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»Kann ich drüber nachdenken. Aber jetzt lern erst mal den Nachwuchs an. Macht Wilko gerade ein Praktikum bei dir?«, fragte Ole.
»So könnte man es vielleicht nennen.«
»Bis dann.« Ole Zander zeigte auf die weite Schlickfläche zwischen Insel und Festland, auf der kaum Wasser zu sehen war. »Ich muss ins Watt. Die Leute warten schon am ›Verhungernix‹ auf mich.«
Elmar Diesterweg sah hinter dem Mann her, der mit seinem schweren Rucksack und der Grabeforke in der Hand durch den Schlick Richtung Hafen stapfte.
»Brauchst du noch mehr? Wieviel soll ich pflücken?«, fragte Wilko.
»Ich denke, es reicht beinahe. Schau. Da vorne steht ein Büschel, davon nehmen wir etwas mit, dann ist es gut.«
»Aber …«
»Nein. Wir pflücken nur so viel, wie wir brauchen. Das habe ich dir schon oft gesagt, oder?« Elmar Diesterweg hatte plötzlich keine Lust mehr. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Hoffentlich hatte der Wattführer nicht gedacht, er habe die Gans höchstpersönlich zu Verzehrzwecken getötet. Er hätte besser darauf hinweisen sollen, dass er lediglich den Queller als Nahrung nutzen wollte.
»Ja, ja, ich habe verstanden«, nörgelte Wilko. »Die Großen bestimmen und die Kleinen müssen folgen. Wie bei meinen Eltern.«
Es tat Diesterweg weh, was der Junge sagte. Er hatte sich so um ihn bemüht. Hatte zugehört, wenn Wilko mal wieder mit verheultem Gesicht vor seiner Tür gestanden hatte. Hatte versucht, ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn trotz der jungen Jahre respektierte und ihn ernst nahm. Er war kurz davor, ihm eine ziemlich abweisende Antwort zu geben, aber er riss sich zusammen und sagte nur: »Du kannst mir zu Hause helfen, den Queller zu waschen und vorzubereiten. Übermorgen gehen wir wieder zusammen raus und sammeln und kochen danach das perfekte Menü. Was hältst du davon?«
Wilko schaute ihn von der Seite an. Der Trotz war einem strahlenden Lächeln gewichen. »Okay, Boss. So wird es gemacht. Heute kochst du mit deinen Frauen und übermorgen sind wir dran.«
»Vielleicht finden wir auch Löffelkraut. Davon ein paar der scharfen Blätter in den Salat, das ist auch sehr lecker. Löffelkraut ist übrigens so reichhaltig an Vitamin C, dass es früher auf Segelschiffen gegen Skorbut eingesetzt wurde.«
Wilko schaute ihn fragend an. »Skorbut?«
»Das ist eine Vitaminmangelkrankheit. Da fielen den Seeleuten die Zähne aus.«
»Aha«, überlegte Wilko. »Daher hat man das Labskaus erfunden. Das kann man schließlich auch ohne Zähne schlucken.« Er kicherte.
Auch Diesterweg lachte. »Da magst du recht haben.« Gemeinsam gingen sie zurück über den Heller nach Hause.
»Wie war das noch?«, fragte Wilko. »Ist das eigentlich Nationalparkgelände? Dürfen wir hier laufen? Wir haben das nämlich gerade in der Schule. Ruhezone I, Ruhezone II und so.«
»Ach«, erwiderte Diesterweg versonnen. »Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, wenn keiner mitbekommt, wenn jemand etwas Verbotenes getan hat, kann die Person auch nicht verurteilt werden, verstehst du?«
»Oder jemand kriegt es mit, aber sagt nichts.«
Elmar Diesterweg schwieg einen Moment, dann meinte er: »Die Möglichkeit besteht natürlich auch.«
Als sie die Haustür öffneten, stand Hans Jessen vor ihnen und starrte sie wutentbrannt an. »Ach, so war das mit: Man muss töten, um zu leben.«
»Was meinen Sie?«, fragte Diesterweg verblüfft.
»Was ich damit meine?« Hans Jessen lachte kreischend auf und deutete auf das kopflose Tier, das Diesterweg im Gras neben dem Fahrradständer abgelegt hatte. »Als ob Sie das nicht wüssten! Schlagen im Beisein meines Sohnes Gänsen den Kopf ab, nur damit Sie was für den Kochtopf haben!«
Waren jetzt alle verrückt geworden? Es musste doch klar sein, dass man erstens Nonnengänse nicht mal eben so einfangen und dass man zweitens Nonnengänse gar nicht verwerten konnte. Sie schmeckten einfach nicht.
»Es ist doch gut, wenn man aufmerksame Nachbarn hat. Die Szene kam Ole seltsam vor. Da hat er mich gleich angerufen. Auch weil er sich wunderte, dass Wilko nicht in der Schule war.«
Du liebe Güte, dachte Diesterweg. Das ist das zweite Mal, dass jemand etwas in den falschen Hals bekommt. Er mochte nicht darüber nachdenken, wie schnell sich auch diese Geschichte auf der Insel herumsprechen würde.
»Aber der Junge hatte frei. Der Unterricht war ausgefallen«, stotterte Diesterweg. Er merkte, wie Wilko neben ihm unkontrolliert zu zittern anfing. Jessen machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, griff in sein T-Shirt. »Du gehst jetzt rein. Mit dir rede ich später.«
Der Junge rührte sich nicht.
»Los. Rein mit dir!«, schrie Jessen sein Kind an.
Was soll ich machen, überlegte Diesterweg. Würde der Mann Wilko schlagen? Dann musste er eingreifen. Oder würde das die Lage für das Kind verschlimmern? Er wollte um nichts in der Welt den Vater weiter aufregen. »Herr Jessen, die Gans haben wir tot auf dem Heller gefunden. Wir waren unterwegs und haben Queller für ein Gericht gesammelt, das ich heute Nachmittag kochen will. Wilko interessiert sich so sehr für das Kochen.«
Wilko schaute ihn angsterfüllt an. Hatte er etwas Verkehrtes gesagt?
»Dann war mein Sohn schon öfter bei Ihnen in der Wohnung? Mal sehen, was die Polizei dazu sagt!«
»Aber was hat die damit zu tun?«, fragte Diesterweg verdattert. Allmählich wurde die Lage für ihn unübersichtlich.
»Das können Sie sich immer noch nicht denken? Der Junge geht nicht zur Schule, nur damit er mit Ihnen kochen kann? Dahinter steckt mehr als nur Queller zu sammeln. Man muss töten, um zu leben – irre!«
»Nein. Wenn ich es Ihnen doch sage!«, versuchte Diesterweg Jessen zu überzeugen.
Jetzt liefen Wilko die Tränen über das Gesicht.
»Papa, was ist das für ein Krach?« Elmar Diesterweg sah Meta, blass und mit verwuschelten Haaren, im Nachthemd in der offenen Wohnungstür stehen. Gleichzeitig kam Ilona Klinker die Treppe hinunter. Ihr Dackel folgte ihr, ungelenk wie immer, seinen übergewichtigen Bauch von Stufe zu Stufe schiebend.
Klaus Jessen wandte sich um. »Nichts, mein Kind, gar nichts. Geh wieder ins Bett. Wilko und ich kommen auch gleich. Und Sie, Frau Klinker, geht es gar nichts an, was hier passiert. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, schütze ich gerade meine Kinder vor einem per-…«
»Nein!«, schrie Diesterweg. »Nicht vor den Kindern.« Dann fügte er leise hinzu: »Wir können uns gerne unterhalten, wenn wir allein sind. Aber wir sollten jetzt wirklich …«
Hans Jessen hörte nicht mehr zu. Er schob Wilko grob den Flur entlang, verschwand mit ihm und Meta in der Wohnung und knallte die Tür zu.
Elmar Diesterweg hätte sich nicht gewundert, wenn die Klinker einen gehässigen Kommentar losgelassen hätte. Doch die Frau drehte sich wortlos um und ging die Treppe hoch. Der Hund folgte ihr mit durchdringendem Jaulen.
Er nahm sein Körbchen mit dem Queller. Die Lust am Kochen war ihm vergangen. Zumindest für heute. Aber es nützte nichts. Die Damen vom Kochclub würden darauf keine Rücksicht nehmen.
7
Röder hatte im Bioladen gerade die letzte Schraube in die Wand gedreht, als Hans Jessen ihm mitteilte, dass Wilko zu Hause sei.
»Und – wo hat er gesteckt?«, fragte Röder.
»Mit dem Diesterweg aus unserem Haus war er zum Queller pflücken. Wilko hat mir bestätigt, dass er dem Mann vorgeschwindelt hat, die Schule sei ausgefallen. Da hat ihn Diesterweg ohne Nachfrage einfach mitgenommen.«
»Na, dann haben sich unsere Sorgen um den Jungen ja in Luft aufgelöst«, war Röder erfreut.
»Wie man es nimmt. Ole Zander hat gesehen, wie Wilko und der Diesterweg eine tote Gans mit aus dem Watt genommen haben. Ist doch nicht normal, oder? Ich meine, der muss das Tier nicht in Wilkos Beisein töten. Wilko ist erst elf.«
»Wenn es Sie beruhigt, werde ich meine Kollegin vorbeischicken. Die kann mit Ihrem Sohn und Herrn Diesterweg reden. Ich denke, sie hat ein sehr gutes Gespür dafür, ob mit dieser Sache etwas nicht stimmt«, schlug Röder vor.
»Gute Idee. Machen Sie einen Termin mit unserem Chefkoch, dann melden Sie sich bei uns. Wir sind den ganzen Nachmittag da«, erwiderte Jessen.
Als der Mann das Gespräch beendet hatte, überlegte Röder, was er Anika mit auf den Weg geben konnte. Die Stimme des Mannes hatte weder wütend noch ängstlich geklungen, aber auch nicht gefestigt. Mehr so, als ob er mit der Angelegenheit ziemlich überfordert war. Er hoffte, dass Anika den richtigen Ton anschlagen würde. Er hielt sie für eine recht kompetente Kollegin, doch wenn es sich um Kinder in Notsituationen handelte, schien sie ein wenig zu überreagieren. Vielleicht täuschte er sich auch, und es war nur normal, dass Frauen entsprechende Gefahrenlagen anders beurteilten. Schließlich war es bisher nicht sehr häufig vorgekommen, dass ihm eine weibliche Hilfe zugeteilt worden war. Bis auf Marlene. Aber das war ein anderer Fall.
»Hilfst du uns, die Kisten hereinzutragen?« Sandra rüttelte leicht an der Leiter.
Er erschrak und wäre beinahe runtergefallen, wenn seine Frau ihn nicht gehalten hätte. »Ist doch gut, wenn eine schützende Hand über einem wacht«, lächelte sie.
»Stimmt. Besonders, wenn die Hand vorher dafür verantwortlich war, dass die Leiter überhaupt erst wackelte«, erwiderte er. Draußen war der Pferdewagen vorgefahren. Der Kutscher schlug die Seitenklappe nach unten und schob einige Kisten an den Rand der Ladefläche.
»Dann wollen wir mal.« Eine Kiste nach der anderen trug Röder in den Laden. »Muss die Kühlkette nicht eingehalten werden?«, versuchte er, sein neu erworbenes Fachwissen anzuwenden. Sandra hatte ihn, während sie mit ihrer Freundin Eva den Bioladen eingerichtet hatte, ausführlich daran teilhaben lassen.
»Ach«, beruhigte Sandra ihn. »In den Kisten und Kartons sind Nudeln, Reis und Dosensuppen. Da muss das mit der Kühlkette nicht sein«, fügte sie leicht ironisch hinzu. »Wenn morgen die Bestellung von Milch, Butter, Joghurt und so weiter angeliefert wird, dann kommt das in blauen Kühlbehältern.«
Richtig. Die standen auch immer beim »Frischemarkt« und beim »Inselmarkt« herum. Sie stapelten die Waren in einer Ecke des Ladens, dann rief er Anika an. Sie versprach, umgehend bei Jessens vorbeizuschauen und sich ein Bild zu machen.
Kaum hatte er sein Handy in der Hosentasche verstaut, meldete es sich erneut. Sein Chef aus Aurich war dran. Röder hörte interessiert zu, was Müller ihm zu sagen hatte.
»Mit der Abendfähre kommen zwei Kollegen rüber. Die wollen ein paar Sachen näher recherchieren bezüglich der Knochenfunde. Es wäre nett, wenn du zwei Zimmer besorgen könntest. Sie wollen mindestens für eine Übernachtung bleiben.«
»Das dürfte in dieser Jahreszeit kein Problem sein«, war Röder überzeugt. »Im Hotel ›Sonnenstrand‹ ist immer etwas für uns frei, wenn wir nett darum bitten.« Seit vielen Jahren waren Henning und Birgit Ahlers, die Besitzer des Hotels, kompetente Ansprechpartner, die nicht nur Zimmer, sondern regelmäßig auch ihren Clubraum für die Polizeiarbeit zur Verfügung stellten. Die Baltrumer Wache war für mehr als zwei Personen nicht ausgelegt. »Wer kommt denn?«
»Herbert Pankok aus Bremen. Da gibt es nämlich eine vielversprechende Spur. Aus unserem Kommissariat wird auch einer mit anreisen. Das wird sich gleich entscheiden. Nur, dass du Bescheid weißt. Wäre schön, wenn du die Kollegen vom Schiff abholst und einweist.« Damit war das Gespräch beendet.
Röder wunderte sich. Sonst hatte sein Chef durchaus mehr Zeit, wenn sie Telefonkontakt hatten. Aber vielleicht hatte gerade jemand sein Büro betreten und er musste sich anderen Aufgaben zuwenden. Wieder steckte er das Telefon ein. Er war gespannt, wer an Pankoks Seite auftauchen würde. Vielleicht Marvin Lingenberg, der bereits einige Male auf der Insel bei Mordfällen ermittelt hatte und sich inzwischen recht gut auskannte.
»Soll ich mit auspacken helfen?«, fragte er in der Hoffnung, dass der Kelch an ihm vorüberging. Er hatte Glück. Sandra zog es vor, die Ware Stück für Stück nach eingehender Begutachtung selbst in die Regale zu stellen.
»Gut. Ich bin auf der Wache, falls du mich brauchst. Später fahre ich zum Schiff.«
»Drehst du mit Amir eine Runde?«, fragte sie.
»Mache ich. Ich will sowieso mal eben zum Wasser gucken.« Er verabschiedete sich und fuhr nach Hause, wo sein Heidewachtel bereits wartete. Zumindest erweckte es den Anschein, so, wie der Hund ihn sehnsüchtig anschaute, als Röder die Küche betrat.
Der Hund sprang sofort auf, als Röder die Leine vom Haken nahm. »Also, los geht’s.« Er schaute in den Dienstraum, aber Anika war nicht da. Wahrscheinlich war sie bereits auf dem Weg zu Jessens.
Auf der Strandmauer waren einige Spaziergänger unterwegs. Die meisten Tagesgäste, die morgens mit dem Schiff gekommen waren, hatten ihre Strandmuscheln aufgebaut und sich im Sand ein gemütliches Nest geschaffen, das sie noch nicht bereit waren aufzugeben. Sie würden später mit der »Baltrum III« zurück ans Festland fahren. Die große Fähre war bereits unterwegs nach Neßmersiel. So regte sich buntes Treiben, obwohl es erst Mitte Mai und Vorsaison war. Auch die Strandkörbe, die die Mitarbeiter des Bauhofes aus dem Winterschlaf geholt hatten, waren gut belegt. Röder wandte sich nach links und ging an den Buhnen vorbei bis zur Kuckucksdüne. Er wunderte sich immer wieder, wie hartnäckig die Natur ihren Platz eroberte. Die Strandmauer, ein Gebilde aus beinahe nichts als Beton und Steinen, wies über die ganze Länge ganz schmale Einbuchtungen auf, in die sich Sand gesetzt hatte. Darin trotzten Löwenzahn, Gänseblümchen, Disteln und viele andere Arten ungeschützt Sturm, Regen und Salzwassergischt.
Das Wasser lief bereits wieder auf. Er schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde, dann würde die »Baltrum I« in Neßmersiel die Motoren anschmeißen.
Er ließ die Strandmauer hinter sich und ging zurück ins Dorf. In Höhe des Nationalparkhauses sah er Ole Zander auf dem Fahrrad vom Hafen kommen.
»Na, Wattwanderung beendet?«, rief er ihm zu.
»Ja, schon eine ganze Weile. Habe mich mit Gästen unterhalten, die seit 30 Jahren auf die Insel kommen und alles kennen. Besser als die Einheimischen«, lachte er.
»Das kenne ich«, bestätigte Röder. Dann fragte er den Wattführer, was genau er beobachtet hatte, als er Elmar Diesterweg und den Jungen gesehen hatte.
»Genau das, was ich Hans bereits gesagt habe. Der Diesterweg und Wilko bückten sich öfter, als ob sie etwas suchten oder pflückten. Dann, kurze Zeit später, war ich bei ihnen und sah, dass eine Nonnengans tot im Gras lag. Wilko schlug vor, sie zu braten.«
»Das hast du seinem Vater erzählt?«
»Ja. Denn es ist verboten, Nonnengänse zu töten. Sie stehen unter strengstem Schutz. Es war so schräg irgendwie. Diesterweg hat mich sogar zum Essen eingeladen. So dachte ich, Hans sollte wissen, was ich beobachtet habe«, erklärte Ole Zander.
»Danke für deine Offenheit«, sagte Röder. »Falls dir was einfällt oder wenn du etwas hörst, was zur Aufhellung dient, melde dich bitte bei uns.«
»Geht in Ordnung.« Der Wattführer stieg auf sein Rad, winkte kurz und fuhr weiter.
Der Inselpolizist machte einen großen Bogen, ging am Hotel »Fresena« links ab durch das Deichschart und an der evangelischen Kirche vorbei. Er wollte wissen, ob die Turmfalken im Kirchturm ihr Nest gebaut hatten. Tatsächlich, da saßen die beiden Elterntiere in der Nische. Zu Hause angekommen, verbannte er Amir in sein Körbchen in die Küche, dann fuhr er los zum Hotel »Sonnenstrand«.
Henning Ahlers stand auf der Terrasse und wischte die Stühle ab. »Da haben sich doch wieder die Möwen verewigt«, begrüßte er den Polizisten.
»Tja«, lachte Röder, »immer Ärger mit der Natur. Schrecklich.«
»Was führt dich zu mir? Doch nicht etwa die gefundenen Knochen?«
»Doch. Es kommen gleich zwei Kommissare, und wir brauchen zwei Zimmer. Die Dienstwohnung ist belegt. Da wohnt Anika Frederik, meine Kollegin«, erklärte Röder.
»Dann komm mal mit rein. Ich wollte sowieso mit Birgit ein Tässchen Tee trinken. Wenn du also möchtest …«
»Gerne.« Röder würde nur im Notfall einen Nachmittagstee bei Familie Ahlers ausschlagen.
In der kleinen Küche war es gemütlich wie immer. Birgit stellte die Tassen auf den Tisch, dazu Kluntjes und Sahne, ganz so, wie der Ostfriese seinen Tee liebte. Auch ein paar Butterkekse fehlten nicht. Röder hatte das Gefühl, als ob die Außenwelt keinerlei Zutritt hatte. Es war einfach nur gemütlich auf dem alten Ostfriesensofa. Aus der großen Hotelküche kam hin und wieder das Scheppern von Töpfen, aber selbst das störte nicht.
»So, sag schon! Warum bekommst du Verstärkung?«, fragte Henning gespannt. »Du weißt doch, als Mitglied der Feuerwehr bin ich zum Stillschweigen verpflichtet.«
»Und ich als seine Ehefrau natürlich auch«, fügte Birgit lachend hinzu.
»Ganz ehrlich – ich habe keine Ahnung. Die haben wohl etwas herausgefunden, aber was genau, das wollen die beiden Kollegen mir nach ihrer Ankunft mitteilen. Es kommt ein Kommissar aus Bremen, Herbert Pankok, und jemand aus Aurich, der sich hier wohl auskennt. Leider hatte mein Chef nicht genügend Zeit, mir zu sagen, wer der Glückliche ist.«
»Na gut, dann warten wir mal ab. Die Zimmer sind bereit, und wenn ihr den Clubraum braucht – nur zu. Erst in der nächsten Woche kommt der Doppelkopfclub. Bis dahin solltet ihr mit euren Ermittlungen durch sein«, sagte der Hotelchef.
»Du hast zurzeit weibliche Hilfe? Wenn ja, wo steckt sie denn?«, fragte Birgit.
»Im Ostdorf. Ein Junge war nicht in der Schule erschienen, da gibt es wohl einige Probleme«, gab Röder Auskunft. Mehr würde er nicht sagen. Das mussten die beiden nicht wissen.
»Ach, es geht um Wilko? Der wohnt mit seiner Familie doch in dem Haus mit den drei Eigentumswohnungen hinterm Deich, nicht wahr? Da, wo auch der schwule Koch wohnt«, sagte Henning.
Birgit schaute ihren Mann wütend an. »Es ist doch völlig egal, was für eine sexuelle Präferenz jemand hat.« Sie wandte sich an Röder. »Neulich wollte der Redakteur einer Tageszeitung von uns wissen, ob wir in einer Anzeige auf der Suche nach einem Hausmeister m, w, und auch d setzen wollten. Ich wusste überhaupt nicht, was der meinte, und habe ihn gefragt, ob damit deutsch gemeint sei. Nein, divers, hat der geantwortet. Ich war verblüfft, das kannst du dir denken. Mir ist es wichtig, dass die Person ihre Aufgaben vernünftig erfüllt, nicht, mit wem sie ins Bett steigt!«
»Beruhige dich, mir geht es genauso. Es ist mir nur rausgerutscht, weil der vor einigen Jahren mal in einigen Häusern Kochkurse angeboten hat. Unser Koch hat ebenfalls teilgenommen. Quasi zur Weiterbildung, aber der Diesterweg hat ihn wohl nach dem vierten Bier ein wenig angebaggert«, erzählte Henning.
»Kann ich deinen Koch mal sprechen?«, fragte Röder.
»Leider hat er letzten Herbst aufgehört. Seine Frau mochte hier nicht sein. Die sind zum Festland zurück«, erklärte Birgit.
»Aber seine Telefonnummer hast du bei Bedarf?«
Henning nickte.
»Aber woher wusstest du von Wilko?« Diese Frage interessierte den Inselpolizisten brennend.
»Weil heute die fünfte Klasse der Feuerwehr einen Besuch abgestattet hat. Ich habe die Kinder herumgeführt. Zu Beginn habe ich das gefragt, was der Kasper auch immer fragt, nämlich: Seid ihr alle da? Und eines der Kinder sagte: ›Alle bis auf Wilko.‹ Das ist die Auflösung des Rätsels.«
»Also, wenn ihr eh schon alles wisst – ja, der Junge war mit Diesterweg in der Verlandungszone, Queller pflücken. Und der Vater, Hans Jessen, war darüber stinkesauer, weil Diesterweg angeblich eine Nonnengans zum eigenen Verzehr getötet hat. Anika ist hin, um die Wogen zu glätten.«
»Ich glaube, in diesem Haus ist sowieso kein gutes Klima«, ergänzte Birgit. »Ilona Klinker hat dort auch eine Wohnung, und die Frau kann ganz schön rabiat werden, wenn etwas gegen ihre Mütze läuft. Die hatten im Februar Eigentümerversammlung bei uns im Clubraum. Da ging echt die Post ab.«
»Hast du gehört, worum es da ging?«
»Nicht wirklich«, meinte Henning. »Nur einmal, als ich frische Getränke brachte, schlug die Klinker mit der Faust auf den Tisch und rief: ›Ich will den Rest auch kaufen, damit endlich Ruhe ist in diesem Haus.‹«
Röder stand auf. »Danke für den Tee und die Neuigkeit. Ich muss los.«
»Bis später. Wir sind gespannt, wen du uns mitbringst«, sagte Birgit zum Abschied.
»Ich auch«, erwiderte Röder. Wobei es eigentlich egal war, ob Gero oder Marvin dabei sein würde. Er kam mit beiden gut aus.
Als er den Hafen erreichte, legte das Schiff gerade an. Der Landgang wurde ausgefahren, und die ersten Gäste kamen von Bord. Und mitten zwischen den vielen Gesichtern sah er eines, was ihm nur zu bekannt vorkam. Das gab es nicht. Das konnte nicht sein. »Was machst du denn hier?«
Arndt Kleemann lachte ihn übermütig an. »Darf ich mich vorstellen: Ich bin neuerdings ermittelnder Beamter der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund.«
Röder wollte antworten, doch die Stimme versagte. Stattdessen nahm er seinen Freund in den Arm, bis er merkte, wie jemand an seiner Dienstjacke zupfte.
»Mein Name ist Herbert Pankok. Und wer hat mich lieb?«
8
»Na, haben Sie sich den Mann schon vorgenommen?« Hans Jessen stand am offenen Fenster und schaute Anika zu, wie sie verzweifelt versuchte, ihr Fahrrad abzuschließen. »Das müssen Sie nicht. Hier wird kein Rad geklaut. Schon gar kein Polizeidienstrad.«
Dienstrad? Sie blickte auf das Gestänge, doch nirgendwo konnte sie einen Hinweis darauf entdecken, dass man es als polizeieigen hätte erkennen können. Und wenn, würde es einen eifrigen Dieb auch nicht von seiner Tat abhalten. »Haben Sie Zeit?«
»Ich habe. Allerdings ist alles gesagt, oder?«
Anika Frederik antwortete nicht, sondern ging ins Haus und fragte sich, ob der Mann tatsächlich die Wohnungstür öffnete.
Doch er erwartete sie bereits im Flur. »Wollen Sie reinkommen?«
»Sind Ihre Kinder da?«, fragte sie.
»Ja, Meta liegt im Bett und Wilko sitzt an seinen Hausaufgaben. Ich habe sie mir telefonisch geben lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ohne sie durchkommen würde, wenn er schon nicht am Unterricht teilnimmt.«
»Darf ich mit ihm reden?«
Jessen zögerte. »Ich habe bereits alles versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber er schweigt.«
»Alles?«, erwiderte Anika scharf.
»Ich habe keine Gewalt angewendet. Ist nicht mein Stil. Zumindest nicht bei Kindern. Kann ich ruhig sagen. Meine Akte kennen Sie sicher.«
Nein, die kannte Anika nicht. Röder hatte sie bisher nicht erwähnt.
»Also, was ist nun? Wenn wir Licht in die Angelegenheit bekommen wollen, ist es wichtig, dass …«
»Wilko. Die Frau von der Polizei will mit dir reden«, rief Jessen und riss eine Tür auf. Gleich darauf stand der Junge zitternd vor ihr.
»Wir gehen ins Wohnzimmer«, forderte Jessen die Polizistin auf, doch Anika winkte ab. »Ich würde gerne mit Wilko allein sprechen, wenn Sie mir die Erlaubnis geben. Wir könnten das in seinem Zimmer erledigen.«
»Wenn Sie meinen, dass es hilft – bitteschön.« Jessen trat einen Schritt zurück und zeigte auf die offene Kinderzimmertür.
Wilko setzte sich auf sein Bett, und die Polizistin quetschte sich auf den schmalen Kinderstuhl vor Wilkos Schreibtisch. »Möchtest du mir erzählen, wie du Herrn Diesterweg kennengelernt hast und was euch verbindet?«
Wilko nickte, dann begann er flüsternd. »Das war, als meine Eltern rumgeschrien haben, weil Mama immer weg ist wegen ihrer Arbeit. Und wenn sie zu Hause ist, soll sie kochen, hat Papa gesagt. Aber er sagt auch, dass sie nicht gut ist, und wenn sie das nicht bald lernt, haut er ab.«
»Und – kocht deine Mama denn so schlecht? Schmeckt es euch Kindern auch nicht?«, hakte Anika ein.
Jetzt stahl sich ein kleines Lächeln über das Gesicht des Jungen. »Wenn meine Mutter mal kochen muss, dann schlage ich immer vor, dass ich Pizza kaufen gehe. Das klappt fast immer. Sie kann einfach nicht kochen. Daher macht das der Papa. Das schmeckt irgendwie normal. Ich habe immer gedacht, das Essen muss so – langweilig schmecken. Aber seitdem ich mit Elmar koche, weiß ich, wie es auch anders geht. Soll ich Ihnen mal sagen, was wir schon gekocht haben? Labskaus. Das war superklasse. Und nicht etwa mit Corned Beef. Elmar hat gesagt, das nehmen nur die, die keine Lust haben, richtig zu kochen. Nein, wir haben gepökeltes Rind- und Schweinefleisch zerkleinert. Und Matjes und Gurken auch. Dazu haben wir einen Salat aus Brennnessel, Feldsalat und Löwenzahnblättern gemacht. Ganz frisch. Und die Soße dazu – total lecker.«


