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Ihre Blicke trafen sich. Pater Brain lachte laut auf. Claudile lächelte. Die anderen Männer, die dringend lachen wollten, lachten ebenfalls. Na bitte, wir sind alle Freunde. Nichts schlimmes wird passieren.
Schlagartig wurde Brain ernst. „Das bringt mir meine Familie nicht wieder zurück.“
„Habe ich nie behauptet. Aber die Genugtuung“, erklärte Claudile laut und setzte sich ungefragt hin. „Die Genugtuung, einem Werwolf bei einem einfachen Kartenspiel zu besiegen.“ Sie wandte den Kopf zu den anderen Männern. „Machen wir es doch spannender: Ihr spielt für diese Männer. Wenn ihr gewinnt, bekommt jeder in diesem Raum eine Münze.“
„Pro Spiel?“
„So ist es.“
Francesco, der sich die ganze Zeit ruhig im Hintergrund gehalten hatte, klappte der Kiefer nach unten. „Was?“ gellte er laut auf.
„Und der Wirt führt Buch. Er ist unparteiisch.“
„Einen Moment, Eure Ladyschaft.“
Alle Blicke wechselten zwischen der Fürstin und ihrem Vertrauten.
„Das ist ein Trick“, bemerkte Brain zweifelnd. „Das könnt Ihr nicht ernst meinen!“
Sie zuckte mit den Achseln und lehnte sich zurück. „Ich kann auch gehen und nehme den Sack wieder mit. Dann hast du deine Chance verpasst. Und die Männer gehen leer aus. Es ist deine Wahl. Geht als reiche Männer nach Hause, oder tretet mir nie wieder unter die Augen.“
Stille.
Alle blickten sich verwundert an. Konnte das wahr sein?
„Eure Ladyschaft!“ Francesco beeilte sich nach vorne zu gelangen. „Ich habe im Kopf mal eben überschlagen, wie viele Leute hier sind. Das geht über unsere Finanzen. Ich bitte euch!“ Er hob flehend die Arme und wollte den Sack an sich nehmen. „Wir sollten darüber schlafen. Bitte…“
Pater Brain betrachtete ihn wie ein Insekt, dass sich zu nahe an seine Fliegenklatsche wagte. „Du, Bursche. Verpfeif dich!“
Claudiles Hand hielt den Sack fest, während sie unverwandt Brain anstarrte. „Ja, genau. Verpfeif dich!“
„Hohe Herrin“, Francesco schien einer Ohnmacht nahe. „Ich flehe Euch an…“
„Mein Geld“, stellte sie klar. „Meine Regeln.“
Der Geistliche und die Fürstin starrten sich an. Taxierten einander.
Die Menge hielt den Atem an.
Langsam wuchs ihm ein diabolisches Grinsen im Gesicht, bis Claudile meinte, einer Teufelsfratze gegenüberzusitzen. „Poker, sage ich. Ihr legt aus. Den Einsatz zuerst!“
Claudile malte mit dem Kiefer und nickte ernst. „Abgemacht.“
Die Menge schnaufte vor Begeisterung.
Schnell hatte es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Selbst zur nachtschlafenden Zeit beeilten sich Frauen wie Kinder eilig zur Kaschemme zu gelangen, um etwas von dem Wettbewerb mitzubekommen. Fenster wurden weit geöffnet, damit auch jeder zusehen konnte. Verschlafene Kinder starrten durch den Zigarrennebel verstört zu einem ungleichen Kampf der Klassen: Werwolf gegen Bürger. Und es gab etwas zu gewinnen. Für jeden, der nur zuschaute, gab es eine Münze. Das war mehr als ein Tagessold im Sägewerk. Einzig und allein Francesco blickte niedergeschlagen in die Runde – sehr zum Vergnügen der Menge. Ihr Grinsen wuchs besonders in die Breite, wenn er sich mit einem Taschentuch über die Stirn fuhr.
Karten wurden gemischt und verteilt.
Das erste Spiel.
Brain gewann, und Francesco verteilte den Gewinn unter den Leuten.
Das zweite Spiel.
Claudile gewann. Sie bekam eine Münze.
Und so weiter.
Pater Brain sah auf seinen Stapel mit fast sechzehn Münzen und ihren Stapel mit fast vier Münzen. Es konnte ewig so weitergehen. Die einzig wahren Gewinner waren die Schaulustigen, die sich gegenseitig auf die Schultern klopften und stolz die Münzen zeigten. Sechszehn Gewinne. Es waren fast achtzig Leute zugegen und jeder bekam eine Münze pro gewonnenes Spiel. Rechnet es selbst aus.
Die Menge wurde mutiger, je voller ihre Geldbeutel wurden. Fast stoisch ließen sich die Fürstin und ihr Berater die hämischen Bemerkungen über sich ergehen. Zum ersten Mal fühlten sich die Menschen von Blaqrhiken erhaben.
Pater Brain achtete im Moment aber weder auf das Gedränge rings um ihn herum noch auf den sichtlich nervösen Mann hinter der Fürstin. Er konzentrierte sich voll und ganz auf das Blatt in seiner Hand.
Es war ein Full House. Dazu das schönste Full House, das er seit Jahren gesehen hatte. Drei Asse und zwei Könige, die er auf die Hand bekommen hatte, ohne ein einziges Mal tauschen zu müssen: eine Eins-zu-einer-Million-Chance. Im Übrigen schienen ihm die Karten Hold zu sein. Er war kein Narr und betrachtete sie mit einem bohrenden Blick, der ihm in anderen Landen einen Kopf gekostet hätte.
Sein Gegenüber schien etwas in dieser Art zu befürchten, denn die Blicke, mit denen sie ihn durchbohrte, waren in den letzten Minuten immer nervöser geworden.
Die Menge beobachtete das stumme Duell gespannt. Einen Einsatz wie diesen erlebte man hier nicht jeden Tag. Claudile selbst hatte den Überblick verloren, wie viele Münzen sie an diesem Abend verlieren würde. Einmal wechselte sie einen verzweifelten Blick zu Francesco, der fast schon apathisch die Münzen verteilte, als wären sie Bonbons. Sehr zum Vergnügen der Leute grummelte er Verwünschungen.
Claudiles Augen hatten sich geweitet, auf ihrer Stirn perlte Schweiß, und die Hände, mit denen sie ihre Karten hielt, zitterten. Sie lächelte sogar nicht, als der Wirt mit einem Schnapsglas herüberkam und es ihr hinstellte. Ihre langen Fingernägel kratzten nervös über das furnierte Holz. Niemanden entgingen diese kleine Gesten.
Und dann… Dann hatte es sie wohl beide erwischt, wie man so schön sagt.
Dieses eine Spiel dauerte fast zwei Stunden, und sie hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt. Aus dem erbitterten Ringen war ein freundschaftlicher Zweikampf geworden. Keiner von ihnen hatte ein Wort gesprochen, aber die Spannung war beinahe ins Unerträgliche gestiegen.
Claudile legte die Karten aus der Hand und griff in den Beutel, um noch Münzen zu holen. Das hatte sie in der letzten halben Stunde immer häufiger getan, und der Beutel war immer dünner geworden, bis sie die letzte Münze herausfischte. Sie betrachtete das nicht ohne Sorge. Die Menge kommentierte dies mit einem „Oh“.
„Ihr solltet aufhören, Fürstin“, sagte Pater Brain zum ersten Mal.
Claudile wischte sich die schweißnassen Hände ab, knackte mit dem Nacken und legte bedeutungsschwer die letzte Münze hin.
„Tut das nicht. Ihr ruiniert euch, meine Liebe.“
Claudile blickte ihn fast hasserfüllt an, nahm den Beutel und legte ihn auf den Stapel, so als wäre dieser auch etwas wert. „Hälst du mit oder steigst du aus?“
Nervös geworden legte er die zugedeckten Karten vor sich hin und lehnte sich zurück. „Nur, um das zu verstehen, Fürstin“, bemerkte er nachdenklich. „Ihr habt nicht vor, die Steuern zu erheben um die verlorene Barschaft wieder reinzubekommen, oder? Das wäre selbst für einen Wolf unter aller Würde – nicht, dass wir nicht schon etwas anderes erlebt hätten!“
Zustimmendes Gemurmel. Plötzlich blickten nicht Wenige finster drein.
Claudile hatte mit der Frage gerechnet, legte auch ihre Karten weg und holte ein kleines Büchlein hervor. Fachmännisch schlug sie eine Seite auf. „Nach den Büchern habt ihr bis jetzt anständig und regelmäßig die Steuern bezahlt.“
Dagegen gab es nichts einzuwenden. Jeder nickte sich zu. Ja, sie waren alle brave Steuerzahler.
„Das heißt nicht, dass du es nicht tun würdest!“ blaffte Brain und kippte noch einen Schnaps hinter die Binde. Fairerweise sei gesagt, dass auf beiden Seiten sich die leeren Gläser stapelten.
„Ich muss Buch führen“, erklärte sie langsam und steckte das Büchlein wieder weg. „Einmal im Jahr kommt der Schatzmeister und überprüft die Zahlen. Findet er auch nur eine Münze unter dem Teppich, könnte ich alles verlieren. Du kennst meine Mutter nicht“, fügte sie leise hinzu. „Dein Gott vergibt, aber nicht sie.“
Er nickte verstehend. „Aber du könntest es tun, oder nicht?“
„Nein, selbst wenn ich wollte. Und warum sollte ich!?“ Sie grinste angeheitert und lehnte sich weit zurück. „Ich brauche nur den Wald und die Freiheit.“
Brain war ein desillusionierter Mann, der in allem nur Schlechtes sah.
„Ihr Werwölfe“, grummelte er leise und bedachte sie plötzlich feindselig. „Was habt ihr aus diesem Land gemacht!?“
„He, he, he“, protestierte sie. „Du versuchst, mich rauszudrängen.“
Brain zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Wer hoch spielt, sollte genug Bargeld mithaben.“
„Gut, dann beenden wir das Spiel. Du hast gewonnen. Und ich habe verloren“, sagte sie gedehnt und stand auf.
Sie wollte Francesco ein Zeichen geben, der gerade an einigen Kindern Münzen verteilte, als plötzlich Brain die Hand hob und abwinkte. „Spar dir die Mühe, Mädchen“, sagte er.
Claudile setzte sich wieder und sah ihn fragend an.
Der Geistliche wirkte ein bisschen verlegen. Offensichtlich taten ihm seine eigenen Worte bereits wieder leid. „Entschuldige“, sagte er leise. „Selbstverständlich kannst du nichts dafür. Willst du mithalten?“
Claudile nickte.
Sie spielten weiter. Es wurde mucksmäuschenstill. Selbst Francesco blickte über die Schultern der Leute und versuchte zu erhaschen, was die beiden eigentlich machten.
Mensch und Werwolf starrten sich lange an.
„Der Baron“, begann Brain stockend und scharrte mit den Füßen, „kam des Nachts und war betrunken. Er hatte tags zuvor den Stadtvogt in zwei Hälften geteilt, als wäre er ein Fisch, den man ausnehmen könnte. Wütend grabschte er nach meiner Frau und ich ging dazwischen.“ Sein Blick ging ins Leere, und für einen Moment erhaschte sie einen Blick in seine Seele. Er schnaufte leise. „Natürlich hatten wir keine Chance. Schließlich… ließ er von uns ab. Das war das letzte Mal, das ich ihn sah.“
Claudile nickte ernst und legte die Karten beiseite. „Ich werde ihn finden.“
Schnell hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Was macht ihr mit Euresgleichen?“, fragte er knapp.
„Das Schlimmste.“
„So schlimm?“
„Schlimmer.“
Brain nickte zufrieden, und legte auf.
Full House.
Das war der Moment, in dem die Menge vor Jubel explodierte.
3
Es wurde noch ein langer Abend.
Getränke wurden gereicht, Lieder wurden gespielt und munter dazu gesungen. Die Fürstin schüttelte betrübt den Kopf, nickte aber wacker zum Verlust ihres Vermögens und ging von Tisch zu Tisch, um den Männern zu ihrem Sieg zu beglückwünschen. Alles in allem, so meinten die Leute, nahm sie es gut auf. Die Werwölfe waren besiegt- jene verhassten Feinde, die man all der Zeit ertragen musste. Kein blutiger Kampf, sondern durch ein Spiel, das überwiegend von Glück und Kalkulation bestimmt wurde. Es schien nur passend, dass die Hohen Herren durch die Intelligenz der Menschen besiegt wurden. Aber was noch wichtiger war als der Goldschatz in jedermanns Beutel: die Fürstin hatte sich zu einem Wettstreit von ihrem Thron zu ihnen bemüht und fair gespielt. Natürlich fair. Wer spielte schon falsch, nur um zu verlieren?
Wenn man den richtigen Ansatzpunkt gefunden hatte, war alles ein Kinderspiel. Bei den Bürgern war es die Würde.
Der Morgen graute fast, als Claudile mit dröhnenden Schädel zu Pater Brain hinübersah. Er lächelte knapp ihr zu, und nickte wissend.
Er weiß es, dachte sie und nickte zurück. Er weiß es genau, aber er sagt nichts.
Natürlich war es ein gut geplantes Schauspiel. Wo die Münzen herkamen, gab es noch viel mehr und irgendwie schien das jeder zu wissen, aber keiner sprach es laut aus. Denn das hätte den Traum zerstört.
Sie erwachte mit den schlimmsten Kopfschmerzen ihres Lebens und auf dem Rücken liegend auf dem Bett. Sie hatte noch immer die Soldatenhose an, die mittlerweile Löcher und Risse aufwies – und getrocknetes Erbrochenes – das war das erste, was sie registrierte. Das Licht brannte, und jemand saß auf der Kante ihres Bettes und presste ihr ein angefeuchtetes, eiskaltes Tuch über Stirn und Augen.
Als sie die Lider hob, lief ihr Wasser in die Augen. Sie blinzelte, hob den Arm und versuchte das Tuch samt der Hand, die es hielt, beiseite zu schieben.
„Bleibt liegen, Herrin“, sagte Francesco, als sie sich automatisch in die Höhe stemmen wollte. Die Sorge in seiner Stimme war echt, ebenso wie die Besorgnis in seinem Blick, die nicht geschauspielert war.
In ihrem Kopf erwachte, ein grausamer, pochender Schmerz, der so heftig war, dass ihr für einen Moment übel wurde.
„Ich habe kein Mitleid mit euch“, stellte ihr Freund klar und verschränkte die Arme vor der Brust. „Heute haben wir etwas gelernt. Ihr vertragt keinen Alkohol. Nach dem Geruch, der an Euch haftet, möchte man meinen, Ihr hättet darin gebadet.“
„Kein Wort mehr“, befahl sie schwach mit belegter Stimme und fühlte Schwindel und Übelkeit. „Ich will sterben…“
Sein Blick wurde etwas versöhnlicher. „Das habt Ihr gut gemacht. Obwohl ich der Meinung bin, dass einige Leute durch die Tür kamen, sich das Geld holten, dann aus dem Toilettenfenster klettern – nur, um sich dann wieder anzustellen. Der Verlust hält sich in Grenzen. Aber wir sollten das nicht jeden Abend machen, denn sonst ist das Fürstentum am Ende des Monats bankrott.“ Zufrieden stand er auf, ging zum Fenster und riss die schweren Vorhänge beiseite. „Nun, ein neuer Tag bricht an. Was habt Ihr heute vor?“
Hinter Claudiles Stirn wirbelten Bilder und Erinnerungsfetzen durcheinander, ohne im ersten Moment einen Sinn ergeben zu wollen.
Sie blickte ihn an, bekam plötzlich große Augen und schaffte es gerade noch den Kopf zur Seite zu drehen.
„Gute Güte“, schniefte Francesco. „Das mache ich nicht weg.“
Um zwölf Uhr fand Claudile die nötige Kraft und die Energie, um endlich aufzustehen und sich zu waschen. Als sie zurück in ihr Zimmer kam, war das Malheur bereits verschwunden – nur ein feuchter Fleck auf dem Teppich zeugte von ihrem ungezügelten Nachtleben. Auf dem frisch gemachten Bett lagen frische Klamotten, ein Tablett mit einem Kräutertee und frisches Brot vom Vortag. Sie schnüffelte kurz.
Sie hatte Fritz richtig eingeschätzt. Der Mann überlebte, weil er ein Wetterhahn war und immer darauf achtete, wohin der Wind wehte, und derzeit wehte er in ihre Richtung. Er hatte sogar an Socken und Unterhose gedacht, obgleich das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Eine aufmerksame Geste.
„Möchtet Ihr Frühstück, Herrin?“ Fritz sah sie von der Tür freundlich an und deutete hinter sich auf die Treppe nach unten. „Ich kann euch etwas zubereiten, wenn Ihr wollt.“
„Danke, Fritz. Aber ist das nicht eher die Aufgabe von Bettina?“
„Darüber wollte ich mit Euch reden“, sagte der Haushalter. „Die Glückliche Bettina ist wohl kaum die Richtige. Ich würde mich mit einem Schreiben nach Hrolung aufmachen, um dort an der Städtischen Schule für Zofen und Hebammen eine geeignete Magd mit tadellosem Ruf suchen zu lassen. Es würde nur zwei Wochen dauern, …“
„Ich sehe dazu keine Veranlassung.“
„Sie ist eine Bürgerliche…“
Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust.
„Das sind Mägde im Allgemeinen“, wies Claudile zurecht. „Ich brauche keine Küchenmagd mit blauem Blut, ich brauche jetzt eine geeignete Kraft. Die Glückliche Bettina wurde von Francesco gestern eingestellt.“ Sie besah sich im Spiegel und zupfte an ihren roten Locken. „Schockiert, Fritz?“
„Erstaunt, Herrin.“ Sein Lächeln löste sich allmählich auf. „Wir müssen an der Etikette festhalten. Und diese vielen Kinder! Empfindet Ihr das nicht als störend?“
Die Art, wie er „Kinder“ sagte, gefiel ihr nicht.
Ganz und gar nicht.
„Nein.“
„Warum?“
Claudile richtete sich kerzengerade auf. Langsam ging ihr Fritz wirklich auf die Nerven.
„Wenn ich Francesco richtig verstanden habe, haben wir gestern viele aus der Stadt eingestellt. Ich beabsichtige nicht in nächster Zeit eine Dinner-Party zu geben, nur um dann mit dem Finger auf die Küchenmagd zu zeigen und zu sagen: Wusstest ihr schon, dass unser Personal eine tadellose Ausbildung hat? Es kümmert mich nicht.“
„Nein, offensichtlich nicht“, murrte Fritz und versuchte es sogleich anders: „Dürfte ich in einer delikaten Angelegenheit mit Euch sprechen?“
Claudile schmerzte noch immer der Kopf. „Nein, Fritz. Jetzt gerade nicht. Ich gehe nach draußen auf den Markt. Bisschen frische Luft schnappen.“
„Ihr würdet mit den gewöhnlichen Bürgern auf einem Platz sein“, platzte es aus ihm heraus.
Claudile wandte sich vom Spiegel ab. „Keine Sorge, Fritz. Sie werden mich schon nicht auf ihr niedriges Niveau herabziehen. Du musst lernen, die Angelegenheit etwas entspannter zu sehen.“
Sie wandte sich um, doch da war Fritz schon verschwunden. In der Ferne hörte sie ihn immer schneller gehen.
Ein richtig mieser Tag
1
Die Glückliche Bettina gehörte zu den Menschen, die mit wenigen Dingen im Leben sehr zufrieden waren. Wenn die Ernten gut waren, alle Familienmitglieder gesund und alles seine Ordnung hatte, war es gut. So einfach. Die Mutter von sechszehn Kindern reichte Claudile ein gegrilltes Eichhörnchen am Spieß: „Die Stände sind gut gefüllt - wie die Münzbeutel der Leute. Eure Ladyschaft habt ein schweres Erbe angetreten“, sie biss von Spieß ab, kaute lange und schluckte langsam, bis sie hinzufügte: „Wie kommt Ihr mit den Leuten zurecht?“
Claudile starrte kurz zum Eichhörnchen am Spieß. „Mehr kann ich nicht tun, als ihre Sorgen etwas zu lindern.“
„Seid Ihr glücklich hier?“
„Ich erledige meine Pflichten genauso, wie wir es von euch erwarten.“
„Das ist keine Antwort.“
„Du bist erstaunlich offen mir gegenüber…“
„Verzeiht, Fürstin.“ Sie lächelte entschuldigend. „Als Mutter weiß ich, wann es Zeit ist zu reden. Das ist der einsamste Ort der Welt, wenn man keine Freunde hat. Darum solltet Ihr Euch fragen, ob Ihr hier seid, um anderen etwas zu beweisen, oder um Euch etwas zu beweisen?“
Claudile schluckte kurz, sah auf den Spieß und gab ihn weiter an eines der Kinder von Bettina, die wie Entenküken stets an ihrer Seite zu weilen schien. Das Kind gluckste fröhlich und grabschte nach dem Spieß. „Mir selbst.“
„Das ist gut“, bemerkte Bettina und zeigte auf ein Mädchen, das etwas abseits stand. „Das ist meine Tochter dort drüben. Isabelle kommt jetzt in ein Alter, in der sie vermittelt werden muss. Sie kann gut kochen, saubermachen und auf die anderen Kinder aufpassen. Sie ist in letzter Zeit immer etwas zerstreut. Es gibt manchmal Dinge, die man einer Mutter nicht anvertraut.“
Claudile sah zu ihr herüber. Eine kleine schmächtige junge Dame mit glatten schwarzen Haar starrte zum Himmel und schien ganz in ihrer Welt versunken. „Du willst, dass ich mal mit ihr spreche?“
„Wenn Ihr kurz Zeit hättet“, beeilte sich Bettina hinzuzufügen. „Vielleicht bringt Euch das auch auf andere Gedanken.“
Claudile fuhr sich über den schmerzenden Kopf und wollte am liebsten nur fort von hier – irgendwo, wo der Schmerz einfach aufhörte. Trotzdem ermahnte sie sich selbst, sich zu zeigen. Sie nickte verstehend, schlenderte herüber und setzte sich zu dem Mädchen. „Woran denkst du?“
Isabelle verneigte sich knapp. „An die Welt, Herrin.“
„Wie es dort draußen ist?“
Ihre Blicke wanderten zum Himmel. „Kann ich auch Fürstin werden?“
Das war es also. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben. „Ich weiß, es ist schwer hinzunehmen, aber du wirst nie Fürstin sein, denn dein Blut definiert dich. Du bist hier geboren, du wirst hier arbeiten und du wirst hier heiraten und Kinder bekommen.“
Ein Schatten legte sich auf ihren Zügen. „Werde ich hier sterben?“
„Eines Tages, ja. Aber du hast eine große Familie, eine gute Mutter und einen guten Vater. Du weißt, wo sie sind. Willst du wissen, wo mein Vater ist?“
Isabelle blickte sie fragend an.
„Mein Vater ist der Große Khan von Norfesta. Er ist fort. Er verschwand einfach. Ich vermisse ihn.“
„Das ist ungerecht.“
„Ja.“ Claudile stand auf und sah sie prüfend an. „Ich beneide dich, Isabelle. Aber das ist ein Geheimnis zwischen uns, einverstanden?“
Das Mädchen nickte zaghaft.
„Geh nun, und habe Spaß. Es reicht, wenn sich die Erwachsenen Gedanken über diese Welt machen.“
Das Mädchen zögerte kurz. „Darf ich Euch etwas fragen?“
Claudile nickte.
„Wie ist es so?“
„Ein Werwolf zu sein?“
„Fresst ihr Menschen?“
Claudile stöhnte besorgt. „Nein, ich glaube nicht.“
„Ihr glaubt nicht...?“
„Ich tue es nicht“, stellte sie klar. „Meine Brüder sehen das anders, aber ich mag Reh oder mal ein Huhn. Wildschwein ist auch nicht zu verachten. Aber einen Menschen habe ich noch nie gegessen. Stelle dir vor“, sie setzte sich wieder und zeigte auf den nahen Wald, dessen Kiefern sich sanft im Wind bewegten, „du fühlst den Wald und den Wind um deinen Körper. Du riechst die Spuren der Tiere und musst nichts fürchten, denn selbst die Bären fürchten deinen Zorn. Du atmest schneller, kannst selbst die Vögel im hohen Geäst hören und die Kälte des Winters ist nichts als ein zarter Winterhauch. Freiheit. Kraft. Dominanz.“ Sie blickte das Mädchen vor sich an und strich ihr sanft über das Gesicht. „Einsamkeit. Du ahnst nicht, wie einsam man ist. Selbst in einem Rudel gibt es Streit und Neid. Das ist der Preis.“
„Klingt schrecklich.“
„Ich habe nicht darum gebeten. Genauso wenig wie du für deine Stellung. Aber wenn ich wählen dürfte“, sie nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf. „wäre ich gerne an deiner Stelle.“
Das Mädchen starrte sie betroffen an, nickte schließlich und ging zurück zu ihrer Familie.
Claudile streifte über den Markt.
Hier und da vermieden die Leute es, in ihre Richtung zu sehen. Sie konnte spüren, dass man ihr misstraute. Das ist in Ordnung, dachte sie bei sich. Ich an eurer Stelle würde mich zuhause einschließen und mich nicht mal auf die Straße trauen. Kein Wunder, dass Pater Brain voller Gram ist und auch kein Wunder, dass Alexandra es vorzieht, als ein Mann von der Stadtwache durchzugehen.
Wo wir gerade davon sprechen…
An einem Stand bemerkte sie den Geistlichen, wie er mit einer Schürze um den breiten Bauch Kisten mit Fisch stapelte. Sein langer Bart glänzte vor Fischschuppen. An den Blicken der Leute bemerkte sie, dass der ältere Mann von allen geachtet und geschätzt wurde. Sie schlenderte langsam heran und besah sich die Auslage.
Als er sie bemerkte, lächelte er grimmig und zog langsam ein Messer zum Fischausnehmen hervor.
„Ich will nichts stehlen.“
„Du würdest auch nichts finden“, grummelte er spöttisch, schnappte sich einen Heilbutt und schlitzte ihn fachmännisch auf. „Man muss ja schließlich von etwas leben.“
„Keine Angst.“
„Ich habe keine Angst! Ich bin zu alt, um mich zu fürchten.“ Mit zwei Fingern holte er die Innereien heraus und warf sie in einen Eimer. „Was willst du?“
„Die Stadt braucht einen Stadtvogt.“
Brain hob eine Augenbraue. „Hah! Ich habe deine Tour gestern zu spät durchschaut. Du bist ein kluges Mädchen – wirfst mit ein paar Münzen um dich und machst dich Liebkind beim Volk. Sogar mich hattest du überzeugt.“ Mit beiden Fingern packte er den Fisch bei den Kiemen und hielt ihn hoch. „Du spielst den Leuten vor, dass wir beste Freunde wären, aber sobald ich dir den Rücken zukehre, reißt du mich in Fetzen und behauptest anschließend, es wären Ganoven gewesen.“
Die Spitze hatte gesessen. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“
„Siehst du! Von mir kannst du noch etwas lernen.“ Brain packte den Fisch in eine Tüte, griff unter dem Tisch und stellte mit seinen von Blut besudelten Fingern zwei Becher und eine Flasche Selbstgebrannten auf den Tisch vor ihm. „Willst du einen Drink?“