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Claudile nickte, ganz der höfliche Gast. Brain schüttete ihr und sich etwas ein und reichte ihr ein Glas. Nachdem er geleert hatte, sah er sie prüfend an: „Warum solltest du das tun? Warum sollte ich das tun? Wir sind keine Freunde!“
„Die Leute sehen zu dir auf. Sie brauchen Hilfe.“ Sie kippte die ölige Flüssigkeit in einem Zug herunter. „Ich bin neu hier, und Francesco war früher Soldat. Er gibt sich Mühe aber das können wir nicht allein. Du bist der Einzige, der uns die Stirn geboten hat. Ja, du hast nichts mehr. Also auch nichts zu verlieren.“ Himmel, das Gesöff war stark genug um beschlagenes Silber glänzend zu machen! „Du stehst jeden Morgen auf und leerst die Spänebottiche im Werk. Du gehst bei deinem Freund Michel auf dem Fischmarkt aushelfen und isst jeden Mittag dort Fisch, den du umsonst bekommst. Die paar Münzen reichen gerade mal so für die Miete. Du hast Kraft und du bist überzeugt davon im Recht zu sein.“
Brain runzelte die Stirn und sah sie aufmerksam an.
Für Claudile ergab die Wahl Sinn – für sie war Brain ein Querulant, ein alter Mann mit einer Vorgeschichte, der sicherlich von jedem in der Stadt akzeptiert wurde. Er war aber auch erfahren und nahm kein Blatt vor dem Mund. Er würde immer die Wahrheit sagen. Darauf baute sie. Wenn sie ihm Freiraum gab, konnte er ihr noch nützlich sein. Schlaue Tiere ließen sich leichter zähmen.
Brain fiel nicht darauf rein. „Ich arbeite nicht für dich! Für einen Werwolf arbeiten!?“
Claudile ließ sich nicht so leicht abschrecken. „Mmh, das erschwert die Sache. Ich könnte auch jemand anderen fragen“, bemerkte sie beiläufig. „Unser Haushalter würde sicherlich nicht Nein sagen.“
Brains Miene wurde eine Spur dunkler. „Fritz!? Diese kleine Ratte kriecht nur zu gerne in andere Leute Ärsche. Er ist kein moralischer Mensch.“ Brain merkte, dass Claudile ihn unter Druck setze. „Mmh, ich gebe dir Bescheid.“
„Wann?“
„Wenn ich so weit bin, verstanden?“ blaffte er. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über den langen Bart. „Ich traue ihm nicht.“
„Wem?“ fragte Claudile unschuldig.
„Fritz.“ Er bedeutete ihr näherzukommen. „Hat sich schon früh für die hohen Herren auf der Burg interessiert. Ich kenne ihn noch aus einer Zeit, in der wir beide noch grün hinter den Ohren waren. Wollte immer wie sie sein. Ganz oben. Kaum war er als Lakai eingestellt, grüßte er niemanden mehr. Irgendwann kam er nicht mehr in die Stadt. Das geht jetzt schon seit Jahren so. Mit dem Baron Mattes Lyren war er dicke.“ Er nickte bedeutungsschwer. „Sie waren Freunde, so scheint es. Es kam mir immer so vor, als wolle er lieber einer von euch sein.“
„Ein Werwolf!? Er?“ Claudile lachte trocken. „Tja, er scheint sich dafür zu interessieren. Hat ein Buch über eine Art Gottheit. Ein sakraler Führer oder so.“ Sie warf dem Geistlichen einen Blick zu. „Seltsam, oder?“
Er rümpfte mit der Nase. „Das Buch würde ich gerne mal sehen. Ich denke über deine Bitte nach. Und jetzt geh! Du vergraulst mir die Kunden!“
Claudile ließ sich nicht so leicht abschrecken. „Warte nicht zu lange“, brummte sie mit widerstrebender Zufriedenheit.
„Ah, junge Dame“, sagte Hauptmann Gaver, als er sie fast umlief. „Ist es nicht ein schöner Tag?“
Bis zu diesem Moment, dachte Claudile, und ging rasch einen weiteren Schritt zurück als ihre gesteigerten Sinne seine Abneigung gegen das Waschen mitteilten. „Du musst Gaver sein, stimmt es?“
„Ja, so ist es, nja. Hauptmann Gaver für dich, fürchte ich“, sagte Gaver und räusperte sich mit böser Vorbedacht. „Habe gehört, dass gestern Abend im Bärendrücker Glücksspiel“, für einen Moment überlegte er, bis ihm das passende Verb einfiel, „gespielt wurde. Dabei tauchte eine junge Dame mit deiner Beschreibung auf. Gestehe!“
Claudiles gelbe Wolfaugen richteten sich auf Gaver.
Gaver bedachte Claudile mit einem strengen Blick. Er sollte folgende Botschaft vermitteln: Wir wissen alles über dich, und deshalb solltest du uns alles über dich erzählen. Aber er war nicht besonders gut darin. „Dort wurde um Geld gespielt. Um eine ziemlich große Summe, fürchte ich. Du hast ziemlich viel Geld verloren, nja, das ist schade, aber du bist selbst schuld. Glücksspiel ist seit der Satzung, nja, nach der Bengelsbacher Rechtsprechung vierzehn B verboten. Angesichts der angespannten Lage wäre das genug für die Todesstrafe.“
Brain, der zufällig noch in Hörweite war, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Hah! Gaver, zeig es ihr!“
Langsam drehten sich die Leute zu ihnen beide um. Einige wisperten, wenige tuschelten aufgeregt. Aber sie bemerkte zu ihrem Vergnügen, dass manche auch grinsten. Und sie lachten bestimmt nicht über sie.
Claudile erwiderte den Blick ungerührt. „Ich gestehe.“
„Wie lautet dein Name?“ fragte Gaver, als er begriff, dass sie der bessere Starrer war.
Claudile lächelte in die Runde und sprach deutlich und laut. „Ich gebe dir ein Rätsel auf, Hauptmann: was hat gelbe Wolfsaugen, einen Kater und hat heute noch nicht gefrühstückt?“
Kichern. Selbst Brain grinste verschmitzt.
„Nja, das Witzereißen wird dir noch…OH!“
Einige Passanten lachten hinter vorgehaltener Hand. Brain schüttelte schließlich den Kopf und zeigte Gaver einen Vogel.
„Verdammt und zugenäht“, hauchte Gaver.
„Verdammt und zugenäht, Herrin“, sagte Claudile. Wendig wie eine Viper schoss ihre Hand vor und packte seinen Arm. Noch bevor Gaver vor Schreck und Schmerz quicken konnte, hatte sie ihn schon in eine Gasse gezehrt.
„Es ist nützlich, dich zu kennen“, flüsterte Claudile. „Da bin ich mir sicher.“
„Nja, denke schon“, sagte Gaver und stand auf den Zehenspitzen.
„Du hälst Augen und Ohren offen, wie? Kennst jeden in der Stadt, was?“ Ohne den Griff zu lockern strich sie ihm mit ihrer Klauenhand über die Wange. „In jeder Stadt gibt es einen Hauptmann, der jeden Kniff kennt. Der seine Pflichten ernst nimmt. Der sich um das Wohl der Bürger sorgt.“
„Nja, ja, Herrin.“
„Ich habe einen Auftrag für dich, Gaver.“ Sie erhob sich und drehte den Kopf, als wolle sie sich vergewissern, dass auch niemand zuhörte. „In dieser Stadt gibt es eine Religionsgruppe, die im Geheimen operiert. Mit mir will niemand darüber sprechen, aber du bist aus einem anderen Holz geschnitzt.“
„Religion?“
„Ja. Halte die Ohren am Boden und hör dich mal um. Bis morgen Abend will ich was hören, Gaver. Ich weiß, dass ein Mann wie du das kann. Und es springt auch etwas für dich heraus, Gaver.“
„Was denn, Herrin?“ fragte Gaver, der Claudiles Griff als unangenehm empfand.
„Meine Freundschaft“, sagte Claudile. „Sie ist selten und kostbar.“
„Verstanden, nja.“
„Sehr gut, Gaver.“ Sie nickte ihm freundlich zu und richtete ihn wieder auf. „Du wirst es noch weit bringen. Vielleicht ernenne ich dich sogar zum Leitenden Hauptmann. Würde dir das gefallen?“
Gaver schluckte. „Sehr gerne, Herrin. Mit Vergnügen, Herrin. Nja, Ihr könnt Euch auf mich verlassen!“
„Gut, dann gehe ich mal.“ Und wasche mich gründlich.
Gaver salutierte eifrig und hüpfte davon.
Als sie zum Brunnen ging um sich die Hände im kalten Wasser zu waschen, blickte sie zum grauen Himmel. Ein Wind aus dem Norden kündigte einen Wetterwechsel an. Es war kein plötzlich aufleuchtendes Signal, wie eine aufflammende Kerze in einer mondlosen Nacht, sondern ein Sog aus der Ferne, der kontinuierlich anschwoll, sich langsam aufbaute. Tiere spürten es nahen. Das taten sie jeden Herbst. Nicht ohne Grund zogen viele Tiere in den Süden.
Ihre gute Laune verblasste, als sie zur Nordwand des nächsten Berges blickte. Menschen sahen eine weiße Wand aufragen, schräg und steil, und voller Schnee und Eis. Der Wolf in ihr witterte eine knackende Fläche voller Versprechungen. Nicht heute, nicht morgen… aber sehr bald.
Hoch im Norden kam der Winter schneller und mit weiten Schritten heran, und er würde lange anhalten, das wusste sie aus Erzählungen. Die Unterredung mit Gaver und all die kleinen Ereignisse der letzten Tage bekamen plötzlich eine ganz neue Bedeutung, als sie an Schnee und eiskalte Nächte dachte. Und an Lawinen.
Eine bedrohliche Wahrheit.
Nicht für sie. Werwölfe litten kaum Hunger und würden selten an Unterkühlung sterben.
Nein, es kam etwas aus dem Norden und wehe dem, der nicht vorsorgen konnte.
„Verzeihen Sie“, sprach sie eine ältere Frau an, die zufällig des Weges kam. „Wie lange dauern die Winter hier?“
Sie hörte geduldig zu. Langsam bekam sie eine Ahnung, von dem, was bald unweigerlich bevorstand. Ein eisiger Winter.
Feuer und Nahrung sollte die Menschen am Leben erhalten. Sofern genügend davon vorhanden war.
Sofern…
Sie warf einen prüfenden Blick auf die breiten Giebelhäuser der Stadt, auf die vermoderten Wände und die undichten Fenster. Anders als bei Menschen witterte sie die Vorboten des beinahe sicheren Todes, aber sie widerstand der Versuchung Alarm zu schlagen. Das wäre unangebracht gewesen. Trotzdem mussten sie sich beeilen. Sonst würde Claudile Alemont bald Fürstin eines Totenreichs sein.
Sie schluckte hart, als unweigerlich in ihrem Blickfeld eine einzelne Schneeflocke sacht und sanft zu Boden sank.
2
Die Tage zogen sich hin.
Die Speisekammer der Burg füllte sich mit zunehmender Geschwindigkeit – großen Dank an die Glückliche Bettina, die viele Suppenrezepte kannte und peinlich genau darauf achtete, das von allem genug da war. Ja, es würde für die Hohen Herren ausreichen. Nicht aber für die Stadt, wie Claudile im Kopf überschlug.
Mit dem Geld aus der Schatzkammer ließ sie einen vertrauenswürdigen Boten mit der Kutsche schicken, der im nächsten Ort Winterkleidung in großer Zahl sowie Mehl und gedünsteten Fisch einkaufen sollte. Gottlob verfügte die Burg über einen abschließbaren Keller, in dem die Sachen gelagert wurden. Kurzerhand ernannte Claudile zwei Männer zu Burgwächter, um Menschen in Not nicht in Versuchung zu führen. Immer öfter nahm sie bei ihren Vorbereitungen Brain in die Pflicht, der nach langen Überlegungen endlich zugesagt hatte, der neue Stadtvogt zu werden. Zu ihrem Glück nahmen die Leute ihre Befürchtungen über den nahen Winter sehr ernst. „Wir haben zwei Friedhöfe“, stellte Brain selbst klar. „Den an der Nordseite und den auf der Ostseite. Wir kennen die Kälte. Diejenigen, die nicht vorbereitet sind, liegen dort.“ Kurz und knapp.
„Wir brauchen sauberes Stroh und lassen es in der Halle auslegen“, ordnete Claudile an. „Jedem, dem kalt ist, soll sich in der Burg einfinden. Das Feuer im Kamin brennt immerzu und an Holz soll es nicht mangeln. Zur Not bitte ich die Küche ruhig ein paar Gerichte mehr zuzubereiten.“
„Man wird Euch Claudile, die Barmherzige nennen“, witzelte der neue Stadtvogt. „oder Claudile, die Übervorsichtige. Sucht es euch aus.“
Der Fürstin war nicht zum Lachen. Sobald sie aus dem Fenster sah, konnte sie eine leichte Schneeschicht draußen sehen. „Der Schnee wird zunehmen. Da bin ich mir sicher.“
„Viele sind zu stolz, um in der Burg nach einer Schlafstätte und Brot zu betteln“, bemerkte Brain. „Viele würden lieber erfrieren.“
„Haltet Ihr meine Maßnahmen für übereilt, Stadtvogt?“
„Nicht ein bisschen, verehrte Fürstin“, stimmte Brain zu. „Schaffe in der Zeit, dann hast du in der Not, sagen die Bauern. Manchmal kommen Lawinen herunter. DANN zeigt sich wirklich, wer vorgesorgt hat.“ Zusammen gingen sie durch die weiten Regale voller Pullover, Hosen, Decken und eingelegtem Fleisch und Säcken voller Mehl. „Ganz beachtlich“, meinte Brain anerkennend. „Aber es mangelt an Grog. Weiß hier niemand den Zauber von heißem Grog zu schätzen?“
Claudile warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Alkohol verwandelt Männer in Bestien. Das ist keine Taverne, sondern immer noch meine Burg.“
„Zweiunddreißig Familien“, überlegte Brain laut. „Ich kenne das vom Krieg. Man kann so gut planen wie man will, aber am Ende sitzen alle um einen Topf und kochen ihre Stiefel. Was ist das für ein Radau?“
Claudile horchte in der Ferne, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten die Treppe hinauf.
Draußen auf dem Hof traf sie Francesco, der gerade mit großen Schritten vom Stadttor auf sie zuhielt. Er lächelte geistesabwesend und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Obwohl es recht kühl war, schien er zu schwitzen.
Im Hintergrund fuhr gerade eine Kutsche durch den Torbogen.
„Wir haben Besucher“, fragte Claudile geistesabwesend.
„Der Magistrat“, entgegnete Francesco kühl und hielt auf die Burg zu. „Er kommt viel zu früh.“
Claudile runzelte die Stirn. „Wieso habe ich noch nie etwas von einem Magistraten gehört?“
„Er ist ein Experte, wenn es um Adelsangelegenheiten geht. Komm bitte mit. Es eilt.“ Ein Hauch von Entsetzen huschte über sein Gesicht.
Die Kutsche fuhr den pflasterten Weg am Brunnen vorbei, passierte den breiten Marktplatz und rollte auf den Schotterweg zur Burg. Von nur einem einzelnen Pferd gezogen wirkte die Kutsche gewöhnlich – aber was hatte Francesco so in Sorge versetzt? Claudiles beeilte sich über den Platz zu kommen.
Als die Kutsche anhielt, war sie überrascht als ein einzelner Mann ausstieg. Der Geruch von Büchern, Mottenkugeln und strenger Wasser-Brot-Diät ging von ihm aus, sowie das hohe Alter. Tiere witterten über den Geruch Alter, Geschlecht und sogar ansteckende Krankheiten. Der Geruch vom Magistrat war reines Pergament, unverfälschtes Studium von Büchern und steriler Sauberkeit eines Klosterkämmerchens. Nur ein Mensch.
Nein, da war noch mehr.
Eine Autorität.
„Mein Name ist Sir Reynold Huckstebull Fleming“, stellte sich der Mann vor, der eine besonders breite fliehende Stirn besaß. „und ich bin Magistrat für Heraldik und Adelsgeschichte.“
„Claudile“, sagte sie und reichte ihm die Hand.
Sir Reynold schüttelte nur den Kopf. „Nein, so geht das nicht. Eine Dame von Welt stellt sich anderen immer mit dem vollen Titel vor. Versuchen wir es nochmal.“ Er öffnete ein großes in Ledergeschlagenes Buch und las daraus vor: „Ihr seid Lady Claudile, die ehrwürdige Tochter des großen Khans, unserem Herrn und Meister.“ Er sah sie kurz an. „Fürstin Claudile Salacia Aminata Urnie von Alemont.“
Claudile verzog das Gesicht. „Auch bei meinen Freunden?“
Sir Reynold schloss das Buch und seufzte. „Ihr beliebt zu scherzen. Gleichwohl möchte ich hinzufügen, dass das Amt für Heraldik und Adelsgeschichte entscheidet, wer wirklich zum Adeligen taugt oder nicht. Jene, die tun, was getan werden muss, ernsten selten Lohn. Dafür gibt es viele Beispiel, und leider lässt sich nichts daran ändern.“ Seine Stimme verlor ihren kummervollen Klang, als er fortfuhr: „Ich habe schon viele Werwölfe in unserem Reich unter die Lupe genommen, wenn ich es mal so ausdrücken darf, und nur die wenigsten haben sich Mühe gegeben, den Ansprüchen gerecht zu werden.“
„Das heißt, ihr entscheidet, ob ich zur Fürstin tauge oder nicht. Und wenn ich euren Ansprüchen nicht gerecht werde?“
„Zwei meiner Vorgänger wurden getötet, weil den neuen Herren ihr Urteil nicht gefiel“
„Ich frage mich, warum.“
„Nichtsdestotrotz steht und fällt mein Urteil mit Eurem Betragen. Lasst mich nur hier und da einige Beobachtungen machen, um gerecht zu urteilen. Gemäß dem Fall, das ihr gewogen, gemessen und begutachtet werden und das Urteil negativ ausfällt, wird Euch der Titel aberkannt. Dann gehe ich wieder und könnt weiterhin hier residieren, wie es Euch beliebt. Doch die Konsequenzen würden… sich bemerkbar machen.“
Claudile war schlau genug, nicht zu fragen, was genau dann passieren würde. Bestenfalls würde man sie einfach gegen einen neuen Fürsten austauschen. Schlimmstenfalls davonjagen. Sie hatte genug Vorstellungskraft, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Plötzlich wurde ihr heiß und kalt.
Sie verbeugte sich leicht und bemühte sich um einen unterwürfigen Ton: „Ich denke, ich habe verstanden.“
Er nickte knapp und sah sie von unten bis oben an. „Interessante Garderobe, die Ihr da habt.“
„Nun, wisst ihr…“
„Frauen sind in der Adelshierarchie nie selbstständige Menschen. Wenn sie auch nicht Sklaven sind, so sind sie auf sozialer Ebene und auch juristisch eher als unfreie Menschen zu betrachten. Sie werden immer nur in Bezug auf die umgebende Familie gesehen und bewertet, das ist das Ergebnis des ersten Kapitels von Stüversand aus seinem Werk. Ein Ausbrechen aus dem vorgegebenen Rollenbild wurde und wird negativ bewertet, eine Erfüllung der gewünschten Rolle wird nicht nur positiv gesehen, sie hat auch rechtliche Auswirkungen: Je mehr Kinder einer Frau das Erwachsenenalter erreichten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Frau das „ius liberorum“ zuerkannt wurde: Sie wurden frei von der sogenannten Geschlechtsvormundschaft.“
„Meint er, ich solle viele Kinder bekommen? Nur, um dann über mich selbst bestimmen zu können?“
„Das wäre gesellschaftlich akzeptabel.“ Er nickte freundlich und deutete auf ihre Männerhose. „Beginnen wir doch mit dieser unangemessenen Tracht. Wo ist eure standesgemäße Bekleidung?“
„Die Gesellschaft kann mich mal“, platzte es aus ihr heraus.
Francesco stand hinter Sir Reynold und machte mit Gesten deutlich, was er von ihrer Äußerung hielt.
Sir Reynold verzog keine Miene dabei. „Adelige sind unter anderem auch „Ordnungshüter“. Wenn nicht eine Instanz da ist, die dafür Sorge trägt, dass geltende Gesetze eingehalten werden, dann hat die Gesellschaft ein Problem! Ich verweise auf Marta III. aus dem Königsgeschlecht und Fürst Philipp den Jakobiner als Beispiel. Beide hielten die Normen nicht ein, fordern damit lautstark die Ordnung heraus. Ihre Geschichte nahm ein schnelles Ende.“
„Wie meint er das, Francesco?“
„Er meint, dass du als Vorbild fungierst.“
„Bemüht Euch ruhig redlich“, warf Sir Reynold lächelnd ein. „Ich werde noch den ganzen Tag hier sein. Nun gut, dann besichtige ich jetzt die Burg. Euer Zuhause.“
Gewogen, gemessen…
Verdammter Mist! Ausgerechnet.
Der Finger des Aristokraten strich prüfend über einen Bilderrahmen. „Ihr seid noch nicht lange hier tätig?“ Mit angewiderten Gesichtsausdruck begutachtete er das Resultat und runzelte leicht die Stirn. „Wo sind Eure Angestellten? Die Küchenmagd, ein Diener, der Gärtner…“, er vollführte eine Geste und drehte sich einmal im Kreis. „Alles wirkt so… unfertig.“
„Wie kommt es, das hier jetzt hier auftaucht?“
„Mir wurde zugetragen, dass ich baldmöglichst erscheinen darf“, antwortete er knapp. „Wie kommt es, dass Ihr nicht vorbereitet seid?“
Ich dachte, ich hätte noch Zeit, dachte Claudile bitter. Oh, das geht böse aus!
Francesco versuchte es mit Heiterkeit. „Wie wäre es mit einem schönen Wein und wir besprechen das alles bei einem lodernden Feuer im Kamin?“ Nach den Schweißperlen aufs einer Stirn verstand Francesco sehr gut, was hier gerade passierte. Das war eine Prüfung – vielleicht die Prüfung ihres Lebens, und Claudile hatte sich nicht genügend darauf vorbereitet.
Das war nichts, das man mit roher Gewalt oder mit schönen Worten beheben konnte.
Natürlich wurde es noch schlimmer.
Just in dem Moment wurde es laut. Infernalischer Lärm drang aus der Küche und ließ Claudile hochschrecken. Was denn jetzt?
In der Küche wurden sie fündig. Auf der einen Seite standen die Glückliche Bettina und ihre sechszehn Kinder und ein Mann, der sie im Arm hielt und auf der anderen Seite Fritz, der Haushalter, wie er Töpfe und kleine Fässchen vor sich auf dem Tisch aufgereiht hatte.
Claudile, Francesco und der Magistrat sahen sich fragend an und stellten sich dazu.
„Ich habe nichts dergleichen gestohlen“, sagte gerade Bettina. Die Farbe in ihrem Gesicht wechselte ins Fleckige. Der Mann neben ihr musste ihr Gatte sein, mutmaßte Claudile, denn er nahm sie beschützend in den Arm und versuchte sie zurückzuhalten.
Fritz stützte die Fingerknöchel auf den Tisch vor sich und beugte sich vor. „Ach, jetzt habe ich wohl keine Augen mehr im Kopf, wie? Was für eine Frechheit! Die meisten von euch können froh sein, dass ihnen jemand überhaupt eine Arbeit gibt. Halunken, Diebe, Schnorrer! Mir reicht es endgültig mit euch!“
„Alles ist ruhig und friedlich!“ beeilte sich Claudile zu sagen und wollte den Gast hinausbegleiten, doch mit unverhohlenem Interesse wich er ihrem Arm aus und stellte sich näher zum Haushalter. Sein süffisantes Lächeln wirkte sehr entmutigend. „Probleme mit der Belegschaft, guter Mann?“
„Ich war von Anfang an dagegen, diese“, Fritz holte tief Luft und deutete auf die Familie, als wäre sie Abfall in seinen Augen, „diese Taugenichtse einzustellen! Ich weiß, was sich gehört! Ich hatte darauf bestanden, nur ausgebildetes Personal einzustellen. Aber hat man auf mich gehört? Nein, natürlich nicht…“
„Sehr bedauerlich“, pflichtete Sir Reynold bei.
„Was ist denn passiert?“ fragte Francesco.
„Genau das meine ich! Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb!“
„Wohl eher eine Tonne Äpfel“, hörte sich Claudile sagen und fragte sich im nächsten Moment, warum sie das gesagt hatte. „Jetzt wollen wir uns erstmal beruhigen. Was ist passiert?“
Die Glückliche Bettina wirkte überhaupt nicht glücklich. Ihre Kinder drängten sich ängstlich in einem Pulk um sie herum. „Er behauptet, wir würden Essen stehlen. Das haben wir nicht nötig, sage ich.“
„Wo ist der Zucker hin?“ fragte Fritz drohend und zeigte wie es schien aufs Geratewohl auf eines der Kinder. „Du da! Du kaust doch die ganze Zeit! Hast wohl dir heute den Bauch vollgeschlagen, was?“
Der Mann an ihrer Seite – Claudile erinnerte sich, dass er als Müllkutscher arbeitete – erhob sich zu seiner ganzen Größe und krempelte beim Sprechen die Ärmel hoch: „Jetzt hör mal zu, du Floh! Wenn meine Frau sagt, sie hat nichts gestohlen, dann hat sie nichts gestohlen!“
Bettina warf ihrer Herrin einen flehentlichen Blick zu. „Ich schwöre bei meinen Ahnen! Sowas tun wir nicht. Ihr müsst mir glauben!“ Sie war den Tränen nahe.
Claudile wollte ihr glauben – Ach, was! Sie glaubte ihr. Und eigentlich war es ihr egal, denn die Speisekammer war mit frischem Essen zum Bersten voll und Geld gab es genug. Aber der Zeitpunkt… war mehr als schlecht gewählt.
Der Zeitpunkt. Etwas in ihrem Kopf klingelte verschwörerisch, aber der Gedanke hielt sich hartnäckig hinter Panik, denn der lauernde Blick des Magistraten sprach bereits Bände.
„Da reicht man ihnen die Hand – und sie reißen dir jeden Finger ab!“, triumphierte Fritz dabei. „Mir tut es leid, dass Ihr das mit ansehen musstet, Herr.“
Der Magistrat bedachte ihn spöttisch und deutete mit einem Blick zu Claudile zur nächsten Tür. „Ich denke, das wird heut ein kurzer Besuch. Können wir?“
Völlig überrumpelt stand sie da. Was passiert hier gerade?
Zu Schnell. Viel zu schnell.
Und gerade in dem Moment, als Claudile dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, bewegte sich die Erde.
3
Es begann mit einer kleineren Rutschung leise und schleichend und hatte den bekannten Domino-Effekt. Vor vierzig Jahren hatte sich eine ähnliche Rutschung ereignet und ließ jeden Bergbewohner in Gedanken daran das Blut in den Adern gefrieren. Das hier war schlimmer.
Oberhalb des Bergmassivs löste sich eine Eisplatte und rutschte nach unten. Ehemals stabile Eisfelder hatten sich wie Adern jahrhundertelang in den Sedimenten gebildet und wurden durch das Schmelzwasser mehr und mehr ausgehöhlt, bis alles zusammenbrach. Der Prozess hatte schon im Frühling begonnen und durch den nahenden Winter – fast ein halbes Jahr später – den Ablauf beschleunigt. Die Kälte der Nordwinde festigte nicht den Grund, sondern beschwerte die obere Fläche mit zunehmenden Neuschnee, was zum Einsturz der Sedimente führte. Während immer neuere Schichten kollabierten setzte eine Kettenreaktion ein, die nicht mehr aufzuhalten war. Die letzten stabilen Strukturen wurden just gegen Mittag von den herunterstürzenden Massen zermalmt und der ganze Südhang geriet in Aufruhr. Zum Südwesten hin fiel die Bergwand in mehreren Terrassen zwar senkrecht in die Tiefe, was die Wucht der Lawine erheblich abmildern würde aber bei den Massen gab es kein Halten mehr: der Berg würde reagieren und würde das Schrecklichste aller Ungeheuer losschicken.