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Doch das ändert sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In den west- und nordeuropäischen Ländern werden die Ersten Kammern entmachtet, die Macht des Königs wird auf repräsentative Funktionen beschränkt, die Privilegien von Adel und Militär werden reduziert, das allgemeine und gleiche Wahlrecht wird eingeführt (Frauen noch ausgenommen). Sogar das zaristische Russland, das rückständigste Staatswesen des Kontinents, erhält nach der Revolution von 1905 eine Verfassung, wenn auch mit minimalen Rechten für das Parlament. Die politischen Reformen gehen einher mit sozialpolitischen Reformen, getragen von der reformistischen Arbeiterschaft und dem liberalen Bürgertum.
In Deutschland geht es mit politischen Reformen jedoch nicht recht voran, was Weber bedauert. Nach wie vor behalten Kaiser, Adel und Militär die Führung in der Gesellschaft. Der Adel hat jedoch aus Webers Sicht jegliche konstruktive Funktion verloren und ist herabgesunken zu einer Interessengemeinschaft, die um größtmögliche Subventionen für die Landwirtschaft kämpft und den Weg zu einer modernen kapitalistischen Gesellschaft blockiert. Große Teile des Bürgertums versuchen Werte und Lebensstil des Adels nachzuahmen, anstatt selbstbewusst und entschlossen die Führung in der Gesellschaft zu übernehmen. Die revolutionäre Arbeiterschaft träumt von einem sozialistischen Staat, anstatt im Bündnis mit reformbereiten Teilen des Bürgertums energisch politische und gesellschaftliche Reformen voranzutreiben. Unter diesen Umständen hält sich Webers politisches Engagement in Grenzen. Er befürwortet eine Modernisierung des politischen Systems nach westlichem Muster – nicht, weil Demokratie ihm als Wert viel bedeutet, sondern weil er in ihr die Voraussetzung für ein leistungsfähiges System sieht, das in der Lage ist, die imperialen Interessen des Deutschen Reichs zu verfolgen.
Max Weber über sich selbst
»Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.« (Der Nationalstaat und die Volkerwirtschaftspolitik, 1895, in: GPS, S. 20)
[16]1.2.3 Agrargesellschaft oder kapitalistische Industriegesellschaft
1776 erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie löst in Großbritannien die industrielle Revolution aus, die bald darauf auf Kontinentaleuropa übergreift. 1798 wird die erste Dampfmaschine in Deutschland installiert. In den 1830er und 1840er Jahren breitet sich das kapitalistische Fabriksystem – Produktion mit Lohnarbeitern unter Einsatz von Dampfmaschinen – in der Rheinprovinz, in Berlin und in Sachsen aus. Ab etwa 1850 verbreitet es sich über das ganze Land. Die Historiker datieren heute die Zeit zwischen 1850 und 1914 als Übergangsphase zwischen Agrar- und Industriegesellschaft. Für die Zeitgenossen ist das nicht unbedingt so deutlich. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sind weite Teile Deutschlands vom Industriesystem wenig erfasst, insbesondere die Gebiete östlich der Elbe bleiben agrarisch geprägt. Es gibt also einen gewerblich-industriellen Westen und einen agrarischen und feudal-paternalistischen Osten. Um 1900 wird in Deutschland noch eine ernsthafte Diskussion darüber geführt, ob Deutschland ein Industrie- oder Agrarland sei bzw. sein solle.
Webers Position in dieser Frage ist eindeutig. Die Industrialisierung, und zwar unter einem kapitalistischen Produktionsregime, ist unaufhaltbar. Anlässlich seiner Untersuchung über die ostelbischen Landarbeiter Anfang der 1890er Jahre (vgl. Kap. 1.3) erkennt er, dass der Kapitalismus die entscheidende Kraft auch des sozialen Wandels im agrarischen Ostelbien ist. Weber will daher 1904, als er die Redaktion des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik mit übernimmt, den modernen Kapitalismus zum zentralen Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften machen.
Max Weber über den Agrarkapitalismus
»Überall aber finden wir eine gemeinschaftliche Erscheinung als Ergebnis der Situation: wo nicht auf die Dauer Zerschlagung in Kleinbetriebe oder Verödung als Weiderevier eintreten soll, da besteht die Notwendigkeit umfassender Steigerung der Kapitalintensität und eines Wirtschaftens unter kaufmännischen Gesichtspunkten, wie sie der traditionelle Grundherr im Osten nicht kannte. Mit anderen Worten: an die Stelle der Grundaristokratie tritt – mit oder ohne Personenwechsel – mit Notwendigkeit eine landwirtschaftliche Unternehmerklasse, die sich in ihren sozialen Charakterzügen von den gewerblichen Unternehmern prinzipiell nicht unterscheidet.« (Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, 1894, in: GASW, S. 476 f.)
[17]1.2.4 Kapitalismus, Sozialismus und soziale Frage
Im März 1871 erheben sich die Pariser Arbeiter und vertreiben den Stadtmagistrat. Sie richten eine eigene Verwaltung ein, ein sozialistisches Regime. Zwar schlagen französische Regierungstruppen den Aufstand nach einigen Wochen blutig nieder, aber die Pariser Kommune, wie man sie nennt, wird von den Herrschenden aufmerksam registriert – als Menetekel eines möglichen zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Umsturzes.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst in Deutschland und Europa die Arbeiterschaft rasch an. Die Lebensverhältnisse sind schwierig, ja erbärmlich, die Löhne so niedrig, dass Kinder- und Frauenarbeit an der Tagesordnung sind. Die Wohnverhältnisse in den schnell errichteten Arbeitervierteln der entstehenden Großstädte sind trostlos und ungesund. Es entsteht, wie die Pariser Kommune angezeigt hat, eine revolutionär gestimmte Arbeiterbewegung; die Arbeiterparteien, z. B. die Sozialdemokratie in Deutschland, gewinnen rasch Mitglieder und Wähler. Unter diesen Bedingungen macht man sich in den Regierungen und im wohlhabenden Bürgertum Gedanken, wie man einer möglichen gesellschaftlichen Umwälzung durch das Proletariat entgegenwirken könne. Als geeignetes Mittel erscheinen in Deutschland – neben politischer Repression – sozialpolitische Reformen. 1872 gründet Gustav Schmoller (1838–1917), der führende Nationalökonom im Deutschen Reich, den Verein für Sozialpolitik, in dem Wissenschaftler, hohe Beamte und Politiker zusammentreffen. Ziel des Vereins ist, gegen den heftigen Widerstand im liberalen Bürgertum soziale Reformen durchzusetzen. Um eine zielgenaue Politik betreiben zu können, lässt er Untersuchungen zur Lage einzelner sozialer Gruppen durchführen.
Max Weber schließt sich Gustav Schmoller und dem Verein für Sozialpolitik an und führt 1891 die schon erwähnte Untersuchung zur Lage der ostelbischen Landarbeiter durch. Sein Eintreten für soziale Reformen ist nicht so sehr von karitativen oder ethischen Motiven getragen. Er hält diese vielmehr wegen der Strukturveränderungen des industriellen Kapitalismus für notwendig und im Sinne nationaler Machtpolitik für angezeigt. Für einen Erfolg deutscher imperialer Machtpolitik, wie Weber sie befürwortet, erscheint eine Integration der deutschen Arbeiterschaft in die Gesellschaft vorteilhaft, wenn nicht sogar unabdingbar.
1.2.5 Weltkrieg, Friedensschlüsse, Revolutionen
Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. In allen beteiligten Ländern (v. a. Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, England, Russland) kommt es zu Manifestationen der Kriegsbegeisterung, die auch vor den Gelehrten nicht Halt macht. Angesehene Professoren stellen sich mit nationalistischen Schriften, welche die Kriegsmotivation wecken und aufrechterhalten sollen, »in den Dienst des Vaterlandes«. [18]In Deutschland unterzeichnen im Jahr 1915 1347 Professoren und Intellektuelle eine Denkschrift, die einen Frieden mit umfangreichen Gebietsgewinnen in West und Ost fordert (Radkau 2005, S. 710 f.).
Demgegenüber verhält sich Max Weber relativ moderat, auch wenn er den Krieg als »groß und wunderbar« begrüßt (Marianne Weber 1989, S. 530). Er interpretiert den Krieg vor allem als ein Gemeinschaftserlebnis, das die Klassengesellschaft zu überwinden und die nationale Gemeinschaft herzustellen vermag. Er gehört zur Minderheit der deutschen Professoren, die einer indirekten Imperialpolitik – die Hegemonie über kleinere, noch zu gründende Staaten in Osteuropa – aufgeschlossen gegenüber steht, aber in einer Gegen-Denkschrift vor Annexionen warnt.
Weber ist im ersten Kriegsjahr als Disziplinaroffizier für die Heidelberger Lazarette aktiv, was seine Arbeitskraft voll absorbiert. Nach Dienstende Ende September 1915 (im Zuge einer Umorganisation des Heidelberger Lazarettwesens) scheitern seine Ambitionen, in der Berliner Ministerialbürokratie eine Anstellung zu finden. So zieht er sich 1916 wieder nach Heidelberg zurück und verfasst religionssoziologische Aufsätze. Außerdem tritt er als Vortragsredner und Verfasser von Zeitungsartikeln und Denkschriften hervor.
Das Deutsche Reich unterliegt seit Kriegsbeginn einer Blockade durch die englische Flotte und es geht 1916 um die Frage, ob es einen unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen das britische Mutterland führen soll. Das könnte auch zu Versenkungen von US-Schiffen führen und den Kriegseintritt der neutralen USA an der Seite der Entente provozieren. Weber warnt, u. a. in einer Denkschrift, die auch den Kaiser erreicht und beeindruckt, vor einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Anders als viele Generäle und Professoren, welche die Kampfeskraft der USA für gering erachten, schätzt Weber, der 1904 einige Wochen das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bereiste, deren ökonomisches und militärisches Potential realistisch ein. Nach längerem Tauziehen in der politischen und militärischen Führung setzt das Deutsche Reich schließlich auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der, gepaart mit diplomatischen Ungeschicklichkeiten, am 6. April 1917 zum Kriegseintritt der USA führt.
Webers Prognose, dass damit der Krieg verloren sei, bewahrheitet sich im folgenden Kriegsjahr. Das wachsende Übergewicht der Gegner und der Zusammenbruch der deutschen Verbündeten veranlassen die Führung des Deutschen Reichs, um Waffenstillstand zu bitten. Bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles 1919, der einem Diktat der Siegermächte gleichkommt, zählt Weber zur deutschen Delegation.
Webers Versuche, in der Weimarer Republik eine politische Karriere zu starten, scheitern. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei setzt ihn auf einen aussichtslosen Listenplatz. An der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung ist er beratend beteiligt. Er plädiert für eine starke Stellung des Reichspräsidenten. Sein unerwarteter Tod im Juni 1920 beendet alle politischen Ambitionen.
[19]1.2.6 Die »Kulturkrise« um die Jahrhundertwende
Im 19. Jahrhundert herrschen in Deutschland und Europa ein optimistisches Geschichtsverständnis und eine zuversichtliche Haltung gegenüber der heraufziehenden Moderne vor. Diese Tendenz wird in Deutschland durch die Reichseinigung und die Prosperitätsphase der »Gründerjahre« noch verstärkt. Selbst Karl Marx, der sich mit den Schattenseiten des modernen Kapitalismus auseinandersetzt, lobt die progressive Kraft der Bourgeoisie, welche die Produktivkräfte vorantreibe und da -mit letztlich dem Sozialismus und Kommunismus als höheren Geschichtsstufen den Weg bereite. Viele Arbeiter leben in der Hoffnung auf einen sozialistischen »Zukunftsstaat«. Im Bürgertum ist im 19. Jahrhundert die aufklärerische Vorstellung, dass Geschichte ein Fortschrittsprozess in Richtung auf immer größere Vernünftigkeit, Selbstbestimmung des Menschen und Beherrschung der Natur sei, noch weit verbreitet.
Um 1890 ändert sich die kulturelle Großwetterlage. Zwar verschwindet der Fortschrittsoptimismus, gespeist durch technische Innovationen und imperiale Erfolge, nicht, aber in bürgerlichen, insbesondere in intellektuellen Schichten macht sich daneben eine andere Stimmung breit. Es ist die Zeit, in der sich der moderne Kapitalismus mit all seinen Begleiterscheinungen augenfällig durchsetzt, Großstädte mit großen Arbeiterquartieren wie Pilze aus dem Boden schießen und Großorganisationen an Bedeutung gewinnen. Dies alles wirft Fragen auf: Sind die Massen – oder die Menschen in der Masse – wirklich vernünftig und rational oder sind sie nicht eher unberechenbar, irrational und triebgesteuert? Geht mit der städtischen Zivilisation nicht der Bezug zur Natur verloren? Schafft die Moderne wirklich Freiheit oder bedeutet das Leben in der Großorganisation nicht eher Zwang? Welch einen Typus von Mensch bringen die neuen Lebensformen hervor? Führt die moderne Zivilisation, wie z. B. Emile Durkheim befürchtet, zur »Anomie«?
Diese Stimmung bringt besonders der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) zum Ausdruck, der die Tugenden eines saturierten, selbstzufriedenen Bürgertums kritisiert und in heroisierender Manier die »Umwertung aller Werte« fordert. Nietzsche propagiert Stärke (als Selbstzweck), Aristokratismus und Schönheit. Der Wert einer Kultur bemesse sich nicht nach dem Durchschnitt, sondern nach den höchsten Exemplaren des Menschentums. Entsprechend forderte er den »neuen Menschen« bzw. »Übermenschen«. Er distanziert sich vom Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts und sieht die Gegenwart von einer tiefen Krise der europäischen Kultur bestimmt. Ausdruck dieser Kulturkrise sind für Nietzsche unter anderem die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Sozialpolitik. Er stellt ebenso das Christentum, immer noch die kulturelle Leitfigur der Zeit, radikal in Frage, aber auch den zunehmend arbeitsteiligen, sich spezialisierenden Wissenschaftsprozess, besonders den »antiquarischen« Charakter historischer Forschung, welche die aktuellen Lebensfragen ignoriere.
[20]Weber teilt das Unbehagen an der Moderne und bringt es in eindringlichen Worten zum Ausdruck. »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, »eisernes Gehäuse der Hörigkeit«, »Käfig« – so charakterisierte er den modernen Menschen und seine Welt (vgl. Kap. 6.5). Er schätzt Nietzsches Bedeutung hoch ein. Überhaupt bestimmen aus seiner Sicht Marx und Nietzsche das geistige und wissenschaftliche Leben seiner Zeit.
Max Weber über die Bedeutung von Marx und Nietzsche
»Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.« (überliefert vom Neffen Eduard Baumgarten 1964, S. 554 f.)
Weber versteht seine kritische Einstellung zur Moderne allerdings als persönliches Werturteil, über das mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden könne. Vor allem aber betont er, im Gegensatz zu vielen kulturkritisch Bewegten, dass der moderne industrielle Kapitalismus samt der ihm innewohnenden Lebensformen nicht rückgängig gemacht werden könne. Neoaristokratische und neoromantische Strömungen seiner Zeit, etwa der Kreis um den Dichter Stefan George, erscheinen ihm daher illusionsbehaftet, soziologisch unaufgeklärt und auf Dauer dem Untergang geweiht.
Weber macht sich die Kritik Nietzsches an den historischen Wissenschaften zu eigen. Er ist ebenfalls der Ansicht, dass diese Gefahr liefen, zunehmend antiquarisch und lebensfremd zu werden. Oberstes Ziel seines Konzepts einer historischen Sozialwissenschaft [21]ist es daher, den Weg zu einer »lebensbedeutsamen« Wissenschaft zu weisen. Sie soll ausgehen von den Werten der Gesellschaft und des Wissenschaftlers und damit das in den Fokus nehmen, was wirklich wichtig erscheint, wie z. B. der moderne Kapitalismus (vgl. Kap. 2).
Politische Positionen Max Webers
Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen der deutschen Nation als Leitwert
Modernisierung des politischen Systems vom monarchischen Konstitutionalismus hin zur parlamentarischen Demokratie, um imperiale Interessen des Deutschen Reichs rational verfolgen zu können
Moderne kapitalistische Industriegesellschaft als Entwicklungsperspektive des Deutschen Reichs
Aktive Sozialpolitik, um innere Spannungen abzubauen und eine Konzentration der Kräfte auf die imperiale Konkurrenz zu gewährleisten
1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers – Ein Überblick
Das komplexe, Disziplinengrenzen überschreitende Werk Webers lässt sich im Sinne einer systematisierenden Einführung in folgende Arbeitsbereiche untergliedern (vgl. Kaesler 2003):
rechtsgeschichtliche Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters,
empirische Untersuchungen im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage des wilhelminischen Kaiserreichs betreffen,
methodologische Arbeiten zur konzeptionellen Begründung historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung,
religionssoziologische Arbeiten,
soziologische Arbeiten in systematisierender Absicht (Wirtschaft und Gesellschaft),
Beiträge zur politischen Publizistik.
1.3.1 Rechtsgeschichtliche Studien
Im Hinblick auf Webers rechtsgeschichtliche Arbeiten sind zunächst dessen wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten hervorzuheben. Bereits in diesen Schriften wird sein sozial-ökonomisches Interesse an der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsform deutlich.
In seiner Dissertation Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) untersucht Weber die rechtlichen und sozioökonomischen Begleitumstände der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Ihn interessiert insbesondere die Frage, welche römischen und germanischen Rechtsvorstellungen die Trennung von Familienund Betriebsvermögen beeinflusst und zur Herausbildung der kapitalistischen Handelsgesellschaften im späten Mittelalter beigetragen haben. Im Rahmen seiner agrarhistorisch-juristischen Habilitation Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) behandelt er den Zusammenhang zwischen dem römischen Agrarkapitalismus und der rechtlichen Institution des Privateigentums. Anhand des politisch umkämpften Rechtsinstituts des »öffentlichen Landes« sucht Weber den Wandel vom Gemein- zum Privateigentum historisch nachzuzeichnen. Diese rechtshistorischen Forschungsergebnisse stellt er in seinem 1896 veröffentlichen [22]Aufsatz Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur in umfassendere historische Zusammenhänge.
Weber vertritt die These, dass der Untergang des römischen Weltreichs im Zuge der Einfälle germanischer Barbaren nicht durch die Dekadenz der römischen Kultur und Gesellschaft, sondern durch die Beendigung der römischen Expansionskriege seit dem ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. verursacht worden sei. Die Befriedung des römischen Imperiums habe dazu geführt, dass dem römischen Agrarkapitalismus die erforderlichen billigen Arbeitskräfte fehlten. Dies wiederum, so Weber, bewirkte einen einschneidenden ökonomischen Wandel (Stärkung der Naturalwirtschaft), der grundlegende sozialstrukturelle Folgen gezeitigt habe (z. B. Auflösung von Verwaltung, Heer und städtischer Kultur). Diese historischen Darlegungen arbeitet er später in den verschiedenen Auflagen seines Artikels Agrarverhältnisse im Altertum (1897, 1898, 1909) für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften zu einer vergleichend angelegten Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Altertums aus.
1.3.2 Empirische Untersuchungen für den Verein für Sozialpolitik
In den 1890er Jahren ist Weber auch mit Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung des Deutschen Kaiserreichs befasst. In ihnen thematisiert er die Lage der deutschen Landarbeiter und der Industriearbeiter. Auch die Börse ist Gegenstand seines Interesses. Diese Beiträge zeigen, dass Weber immer eine Doppelrolle einnimmt. Er versteht sich als empirisch arbeitender Wirtschafts- bzw. Sozialwissenschaftler und zugleich als tagespolitisch engagierter Publizist. Wissenschaftliche Erkenntnis und politisches Handeln sind für ihn zwei Seiten einer Medaille.
Im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik unter der Leitung von Gustav Schmoller und Adolph Wagner übernimmt Weber die Auswertung und Deutung einer empirischen Erhebung über die Lage der ostelbischen Landarbeiter. Wirtschaftspolitisch steht diese Erhebung in Zusammenhang mit Kontroversen, die sich am Agrarprotektionismus des Kaiserreichs entzünden. So fordert der Bund der Landwirte als Vertreter der preußischen Großgrundbesitzer eine Aufrechterhaltung der bisherigen Getreideschutzzollpolitik, deren Ziel es ist, die heimischen Agrarproduzenten vor der Konkurrenz billiger Getreideimporte zu schützen. Die SPD hingegen tritt für eine Abschaffung der Schutzzölle ein, um so die Lebenshaltungskosten der Arbeiterschaft zu verringern. Politisch überlagert wird dieses Problem von den Migrationsbewegungen in den ostelbischen Gebieten. Weil die deutschstämmige Bevölkerung abwandert, erlaubt die Regierung auf Drängen der Großgrundbesitzer hin die Einwanderung polnischer Saisonarbeiter, was im Kontrast zur bisherigen Kolonisierungspolitik des Kaiserreichs steht. Dadurch erhält die Landarbeiter-Studie ihre politische Brisanz.
Im Zuge der Arbeit an dieser Studie rückt für Weber die Bedeutung der Börse für die Preisbildung auf dem nationalen und internationalen Getreidemarkt der kapitalistischen [23]Weltwirtschaft in den Blickpunkt. Zeigen die Ergebnisse der Landarbeiter-Studie für Weber die sozialstrukturell und kulturell auflösende Wirkung des modernen Kapitalismus, lässt sich anhand der Börse als Institution des modernen Großhandelsverkehrs die dem Kapitalismus inhärente Veränderungsdynamik dokumentieren: Die Einrichtung der Börsen hat wesentlich den weltweiten Handel und die internationale Marktverflechtung forciert. In seinen Veröffentlichungen (1894, 1896) sucht Weber daher mit politisch-didaktischem Akzent über die Entwicklungsgeschichte der Börse sowie deren grundlegende volkswirtschaftliche Funktion aufzuklären.
Die gesellschaftlichen Folgen der zunehmenden Industrialisierung des deutschen Kaiserreichs thematisiert Weber schließlich in verschiedenen Untersuchungen zur Lage der Industriearbeiter. Zum Kernbestand seiner in der Zeit zwischen 1908 und 1912 fertiggestellten Arbeiten gehört eine im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik unter dem Titel Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie (1908) veröffentlichte Untersuchung zur Industriearbeiterschaft. Insbesondere mit Blick auf die Lebensbedingungen der Industriearbeiter geht Weber der Frage nach, welche Auslese- und Anpassungsprozesse die Beschäftigung in der großindustriellen Produktion für die Arbeiter mit sich bringt. Es geht ihm darum, die Bedeutung des großindustriellen Kapitalismus für die zukünftige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung insbesondere des Deutschen Reichs herauszuarbeiten. Begleitend diskutiert er in einer Aufsatzfolge unter dem Titel Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/09) die einschlägige Literatur zum Thema. Wesentlicher Zweck seines »Literaturberichts« ist es, die von ihm diskutierten neueren naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze einer methodologischen Reflexion zu unterziehen. Dieses Vorgehen betrachtet er als eine notwendige Voraussetzung dafür, die künftige sozialwissenschaftliche Erforschung der Berufs- und Arbeitseignung der Industriearbeiterschaft konzeptionell zielführend voranzubringen.
1.3.3 Methodologische Arbeiten
In seinen methodologischen Arbeiten seit 1903 geht Weber der Frage nach, wie verschiedene kulturwissenschaftliche Disziplinen, wie Ökonomie und Geschichte, aber auch das neue, universitär noch nicht etablierte Fach der Soziologie, als Erfahrungswissenschaften im »strengen Sinne« betrieben werden können. Erfahrungswissenschaftliche Forschung heißt dabei für den kantianisch geschulten Weber, mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe eine »denkende Ordnung der empirisch gegebenen Wirklichkeit« herzustellen (vgl. Kap. 2). Unter dem Sammelbegriff der Kulturwissenschaften fasst er diejenigen Disziplinen, die die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten. Inwieweit einzelne kulturwissenschaftliche [24]Disziplinen systematisierend und verallgemeinernd oder eher historisch-individualisierend ausgerichtet sind, hängt für Weber von den spezifischen Wert- bzw. Erkenntnisinteressen des Wissenschaftlers ab. Er selbst bevorzugt eine grundlegend historisch-individualisierende Ausrichtung (vgl. Kap. 2).