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Sie traute ihren Augen kaum. Da lag Hendrik rücklings und nur mit Boxershorts bekleidet auf dem Boden der Kajüte und schlief tief und fest. Seine nackten Füße zuckten leicht und streckten sich ihr wie zur Begrüßung entgegen. Aus dem kleinen Raum stieg Britta mit jedem Einatmen der Duft des schottischen Hochlandes in die Nase. Auch der Eindruck, dass auf dem Hochland ein paar Schafe und Rinder geweidet hatten, wurde mit jedem Atemzug stärker.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Besoffen am helllichten Tag! Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Wie sollte sie mit dem Mann in dem Zustand denn reden können? Sie würde gehen. Ganz einfach wieder gehen. Männer! Sie drehte sich um, dann zögerte sie.
Wenn er doch ein ganz kleines bisschen wach würde … Irgendwie sah er auch süß aus, so unschuldig, wie er da lag. Und sie brauchte ihn. Sie kitzelte ihn an seinem großen Zeh. Er rührte sich nicht. Sie zwickte ihn leicht. Noch immer nichts. Sie kniff beherzt zu. Das hatte Erfolg. Mit lautem Stöhnen öffnete Hendrik seine Augen – und erstarrte.
»Was um alles in der Welt machst du denn hier?«, krächzte er.
»Danke der Nachfrage. Ich wollte dich sehen. Scheinbar aber keine so gute Idee. Ich geh dann mal.« Britta drehte sich um und stieg entschlossen den Niedergang hinauf.
»Nein, warte, war doch nicht so gemeint. Ich bin nur gerade aus dem Tiefschlaf gekommen.«
Sie zögerte. Sollte sie gehen oder nicht? Britta entschloss sich zu bleiben. Sie setzte sich auf den kleinen Hocker im Heck des Bootes und gab Hendrik Zeit, sich aus seiner unbequemen Lage zu befreien. Es schien ihr, als brauchte er ungewöhnlich lange, bis er endlich, bekleidet mit T-Shirt und kurzer Hose, in der Hand eine Flasche Mineralwasser, aus der Kajüte auftauchte und sich neben sie setzte. Das Rot seiner Augen sprach immer noch Bände.
»Du musst ja nicht, aber willst du mir die Geschichte deines Zustandes näherbringen?«, fragte Britta.
»Tja, das war so«, begann er, »ich habe heute Morgen einen alten Bekannten getroffen und einen neuen kennengelernt, und das war es doch wohl wert, darauf einen zu nehmen, oder nicht?«
»Komisch, ich hatte bei deinem Anruf überhaupt nicht das Gefühl, du hättest einen im Tee.« Warum konnte Britta sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie gerade mit einer Lügengeschichte konfrontiert wurde?
»Soll das hier ein Verhör werden, oder was?« Hendrik schüttelte den Kopf. »Kommst hier rein, weckst mich und ich soll dir Rede und Antwort stehen. So nicht, da habe ich keinen Bock drauf.«
»Nun blas dich mal nicht künstlich auf. Mach doch, was du willst, mir doch egal, wie du deine Tage verbringst. Konnte ich doch nicht ahnen, dass du Komasaufen toll findest. Ich geh dann mal. Du kannst dich ja melden, wenn du wieder nüchtern bist.«
Wütend stand Britta auf, aber Hendrik zog sie am Arm wieder neben sich.
»Entschuldige. Wir fangen das Gespräch noch einmal neu an. Gib mir ein paar Minuten. Ich schleudere mir einen Eimer Wasser ins Gesicht und wir gehen auf die Terrasse vom Hotel Witthus, einen Kaffee trinken.«
*
Leicht schwankend kletterte Hendrik zurück in die Kajüte seines Bootes. Er warf einen vorsichtigen Blick in den kleinen Spiegel, den er neben der Tür des Niederganges angebracht hatte, und zuckte zusammen. Ihm wurde klar, dass nicht einmal drei Eimer Wasser seinen roten Augen und seiner unter der Seemannsbräune fast bleichen Gesichtsfarbe wieder zu einem einigermaßen gesunden Aussehen verhelfen würden. Ihm war schlecht, so schlecht wie es einem nur sein konnte, zwei Stunden nach einem Saufgelage, aber außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen. Denn eines erschien ihm jetzt am wichtigsten, nämlich Britta aus der direkten Nachbarschaft des Schauplatzes seiner nachmittäglichen Aktivitäten wegzubringen. Nicht vorzustellen, dass Schnucki auch noch zu ihrer fröhlichen Runde stoßen würde. Diese Situation wäre schlichtweg nicht auszudenken. Er nahm jedoch an, dass sie ebenfalls selig in Morpheus’ Armen lag. Aber wissen konnte man das natürlich nicht. Sein Kopf dröhnte bei dem Gedanken, die beiden Frauen könnten aufeinandertreffen. Er wusste, Frauen waren entsetzlich nachtragend!
»Wasch dir mal über die Hand. Ich glaube, du hast geblutet«, hörte er Brittas Stimme. Er schaute auf seine Hand, zuckte unwirsch mit den Schultern und murmelte: »Lieber nicht, fängt sonst nur wieder von neuem an.«
19
Klaus Kuhlmann stand in Neßmersiel und wartete auf die Fähre. Er war sauer. Natürlich war logisch, dass der Segelmacher in Norden heute geschlossen hatte. Tourismus, Service am Gast, Segelsaison, alles Banane. Es war Feiertag und das war’s.
Er hätte noch stundenlang weiter vor sich hin schimpfen können, so wie er es getan hatte, seit er die kleine Stadt mit dem großen Marktplatz verlassen hatte. Genauer gesagt, seit er mit dem Bus nach Norden zum Bahnhof gelangt war und von dort mit der Taxe zum Segelmacher ins Gewerbegebiet Leegmoor. Nur um dann vor verschlossener Tür zu stehen. Das Taxi hatte er da natürlich schon wieder weggeschickt. Kostete ja Geld. Nicht, dass er geizig wäre. Aber einem Taxifahrer Geld in den Hintern schieben? Nur im Notfall!
Er hätte vorher bei der Firma anrufen sollen, das wusste er jetzt auch. So war er mit seinem schweren Segelsack und der kaputten Fock über der Schulter und Wuffel an seiner Seite langsam zum Bahnhof zurückgelaufen. Eine Tortur bei der Hitze. Und dann die vergeudete Zeit. Was hätte er schön mit seiner Schnucki segeln können! Wenn nur nicht die Fock so blöde eingerissen wäre.
Nicht mal die Stadt hatte er besichtigen können. Wo hätte er denn mit seinem verdammten Segelsack hin sollen. Die Geschäfte hatten auch alle zu. Die Stunden, bis der Bus der Baltrum-Linie wieder Richtung Neßmersiel gefahren war, hatte Kuhlmann im Burger King am Bahnhof abgesessen.
Langsam kam das Schiff durch die Fahrrinne dem Anleger näher.
Er freute sich. Auf die Insel, sein Boot und natürlich auf Schnucki. Er hoffte nur, dass sie kein großes Abendessen zubereitet hatte. Die Stunden im Schnellrestaurant hatten seinen Magen gut gefüllt. Er wollte jetzt nur noch die Beine hochlegen und später mit einem guten Gläschen Talisker den Sonnenuntergang genießen. Auch Wuffel merkte man an, dass er sich gerne in seinen Hundekorb in der Kajüte zurückgezogen hätte. Das Abendschiff war recht leer, so hatte Klaus Kuhlmann auf dem Oberdeck freie Platzwahl. Er ließ sich auf eine der blauen Bänke sinken und genoss die Sonne, die noch hoch über Norderney stand.
»Bitte einzeln die Fahrkarten vorzeigen!«
Klaus Kuhlmann schreckte auf. Da hatte er doch die ganze Überfahrt verschlafen. Egal. Er war da. Kuhlmann schaute vom Deck aus auf den Anleger. Er war enttäuscht. Hatte er doch gehofft, dass Schnucki ihn und Wuffel abholen würde. Aber es war nichts von ihr zu sehen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie vernarrt sie in den Hund ist, dachte er sarkastisch.
Er wartete, bis er seine Fock aus dem Container holen konnte, lud sie auf eine der Wippen, die offenbar herrenlos herumstanden, und lief zum Bootshafen.
Auf der Achteran zeigte sich keine Bewegung. »Na, mein Madamchen hat ihre freie Zeit ja ausgiebig genutzt. Selbst jetzt ist sie noch unterwegs.« Ein kleiner Schwall Magensäure stieg in seiner Speiseröhre hoch. Ob vom Ärger oder den verspeisten Hamburgern mit Pommes, konnte er im Augenblick nicht ermitteln. Er beschloss, sein Unwohlsein auf den Ärger über seine möglicherweise nicht anwesende Gattin zu schieben. Prophylaktisch sozusagen.
Als er auf sein Boot stieg, stellte er fest, dass die Kajütentür von außen verriegelt war. Wenigstens daran hat sie gedacht, dachte er. Er öffnete die Tür, und was er dann sah, veranlasste ihn, drei Doppel Whopper mit Pommes/Majo nebst vier Cola in den Baltrumer Bootshafen zu kotzen.
20
Britta und Hendrik setzten sich an den letzten freien Tisch auf der Terrasse vor dem Restaurant. Von einem großen, grünen Schirm vor der Sonne geschützt, hatten sie einen wunderschönen Blick über die Hellerwiesen bis zum Hafen und über das alte Pfahlschutzwerk bis zur Strandmauer.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend und genossen ihren Kaffee mit Aussicht. Das wird mir fehlen, wenn ich wieder in Leer bin, dachte Britta, auch wenn es dort ganz bezaubernde Ecken und Winkel gibt und ich diese Stadt sehr liebe.
Als sich der Kaffee dem Ende zuneigte, versuchte Britta noch einmal, die ganze Geschichte aus Henning herauszuholen. Er aber gab sich wortkarg und blieb bei seiner Version.
»Wolf und Rolle heißen die beiden. Rolle ist ein alter Freund von mir und Wolf ein Gast aus Bremen, der Rolle zufällig kannte und hier wieder getroffen hat. Das haben wir gefeiert. Du kannst sie ja fragen, wenn du unbedingt willst.«
Britta empfand bei Hendriks Erklärung einen üblen Nachgeschmack. Eigentlich war es nicht die Geschichte an sich, sondern sein Gesichtsausdruck, die Art und Weise, wie er sie erzählte. Es klang alles so diffus und abweisend. Als hätte er ein ausgeprägt schlechtes Gewissen. Außerdem war klar, dass er seine Worte nicht beweisen musste, denn sie hatte keine Ahnung, wo sie die beiden Männer finden sollte.
»Danke, kein Bedarf, warum solltest du mich anlügen«, antwortete sie gereizt und konzentrierte sich auf ihren Kaffee.
Eigentlich hatte sie gehofft, sie könnte ihm die Story von ihrem Ex erzählen und von den Ängsten, die sie deswegen verfolgten. Aber als Hendrik nach einer Weile tatsächlich fragte, warum sie schon so früh bei ihm aufgetaucht sei, führte sie nur eine Stunde Freizeit als Argument an. Sie hatte das Gefühl, dass Hendrik im Moment nichts weniger interessierte als ihr Exmann.
»Schau mal, der Polizist fährt mit ’nem Affenzahn Richtung Hafen, siehst du das?« Hendrik zeigte, froh über die Ablenkung, mit ausgestrecktem Arm zur Hafenstraße. »Und der Hilfssheriff folgt ihm auf dem Fuße, nein, auf dem Rade.« Er grinste, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht.
Britta schaute hinter den beiden her. Was da wohl passiert war?
Einige Zeit später hörten sie aus der Ferne Sirenenalarm. Einige Gäste waren aufgestanden und beugten sich über die Brüstung, um nichts von der sich anbahnenden Aufregung zu verpassen.
Hendrik und Britta sahen den Krankenwagen mit großer Geschwindigkeit hinter den beiden Polizisten her zum Hafen fahren. Die blaue Rundumleuchte und der Signalton sorgten in Sekundenschnelle für Platz auf der Hafenstraße.
»Wollen wir los? Ich muss wieder zu meiner Gruppe und du wirst sicher noch ein Schläfchen machen wollen.« Britta hatte auf einen zumindest klitzekleinen Widerspruch gehofft, aber sie sah sich enttäuscht. Hendrik nickte.
»Das wäre gut, lass uns zum Hafen gehen. Dein Fahrrad steht da noch und meine Koje wartet auch auf mich.« Hendrik legte das Geld auf den Tisch, und sie machten sich wortlos auf den Weg.
Von der unbeschwerten Fröhlichkeit der letzten drei Tage war nichts geblieben, und davon, den Abend zusammen zu verbringen, war keine Rede mehr.
21
Inselpolizist Michael Röder und Thomas Zahn, ein Kollege vom Festland, der im Sommer als Verstärkung aushalf, hatten in dem kleinen Büro der Polizeidienststelle Teepause gemacht, als der Einsatzbefehl von der Leitstelle gekommen war. Verblüfft hatten sie sich angeschaut, denn der Kollege hatte von »literweise Blut« gesprochen, und dass er daraufhin auch die Ärztin alarmiert habe.
»Wenn das man kein Dummejungenstreich ist«, hatte Röder gesagt. »So nach dem Motto: Sollen die sich auch ruhig mal bewegen.«
Als sie mit ihren Fahrrädern am Sportboothafen ankamen, war ihnen klar, dass tatsächlich etwas passiert sein musste. Am Ende des ersten Quersteges scharte sich eine kleine Gruppe um einen Mann, der laut schluchzend auf dem Steg saß. Ein brauner Terrier, der seine Leine hinter sich herzog, begrüßte die Polizisten mit lautem Bellen.
»Was ist passiert?«, fragte Röder den Hafenmeister, der abseits der Gruppe stand und betont gleichgültig ins Hafenbecken blickte.
Der sagte nur: »Da drin in der Achteran. Mausetot ist die.«
Die Gruppe machte ihnen bereitwillig Platz. Die Kajütentür der Achteran stand weit offen und den beiden Polizisten bot sich ein Bild, das sich wohl für lange in ihr Gedächtnis einbrennen würde.
Halb auf der Sitzbank und halb auf dem Boden lag eine Frau. Der nackte Oberkörper war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Überall lag zerbrochenes Glas und es roch beißend nach Alkohol, obwohl die Kajütentür sicherlich schon eine Zeit lang offen gestanden hatte. Eine leere Flasche rollte mit der Bewegung des Bootes in einem See von Blut hin und her.
Der Kopf der Toten lag angewinkelt auf der Bank, um den Hals festgezurrt sahen sie einen weißen Spitzenbüstenhalter.
Ihr kleiner Slip war bis zu den Knien hinabgezogen.
Michael Röder wurden die Beine weich. Er schaute seinen Kollegen an und stellte fest, dass es dem auch nicht besser ging. Sie nickten sich aufmunternd zu und drehten sich um.
»Weiß jemand, was hier passiert ist?«, fragte Thomas Zahn. »Wer ist die Dame und wer hat sie gefunden?«
»Ich, ich habe sie gefunden. Das ist doch meine Frau.« Der Rest seiner Worte ging in haltlosem Schluchzen unter. Sie würden wohl auf die Ärztin und ein Beruhigungsmittel warten müssen. Der Mann hatte einen Schock, dem war jetzt nichts mehr zu entlocken.
»Wer hat die Polizei gerufen?« Michael Röder schaute sich um.
»Ich«, meldete sich Klaas Bengen unwirsch. »Der Mann hat geschrien. Da bin ich hin. Ich habe dann den Notruf gewählt. Was sollte ich sonst machen?«
»Wissen Sie, wie der Eigner des Bootes heißt?«
Klaas Bengen schaute zu dem Mann, der zusammengesunken auf dem Steg saß. »Nee, weiß ich nicht. Ich habe keinen Anmeldezettel. Obwohl er schon zwei Tage hier ist!« Die Stimme des Hafenaufsehers klang drohend.
»Haben Sie hier sonst noch jemanden gesehen?«, fragte Röder.
»Nein. Außer dem da war sonst keiner hier. Alle weggegangen.« Offenbar in der Annahme, dass er nichts mehr zur Aufklärung beitragen musste, drehte sich der Hafenmeister um und schlurfte davon.
Die beiden Polizisten ließen ihn gewähren, denn in diesem Moment hielt der Krankenwagen in Höhe des Bootshauses. Dr. Ellen Neubert, die Inselärztin, kam mit den beiden Rettungsassistenten über den Steg gelaufen. »Was steht an?«
»Da drin liegt eine Frau«, antwortete Röder. »Blutüberströmt. Ich denke, dass sie tot ist, aber das kannst du sicher besser beurteilen. Kleine Warnung: Es ist kein schöner Anblick …«
Dr. Neubert trat vor die geöffnete Kajütentür und verharrte dort einen Moment. Dann gab sie sich sichtlich einen Ruck. »Ich neige dazu, deine Meinung zu teilen, Michael, aber ich muss mir ein genaues Bild verschaffen.«
Sie stieg vorsichtig die fünf Stufen hinunter, die in das Innere der Achteran führten. Michael Röder sah, dass die Ärztin sich auch ohne Aufforderung bemühte, mit möglichst wenigen Dingen in Berührung zu kommen. Besonders achtete sie darauf, nicht in die Blutlache zu treten, die sich um die Frau gesammelt hatte. Ganz gelang es ihr jedoch nicht.
Von Nahem betrachtet gab es für sie offenbar keinen Zweifel. »Die Frau ist tot. Die ersten Totenflecken sind bereits ausgebildet.« Dr. Neubert zeigte auf den Büstenhalter, der der Toten um den Hals geschlungen worden war und sich tief in die Haut gegraben hatte. »Wer auch immer wollte, dass dieser Frau gründlich die Luft abgeschnürt werden sollte, hat ganze Arbeit geleistet.«
Sie betrachtete die Schnitte, die sich über den Körper verteilten. »Zwischen den Schnitten sind auch einige kreisrunde Löcher, die wie Einstiche aussehen. Sie müssen mit etwas sehr Spitzem ausgeführt worden sein.« Sie drehte sich zu den Polizisten um. »Meine Arbeit ist beendet, meine Herren. Dies ist ein Fall von unnatürlicher Todesursache. Jetzt müssen eure Fachleute ran. Hier hat der gemeine Arzt nichts mehr zu suchen.«
Man merkte Dr. Neubert äußerlich in diesem Moment nicht an, dass sie gar nicht so undankbar über diesen Umstand war.
Aber es gibt eben sonne und solche Todesfälle, dachte Röder, und dieser war ganz eindeutig einer von den anderen. Die Frau war grausam zugerichtet worden. Oder hergerichtet? Nein, dachte er, hingerichtet. Das war das richtige Wort für seinen Eindruck von dieser Situation.
»So, meine Herrschaften, ich möchte Sie bitten, diesen Steg zu verlassen«, wandte er sich an die immer größer werdende Menschentraube, die neugierig auf die Unglücksstelle starrte. »Aber warten Sie bitte oben vor dem Häuschen der DGzRS auf uns. Wir möchten Ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Es wäre schön, wenn Sie sich so lange um den Hund kümmern würden, bis wir da sind.« Der Terrier lief immer noch bellend von einem Steg zum anderen und genoss, dass am anderen Ende der Leine keiner war, der ihn hielt. »Und Sie«, Röder wandte sich dem Mann zu, der inzwischen völlig apathisch auf einer Decke liegend von der Ärztin versorgt wurde, »können Sie mir bitte Ihren Namen nennen?«
»Klaus, Klaus Kuhlmann. Und das ist mein Boot. Und da drin ist …« Seine Stimme versagte wieder und Ellen Neubert schüttelte den Kopf.
»Lass man, da geht jetzt nichts mehr. Wir nehmen ihn jetzt erst mal mit in die Praxis. Ich rufe dich an, wenn er ansprechbar ist.«
Die beiden Rettungsassistenten hatten derweil die Trage aus dem KTW geholt. Vorsichtig legten sie Klaus Kuhlmann darauf und wollten ihn zum Fahrzeug schieben, als der Mann sich aufrichtete und schrie: »Nein, ich kann Hedda doch nicht alleine lassen. Lasst mich sofort hier runter.« Mit Mühe gelang es den beiden, Klaus Kuhlmann mitsamt der Trage auf dem schmalen, wackeligen Steg zu halten. Erst als auch Michael Röder und Thomas Zahn zugriffen, stabilisierte sich die Lage.
Dr. Neubert sprach beschwichtigend auf den verzweifelten Mann ein, der sich trotz der Spritze, die sie ihm bereits gegeben hatte, noch nicht beruhigen konnte. »Herr Kuhlmann, ich weiß, es ist leicht gesagt, aber bitte fassen Sie sich. Sie stehen unter Schock. Ich muss Sie mit in die Praxis nehmen. Die Polizisten werden sich um alles kümmern.«
»Auch um Wuffel?«
Die Ärztin schaute Kuhlmann fragend an, dann fiel ihr Blick auf den Hund. »Auch um Wuffel«, versicherte sie ihm.
Michael Röder schaute dem Krankenwagen nach, der sich seinen Weg zur Praxis der Inselärztin bahnte. »Thomas, holst du Flatterband und das dicke Vorhängeschloss, das in der Schublade unter dem Computer liegt? Nimm den Hund mit und bring ihn meiner Frau. Sie wird sich um ihn kümmern. Das Boot werden wir jetzt beschlagnahmen, und dafür Sorge tragen, dass sich ihm keiner mehr nähert. Ich werde erste Spuren sichern und dann die Leute befragen. Mit dem Mann des Opfers können wir uns hoffentlich auch noch unterhalten. Dann hätten wir vielleicht schon ein paar Informationen, die wir den Kollegen vom Festland auf den Tisch legen können. Ich werde jetzt mit Aurich telefonieren.«
Röder schloss die Kajütentür. Er hoffte, dass seine Kollegen vom 1. Fachdezernat für Brand- und Todesermittlungen noch heute auf die Insel kämen. Der durchdringende Geruch nach Alkohol und Blut, der aus der Kajüte kam, wurde durch die Sonneneinstrahlung auf das Kunststoffdach und die dadurch entstandene Wärme in dem Raum kräftig verstärkt. Aber solange die Fachkollegen nicht da waren, durfte nichts verändert werden.
Er griff zum Telefon und rief bei der Reederei an. Glücklicherweise war der Chef im Hause und versicherte ihm, dass die Baltrum III, problemlos den Neßmersieler Hafen ansteuern könnte. »Zwei Stunden gibt uns die Tide noch. Das sollte zu schaffen sein. Wann sind denn Ihre Kollegen aus Aurich da?«
»Ich werde gleich anfragen, schätze aber mal, gegen halb neun. Das müsste klappen.«
»Gut, ich sage der Besatzung Bescheid, die wird sich dann entsprechend auf den Weg machen.«
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