen Stein und starrte in die erkaltete Asche. Mehr und mehr sackte sie in sich zusammen, bis sie ihr Gesicht verbarg. Lautes Schluchzen ließ Claudile dazu herab, sich zu ihr zu setzen. „Er war so gemein“, schniefte sie leise und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Meine Brüder und meine Mutter! Wir haben versucht ihn festzuhalten, doch er war zu stark. Er hatte schon viel getrunken und dann…“
Claudile stöhnte leise mitfühlend und tätschelte ihr die Schulter. „Es war bestimmt anstrengend, die ganze Zeit einen Mann zu spielen, was?“
„Ihr habt ja keine Ahnung“, brachte sie hervor. „Die Idee hatte mein Onkel. Wir sahen keinen anderen Ausweg. Also nahm ich die Schere und schnitt mir alles ab. Mit einem Laken band ich mir das Oberteil fest und versteckte mich für einige Wochen bei den Holzfällern im Ort. Dort nahm man mich auf und ich lernte zu gehen und zu sprechen wie sie. Ich wusste nicht weiter! Immerzu diese Maskerade.“
Claudile nickte mitfühlend. „Er hat dich nie gefunden. Du bist jetzt frei.“
Sie blickte mit ihrem verquollenem Gesicht auf: „Frei? Sagtest du frei!? Ich bin schon so lange ein Mann, dass ich nicht mehr weiß, was ich eigentlich bin!“
Wer wüsste das besser als ein Werwolf? Gefangen in einem Körper, der weder zur einen noch zur anderen Seite gehörte. „Als würde man zwischen einem Spiegel leben. Die eine Seite verlangt ihr Recht, sowie die andere Seite.“
Beide blickten traurig in die Reste des Hauses, das einst so voller Leben war. „Wir hatten immer genug zu essen, bis der Baron kam. Er lief durch die Straßen und setzte sein Recht durch wie ein…wie ein…,“
„…wie ein Werwolf“, half Claudile aus und nickte beklemmend. „Das wolltest du doch sagen, oder?“
„Baron. Wie ein Baron. Verzeihung“, schniefte sie leise.
„Nein, du hast recht“, gab sie bekümmert zu. „Warum war er hinter dir her? Komm, mir kannst du es sagen“, versuchte sie zu trösten und nahm sie in den Arm. „So ist es gut. Ja, jetzt wird alles gut.“
Alexandra wandte sie um und sah sie ängstlich an. „Ihr dürft es niemanden sagen, Herrin. Bitte, ich beschwöre euch!“
Sie stutzte, aber nickte schließlich. „Gut, verstanden.“
Alexandra nickte zaghaft und schluckte trocken. „Jungfrau.“
„Mmh.“ Claudile wusste, dass sich manche Männer von den Unberührten angezogen fühlte. Offenbar galt das auch für männliche Werwölfe. „Verstehe. Hast du...?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Gut, äh… ist besser so.“ Sie hustete trocken. „Sind deine Eltern… standesgemäß beigesetzt worden“, fragte sie leise und strich ihr übers Haar.
„Darum hat sich Pater Brain gekümmert“, antwortete sie leise. „Er ist ein guter Mann, Herrin. Er schimpfte und tobte, aber wenn er mich sah vergoss er immer Tränen. Seine Grabesrede war gut. Ich mag ihn sehr.“
Mich mag er nicht, dachte Claudile böse. „Könntest du ein gutes Wort für mich einlegen?“
Alexandra lächelte und kuschelte sich näher heran.
So saßen sie eine Zeitlang beisammen.
Die Glückliche Bettina hatte alle Pflichten wie üblich erfüllt, ihre Kinder zu Bett gebracht und einen Teller mit Gewürzgurken, einigen Scheiben Käse und etwas Trauben gemacht. Zufrieden mit sich und der Welt gelangte sie zum Saal, um den netten Mann eine kleine Stärkung zu bringen. Sie erblickte Gaver und Francesco. Sie ahnte gleich, dass das nicht gut ausging.
„Hütet euch vor den Hexen! Vertraut ihnen nicht. Weist sie an euren Türen ab. Sie sind nichts als ein Zufall der Kräfte, ungeschrieben und unsauber, das blasse, neidische Echo lebender, denkender Geschöpfe. In ihren Herzen ist ein Stein. Sie bauen nicht an, sie gründen nicht, sie pflanzen nicht und ernten nicht. Ihre Entstehung war ein Akt des Stehlens, und sie stehlen von Menschen und entehren die Natur. Der einzige Zweck ihres erbärmlichen Lebens ist ihr Ende. Es ist kein Mord, eine Hexe zu töten. Nja, schlimmstenfalls ein Akt der Nächstenliebe!“ So sprach Gaver voller Inbrunst, aber ohne Betonung so dass sich die einstudierte Rede wie ein Singsang eines dummen Kindes anhörte.
Einige wenige Städter hatten sich in Gruppen zusammengefunden und flüsterten hinter vorgehaltener Hand, während Francesco noch immer mit dem Federkiel in der Hand an seinem Platz saß und ihn anstarrte. Langsam ging ihm die Geduld aus.
„Das habe ich in der Sonntagsschule gelernt“, half Gaver nach und nickte befreiend. „Man kann die Worte austauschen, nja. Statt Hexe sagt man Werwolf, Zigeuner, Diebe, …“
„Ich frage dich zum dritten Mal“, zischte er mühsam beherrscht, „ob wir dir Geld schulden. Es sollte ein Gesetz geben, das schwachsinnige Narren verbietet!“
„Wenn es eins gäbe, müsste ich jeden Tag Überstunden machen, Herr.“
„Das gebe ich dir recht, Gaver.“ Francesco lehnte sich zurück und presste die Fingerspitzen aneinander. Er atmete hörbar ein und lächelte kühl: „Lass uns die Situation betrachten, in der ein eifriger und sehr kleiner Mann einen erstaunlichen Plan entwickelt. Er weiß, dass er Gehalt bekommen sollte aber statt die Fürstin zu fragen, steht er ohne eine Ahnung vor mir und hält die Hand auf. Und so geht es los, und unser Freund hält sich nicht mit Zahlen auf, sondern redet sich um Kopf und Kragen. Denkst du, ich wüsste nicht, dass die Stadtwache nutzlos ist? Den letzten Handtaschenräuber habt ihr vor einem Jahr gehängt. Du bist eigentlich nur da, um das Stadttor zu bewachen. Ich möchte den Tag erleben, an dem es nicht mehr da sein wird. Und dein Gesicht dann sehen.“
Bettina stellte den Teller ab. „Eine kleine Stärkung, Herr.“
Gaver grinste blöd und langte zu.
Sie schlug ihm blitzschnell auf die Hand. „Nicht für dich, Gaver“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Es klang wie das Fauchen einer sehr gereizten Leopardin. Schnell wandte sie sich wieder Francesco zu und trug wieder ein sorgenfreies Lächeln zur Schau. „Herr, ich würde Euch kurz sprechen wollen.“
Er nickte widerwillig und ließ sich von ihr mitziehen. Hinter einer Säule flüsterte sie ihm ins Ohr: „Das ist Gaver! Er ist nicht ganz richtig, der Arme. Seid er als Kind vom Kutschbock gefallen ist, ist er etwas langsam. Außerdem trinkt er. Und viel. Eigentlich ist es kein Trinken mehr, sondern ein Saufen. Wir lassen ihn glauben, dass er für Recht und Ordnung sorgt.“
Francesco hörte geduldig zu und nickte ernst. „Ja, verstehe. Eine Frage nur: warum?“
„Könnt Ihr euch vorstellen, wie er auf dem Feld arbeitet oder wie er Lachse fängt? Wir haben alles versucht. Glaubt mir“, sie faltete die Hände und machte ein trauriges, sehr trauriges Gesicht.
„Aber…“
„Bitte. Es ist besser so.“
„Na schön“, stöhnte Francesco und blickte in Gavers Richtung, wie er langsam, ganz langsam sich eine Gurke vom Teller nahm und sie sich in die Hosentasche steckte.
Widerwillig setzte er sich wieder. „Na schön. Du bekommst das Gehalt von vier Monaten plus eine Pfanne aus der Küche. Das ist mein letztes Angebot.“
„Und den Stuhl.“
„Welchen Stuhl?“
„Den Stuhl.“ Gaver zeigte in die Ferne.
„Gaver“, Francesco verbarg den Kopf in seine Hände „das ist ein Thron.“
Das uralte Spiel
1
„Waren viele hier?“ fragte Claudile und sah sich um. Schlammbespritzte Schuhe hatten dutzende Spuren auf dem Parkett hinterlassen, sowie auf dem Läufer, der vom Eingang des Saals bis zum großen Eichentisch führte. Es mussten dutzende gewesen sein.
Francesco sah sie an. Dunkle Ringe hatten sich um seine Augen gebildet. „Die Rechnungen wurden bezahlt. Vergebt mir, Herrin, aber ich möchte nicht darüber sprechen.“
Claudile starrte Korporal Axel an und zuckte mit den Achseln. „Na schön. Das sollte die Leute etwas beruhigen.“ Sie trat vor und deutete mit einem Nicken zu ihrer Begleitung. „Das ist Korporal Axel. Sie… Er würde gerne eine Nacht hierbleiben.“ Sie scharrte mit den Füßen. „Ich wollte mich nicht an dir vorbeischleichen.“
Francesco blickte sie an. Langsam verarbeitete er die Information und sah zum Korporal. „Eure Ladyschaft“, begann er etwas betrübt. „Ihr seid etwas zu jung, um jungen Männern eine Bleibe anzubieten. Das könnt Ihr doch verstehen? Eine Dame ist stehts um Ihren Ruf bemüht. Also wirklich.“
„Er kann ja unten schlafen.“
Francesco beugte sich vor. „Gewisse Dinge werden hier nicht vorkommen! Wisst Ihr was? Ich hatte einen recht anstrengenden Tag. Es dürfte euch freuen zu hören, dass wir die Glückliche Bettina zu unseren Inventar begrüßen dürfen. Ich meine, Personal. Vergebt mir.“ Er massierte sich die Schläfen. „Das Fürstentum im Norden bedauert Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir heute geschlossen haben.“
„Fein, fein.“ Claudile scharrte mit den Füßen. „Ich… gehe dann nach oben.“
„Aber ohne Korporal Axel!“
„Was? Nein.“
„Eure Ladyschaft! Es reicht!“
Claudile malte mit den Kiefern und gab klein bei. „Wer ist hier eigentlich die Fürstin? Schön, ist ja gut.“ Sie wandte sich ihrer Begleitung zu. „Du hast es gehört. Wir sehen uns morgen.“
Beide sahen sich an. Ein Kuss wurde ausgetauscht. Dann verschwand Korporal Axel und winkte ihr lächelnd zu.
„Es freut mich, dass Ihr wenigsten Freude an diesem ereignisreichen Tag hattet.“ Francesco trat näher heran und legte seinen Arm um sie. „Hütet Euch vor der Liebe. Sie kann verbrennen oder erkalten.“
Sie setzen sich an den Kamin.
„Fassen wir zusammen“, begann Francesco nach einer Weile. „Der Baron verliebt sich in ein Mädchen, wird krank vor Liebe und tötet die Familie des Mädchens. Weil er sie in den Flammen umkommen sieht, wird er beinahe verrückt vor Kummer und betrinkt sich. Er trinkt viel, unser Baron. Er wird übellaunig, ungerecht und tyrannisiert die Bewohner. Er kümmert sich nicht mehr um den Wald und die Leute. Rechnungen werden nicht bezahlt. Er verfällt in eine trübsinnige Stimmung. Er wird wahnsinnig vor Kummer und lässt alles hinter sich. Versteckt sich in eine Silbermiene, was gewiss schmerzhaft ist. Habe ich etwas vergessen?“
Claudile starrte in die Flammen. „Nein, das ist alles.“ Alexandra Häberlein bleibt tot. Vergib mir, mein Freund, aber ich habe es versprochen.
„Ihr habt Ihn nicht erwischt?“
„Die Spur führte zur Silbermiene, aber nicht von dort fort. Ich konnte nicht runtergehen und nachschauen.“
„Aus offensichtlichen Gründen. Gut gemacht.“
„Es ging eben nicht.“
„Schon gut, das war keine Kritik. Vergessen wir ihn.“
Sie blickte auf, holte ihr Notizbuch hervor und schlug es auf. „Von jetzt an sollte es einfacher werden. Hast du Fritz gesehen?“
Bei dem Gedanken an den kleinen Mann zog Francesco seine Stirn in Falten. „Ich habe ihn nicht mehr seit heute Mittag gesehen. Er sagte, er wolle seine Tante besuchen.“
Sie nickte ernst. „Hast du sein Gesicht gesehen? Er kennt das Buch, das der Baron gelesen hat.“
„Da wäre noch eine Kleinigkeit, Eure Ladyschaft“, begann Francesco ernst. „Ich habe es bislang nicht für nötig erachtet, Euch darauf hinzuweisen, aber es gibt gewisse Dinge, die ich ansprechen muss. Ich habe Verpflichtungen nicht nur Euch gegenüber, sondern auch Eurer Mutter. Sie würde es nicht gutheißen, wenn die Dinge ungesagt im Raum stehen würden. Wir sind allein in einem Land, das uns nicht braucht. Das ist Fakt. Sind wir uns da einig?“ Er blickte streng zu ihr. „Wir müssen von nun an wirklich zusammenhalten und das Reich ganz im Sinne des Khans regieren. Fehler, wie sie Baron Lyren beging, sollten Euch nicht passieren.“
Mucksmäuschenstill saß sie da und knabberte unruhig an ihren Fingernägeln. Feine Schweißperlen breiteten sich auf ihrem Gesicht aus. Er weiß es. Oh, ich Schaf! Natürlich weiß er es. Er ist Francesco de Palma, einer der schlausten Männer, die ich kenne und natürlich…
Francesco griff zu einem Becher Wein und betrachtete die rote Fläche. „Die Gefahr einer Revolte liegt in der Luft. Meint Ihr nicht auch?“
Sofort entspannte sie sich. „Oh, ja. Natürlich.“
„Woran habt Ihr gedacht?“
„Nichts.“ Sie mahlte mit dem Kiefer. „Was würde im schlimmsten Falle passieren?“
„Die Unzufriedenen rotten sich zusammen, es werden Stimmen laut und dann greifen die ersten zu Steinen und Messern. Sobald sie die Hemmung verloren haben, werden sie in einer Meute den Schuldigen suchen und ausfindig machen. Und sie werden einen Schuldigen finden!“ Er blickte gedankenverloren ins Feuer. „Es herrschten vor langer Zeit sogenannte Pogrome in einigen Städten. Andersartige wurden aus ihren Häusern gezerrt und gesteinigt. Ein Mob von sagen wir ein Dutzend Leuten ist zu allem fähig. Sobald sich Frust und Zorn Luft machen, können selbst Ritter in ihrer Rüstung mit Schild und Schwert kaum etwas ausrichten. Ihr seid ein Werwolf, Herrin, aber gegen einen Mob kommt auch Ihr nicht an.“
Sie zog die Beine eng an ihren Körper. „Du wärst überrascht…“
„Nein, Claudile“, sagte er leise. „Ich wäre in dem Moment äußerst enttäuscht, denn wir haben es jetzt in der Hand. Stellt euch eine Mutter vor, die ihr Kind verloren hat und ihr Mann schließt sich solch einem Aufstand an, und stirbt. Sie würde niemals Eure dargereichte Hand entgegennehmen. Und wenn nur zum Schein. Wir müssen handeln. Nicht mit Härte. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir es gut meinen. Ihr wollt von allen geliebt werden? Das ist nur natürlich, aber dann müssen wir den armen Menschen das geben, was sie am meisten begehren…“
„Geld.“
„Würde“, verbesserte er. „Ich erinnere mich an den Ausspruch eines Zwergenkönigs: Wenn wir nicht unsere eigenen Gesetze einhalten, sind wir nicht besser als die Schlimmsten. Wir müssen ihnen ein Vorbild sein. Noch heute Abend sollten wir ihnen die Hand reichen. Leider“, er trank aus und beugte sich weit vor, „muss ich Euch um einen Gefallen bitten. Es wird hart sein, fürchte ich. Wir reden mit ihnen auf ihrem Boden und reichen unsere Hand. Selbst wenn sie auf sie spucken, müssen wir es von Neuem versuchen. Wieder und wieder.“
„Ich bin… Fürstin. Sollten sie nicht das tun, was ich Ihnen befehle?“
„Was hat es ihnen bis jetzt gebracht? Einen Werwolf als Baron, der sie tyrannisierte. Sie werden sich daran erinnern, glaubt mir. Aber wenn Eure Ladyschaft es versucht, werden sie sich auch daran erinnern. Werdet ein besserer Herrscher. Und ich weiß, Ihr könnt gar nicht anders.“
„Du denkst sehr menschlich“, meinte sie lauernd. „Es gibt in meiner Familie Personen, die dagegen waren, dass du mein Privatlehrer wirst.“
„Wir dürfen nicht zu lange warten, Herrin“, mahnte Francesco. „Wenn es eine Revolte geben wird, wird sie sich um den Pater herumbilden. Da bin ich mir sicher. Ich schlage vor, dass wir ihn aufsuchen und ihn auf unsere Seite ziehen. Für alle sichtbar und auf eine Art, die jeden zufriedenstellen wird. Keine Gewalt, sondern mit einem Trick. Und viel Bargeld.“
Claudile stöhnte gequält auf. „Wir sollen ihn kaufen? Ich glaube nicht, dass er es zulässt.“
Er grinste breit. „Wie gut könnt Ihr Kartenspielen?“
„Bitte?“ Claudile verstand kein Wort. „Ziemlich gut. Was hast du vor?“
Er erklärte es ihr.
Claudile massierte sich den Nacken und stöhnte genervt auf.
2
Fritz steuerte sein Pferd zu den äußeren Wegen westlich des Sägewerks an, passierte den Waldlauf zum Morast und hielt eine halbe Stunde im Galopp auf die Berge zu, bis er den kleinen Trampelweg verließ und das Pferd am Zügel durch das Dickicht des Waldes führte. Hierher verirrten sich wenig Männer des Sägewerks, denn die Kiefern, die hier wuchsen waren noch zu jung und zu dünn und wurden vom Ostwind der Berge klein gehalten. Tatsächlich war er sich sicher, dass niemand die Stelle kannte. Die kleine Berghütte war verfallen, lag im Schatten eines Findlings und roch nach Moder und schlechtem Stroh. In Sichtweite der Hütte band er das Pferd mit den Zügeln an einem Baum und machte vorsichtshalber einen Doppelknoten. Das Pferd scheute immer, wenn der Wind den Geruch des einzigen Bewohners herüberwehte. Mit dem Korb in der Hand ging er auf die Gestalt zu, die draußen auf einer Bank die Sonne genoss.
Er packte Essen und eine Flasche Wein auf den Tisch und setzte sich zu ihm. „Wir haben neue Gäste in der Burg“, sagte Fritz und kramte in seiner Tasche nach Pfeife und Tabak. „Ich gebe ihnen zwei Wochen. Solche Burschen kenne ich. Große Leute aus großen Städten. Wir holen sie schnell vom hohen Ross. Was meinst du?“
Die Gestalt stöhnte leise und beugte sich weit vor, damit ihn Fritz gut verstehen konnte. Die Verbände um Kopf und Körper schränkten seinen Radius ein. Ein Flüstern entrang sich seiner Brust. Fritz nickte verstehend.
„Ja, kann man wohl sagen. Die kleine Welpe versteht was vom Delegieren, aber sie ist zu großspurig. Sie wird es lernen. Wir werden ihr einen Dämpfer verpassen und ihr zeigen, wie es bei uns zugeht…“
Der Bärendrücker war eine Kaschemme. Das einzig Vornehme war der Name, der allerdings nicht einmal Überbleibsel aus besseren Zeit, sondern schlicht und einfach dem Ölgemälde des verhassten Baron Mattes Lyren nachempfunden war. Das Lokal bot normalerweise Platz für dreißig, mit viel guten Willen auch vierzig Gäste, aber der Wirt sorgte dafür, dass selten weniger als siebzig anwesend waren. Die Luft war so dick und verräuchert, dass es völlig sinnlos war, dem Mann hinter der Theke seine Bestellung zu verstehen zu geben; man musste schon brüllen, um sich Gehör zu verschaffen. Was allerdings nur die wenigsten taten. Es hätte auch nicht viel Sinn gehabt – es gab nur die Wahl zwischen lauwarmen Bier und Kartoffelschnaps.
Heute gab es etwas zu feiern. Einige Männer hatten darauf bestanden, Pater Brain auf einen Drink einzuladen – wer sonst hatte den Schneid gehabt, einem Werwolf mal anständig die Meinung zu geigen?
Jemand witzelte, dass, wenn der Pater nicht aufpasste, dieser Tag als Feiertag in die Geschichte eingehen würde. Die Stimmung war gut, denn jeder war sich einig, dass sie mit der neuen Herrscherin nicht viel anzufangen wussten.
Pater Brain saß nach einem anständigen Gelage spät an seinem Platz und betrachtete in Gedanken versunken sein Bier im Becher, als es mit einem Schlag ruhig wurde. Zu ruhig.
Selbst der Wirt beendete seinen Schankdienst und starrte mit offenem Mund zur Tür.
„Frauen sind hier nicht“, begann der Wirt, verstummte aber schnell als Claudile ihm einen warnenden Blick zuwarf.
Die Fürstin und ihr Vertrauter warteten nicht lange ab, sondern bahnten sich einen Weg durch die Menge, bis sie vor Brains Tisch standen. In ihrer Hand einen großen Beutel.
Brain verzog das Gesicht und maß sie mit einem dreisten Blick.
„Falls Ihr mal nicht wissen solltet, was Ihr anziehen müsst“, bemerkte er leise, „dann könnt Ihr die Frauen im Ort fragen, was tres chic ist. Männerhosen sind für Männer – das sagt schon der Name.“
Die Männer grinsten, obwohl niemand wusste, was tres chic eigentlich bedeutete.
„Sehr spaßig“, bemerkte die Fürstin kühl und deutete auf den Stuhl vor sich. „Darf ich mich setzen?“
Er blickte sie aus geröteten Augen an. „Ich weiß nicht recht. Dürft ihr?“
„Ihr meint, weil mir sowieso alles hier gehört? Nun, ich erbitte mir die Gelegenheit euren Verlust wieder wettzumachen.“
Der Pater wollte etwas erwidern, verstummte aber als sie ein Kartenspiel auf den Tisch legte. „Bei einem Spiel?“ Er betrachtete sie nachdenklich. „Wie soll das gehen?“
„Wir beginnen mit einer Goldmünze. Ich lege euch das Kapital aus. Was ihr gewinnt, behaltet ihr und verfügt frei darüber. Ich habe genug dabei.“ Als Unterstreichung wurde der Sack auf den Tisch gelegt. Feine Ohren hörten es verdächtig klimpern.