Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket)

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Nicht, dass er dagegen gewettert hätte, er wusste ja, dass es in jeder Generation Kriege gab; er widmete sich diesen Dingen vielmehr auf eine eigentümlich professionelle Art, denn schließlich war er zum Hüter der Toten berufen, ein König des Nicht-mehr.
Father Gaunt selbst war noch jung, und man hätte erwartet, dass er sich den Gefallenen auf besondere Weise verbunden fühlte. Doch Father Gaunt war so glatt und gepflegt, dass menschliches Leid zu ihm gar nicht durchdrang. Er war wie ein Sänger, der zwar die Worte kennt und die Töne halten kann, aber unfähig ist, das Lied so zu singen, wie es im Herzen des Komponisten erdacht wurde. Meistens blieb er unberührt. Über Junge und Alte sprach er mit derselben trockenen Musik hinweg.
Aber ich will nichts gegen ihn sagen. In Ausübung seines Amtes ging er in Sligo überallhin, in der Stadt trat er in düstere Zimmer, in denen verarmte Junggesellen sich an Bohnen aus Dosen mästeten, und am Fluss in verlauste Hütten, die selbst wie alte, verhungernde Männer aussahen, mit verrottendem Stroh als Haar und kleinen, stieren, trüben, schwarzen Fenstern als Augen. Dort ging er hinein, bekanntlich ohne je einen Floh oder eine Laus wieder mit hinauszunehmen. Denn er war reiner als der Tagmond.
Und wenn man ihm in die Quere kam, war ein so kleiner, reiner Mann wie ein Sensenblatt; Gras, Dornengestrüpp und die Halme menschlicher Natur mähte er einfach nieder, wie mein Vater herausfinden sollte.
Es geschah folgendermaßen.
Eines Abends, als mein Vater und ich uns im Tempel die Zeit vertrieben, bis wir zum Abendessen nach Hause zurück kehren sollten, hörten wir draußen vor der alten Eisentür ein Schlurfen und Murmeln. Mein Vater sah mich an, wachsam wie ein Hund, bevor er anschlägt.
»Was ist denn das?«, fragte er, mehr sich selbst als mich.
Drei Männer kamen herein, die einen vierten trugen, und als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangetrieben, fegten sie mich vom Tisch weg, und bevor ich wusste, wie mir geschah, streifte der Rücken meiner Schuluniform den feuchten Kalk der Wand. Die Männer waren wie ein kleiner Wirbelsturm an Betriebsamkeit. Sie waren alle jung, und der Mann, den sie trugen, war bestimmt nicht älter als siebzehn. Ein recht hübscher Kerl, hochgewachsen und in grober Kleidung, mit viel Schlamm und Grasflecken vom Torfmoor, und viel Blut. Sehr viel dünn aussehendes Blut auf seinem Hemd. Und offensichtlich war er mausetot.
Die anderen drei Burschen kläfften und winselten fast hysterisch, was wiederum Hysterie in mir aufkeimen ließ. Mein Vater jedoch stand düster vor seinem Kamin, wie ein Mann, der sich anstrengt, geheimnisvoll zu wirken, das Gesicht so ausdruckslos wie möglich, aber wie ich fand, doch bereit, einem Gedanken nachzugehen und, falls erforderlich, dementsprechend zu handeln. Denn die drei Jungen waren mit alten Gewehren behängt, und ihre Taschen beulten sich von anderen Waffen, die sie vielleicht nach einem Scharmützel wahllos aufgelesen hatten. Ich wusste, Waffen waren die knappste Kriegswährung.
»Was habt ihr vor, Jungs?«, fragte mein Vater. »Es gibt bestimmte Regeln dafür, wie Leichen hier hereingebracht werden, wisst ihr, und ihr könnt nicht einfach aus heiterem Himmel einen Jungen hier abladen. Habt Erbarmen.«
»Mr Clear, Mr Clear«, sagte einer der Männer, ein Bursche mit ernstem Gesicht und mit der Läuse wegen kurz geschorenen Haaren, »wir konnten ihn nirgendwo anders hinbringen.«
»Sie kennen mich?«, fragte mein Vater.
»Ich kenne Sie gut genug. Jedenfalls weiß ich, wes Gottes Kind Sie sind, und die, die es wissen müssen, haben mir gesagt, dass Sie nicht gegen uns sind, anders als so mancher Narr hier in Sligo.«
»Das mag schon sein«, sagte mein Vater, »aber wer seid ihr? Seid ihr Freistaatler, oder gehört ihr zu den andern?«
»Sehen wir etwa aus wie Freistaatler, mit dem halben Bergmoor in den Haaren?«
»Nein, das nicht. Also, Jungs, was wollt ihr von mir? Wer ist der Kerl da?«
»Der arme Mann da«, antwortete derselbe Redner, »ist Willie Lavelle, und er war siebzehn Jahre alt und ist oben auf dem Berg umgebracht worden, von einem Haufen gemeiner, gedankenloser, schändlicher Schweinehunde, die sich Soldaten schimpfen, aber keine sind, und uns schlimmer behandeln als wie irgendein Black and Tan aus dem letzten Krieg. Jedenfalls genauso bös und übel. Denn wir waren so hoch oben auf dem Berg, dass uns bitterkalt war und wir Hunger hatten, und der Junge da hat sich ihnen ergeben, und wir haben uns im Heidekraut versteckt, aber die mussten ihn natürlich schlagen und treten und ihm Fragen stellen. Und gelacht haben sie, und einer hat dem Jungen die Pistole ins Gesicht gehalten, und er war der Tapferste von uns allen, aber bei allem gebotenen Respekt, Mädchen«, sagte er zu mir, »er hatte solchen Schiss, dass er sich in die Hosen gepinkelt hat, denn er wusste es genau, man weiß das immer, sagen die Leute, wenn jemand einen erschießen wird, Sir, und weil die meinten, niemand ist in der Nähe, niemand schaut zu, und niemand sieht ihre Schandtat, haben sie ihm drei Kugeln in den Bauch gejagt. Und sind fröhlich davongezogen, den Berg hinab. Bei Gott, wenn Willie beerdigt ist, nehmen wir ihre Spur auf, stimmt’s, Jungs? – und wenn wir sie finden, machen wir sie fertig.«
Dann tat der Mann etwas Unerwartetes, er brach in heftige Tränen aus, warf sich über den Leichnam seines gefallenen Kameraden und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, wie man ihn weder davor noch danach je gehört hat, obwohl es doch ein kleiner Tempel des Schmerzes war.
»Sachte, John«, sagte einer der anderen. »Wir sind in der Stadt, auch wenn der Leichenacker hier dunkel und still ist.«
Aber der Erste fuhr fort zu jammern und lag auf der Brust des Toten wie – ich wollte schon sagen, wie ein Mädchen, aber so nun auch wieder nicht.
Auf jeden Fall war ich bis zum Kragen meiner Schulbluse von Entsetzen erfüllt, natürlich war ich das. Mein Vater hatte seine Gelassenheit verloren und ging zwischen dem Kamin und seinem Sessel mit den wenigen flachgedrückten alten Kissen aus ehemals rotem Stoff rasch auf und ab.
»Mister, Mister«, sagte der Dritte, ein aufgeschossener, magerer Bursche, der mir noch nie begegnet war und der mit seiner Hose, die ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln reichte, aussah, als sei er geradewegs einem Berghof entsprungen. »Sie müssen ihn sofort beerdigen.«
»Ich kann einen Mann nicht ohne Priester beerdigen, ganz zu schweigen davon, dass ihr bestimmt keine Grabstelle gekauft habt.«
»Wie sollen wir Grabstellen kaufen, wenn wir für die Irische Republik kämpfen?«, fragte der erste Mann, der seine Tränen hinunterschluckte. »Ganz Irland ist unsere Grabstelle. Uns kann man überall verbuddeln. Denn wir sind Iren. Vielleicht verstehen Sie davon nichts.«
»Ich hoffe doch, dass auch ich Ire bin«, sagte mein Vater, und ich wusste, dass die Bemerkung ihn gekränkt hatte. In Wahrheit waren Presbyterianer in Sligo nicht sonderlich gelitten, ich weiß nicht recht den Grund dafür. Es sei denn, es war darauf zurückzuführen, dass in der Vergangenheit eine Menge Bekehrungsarbeit geleistet wurde, im Westen gab es eine presbyterianische Mission und dergleichen, die, selbst wenn ihr kein durchschlagender Erfolg beschieden war, der Gemeinde in Zeiten schrecklicher Hungersnot doch eine Anzahl Katholiken beschert und so unter den Leuten Angst gesät und Misstrauen geschürt hatte.
»Sie müssen ihn beerdigen«, sagte der dritte Mann. »Das da drüben auf dem Tisch ist Johns kleiner Bruder.«
»Das ist Ihr Bruder?«, fragte mein Vater.
Plötzlich war der Mann vollkommen reglos und still.
»Ja«, antwortete er.
»Das ist sehr traurig«, sagte mein Vater. »Das ist wirklich sehr traurig.«
»Und er hat keinen Priester gehabt, der ihn losspricht. Wäre es möglich, einen Priester für ihn zu rufen?«
»Der Priester hier ist Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Ein guter Mann. Wenn ihr möchtet, kann ich Roseanne zu ihm schicken.«
»Aber sie darf ihm nichts verraten, nur dass er herkommen soll, und auf dem Weg darf sie mit niemandem reden, schon gar nicht mit irgendeinem Soldaten des Freistaats, denn wenn sie es tut, werden wir hier alle umgebracht. Sie werden uns ohne viel Federlesens umbringen, genauso wie Willie auf dem Berg, das steht fest. Ich würde Ihnen ja sagen, dass wir Sie umbringen, wenn sie redet, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich fertigbrächten.«
Mein Vater sah ihn erstaunt an. Und es schien eine so ehrliche und höfliche Bemerkung, dass ich mir vornahm, mich an die Anweisung zu halten und mit niemandem zu reden.
»Außerdem haben wir gar keine Kugeln, weswegen wir uns wie die Hasen im Heidekraut versteckt und uns nicht gerührt haben. Ich wünschte, wir hätten uns gerührt, Jungs,« sagte der Bruder des Toten, »und hätten uns aufgerappelt und uns auf sie gestürzt, denn das ist keine Art, in der Welt zu sein: Willie tot und wir am Leben.«
Und er brach wieder zusammen und weinte erbarmungswürdig.
»Lasst man gut sein«, sagte mein Vater. »Ich werde Roseanne zu Father Gaunt schicken. Geh nur, Roseanne, tu, was ich dir sage, lauf zum Pfarrhaus und hol Father Gaunt, sei ein braves Mädchen.«
Also rannte ich hinaus auf den windigen, winterlichen Friedhof und durch die Alleen der Toten und hinaus auf die Kuppe der hügeligen Straße, die nach Sligo hin abfällt, eilte hinab und erreichte schließlich das Haus des Priesters, lief durch sein kleines Eisentor und den Kiesweg entlang und warf mich gegen seine massive Tür, die dunkelgrün gestrichen war wie das Blatt einer Schusterpalme. Nun, da ich mich von meinem Vater entfernt hatte, dachte ich nicht mehr an Brennscheren und Haare, sondern an sein Leben, denn ich wusste, dass die drei Überlebenden Gräuel erfahren hatten, und wer Gräuel erfahren hat, der mag sie mit ebensolchen vergelten, das ist das Gesetz des Lebens und des Krieges.
Gott sei Dank zeigte Father Gaunt schon bald sein hageres Gesicht an der Tür, und ich schnatterte drauflos und flehte ihn an, mitzukommen zu meinem Vater, er werde dort dringend gebraucht, und würde er kommen, würde er kommen?
»Ich werde kommen«, sagte Father Gaunt, denn er war keiner von denen, die vor einem zurückscheuen, wenn man sie braucht, wie so viele seiner Amtsbrüder, die zu stolz sind, um den Regen in ihrem Mund zu schmecken. Und tatsächlich, als wir den Hügel hinaufgingen, schlug uns der Regen ins Gesicht, und bald glänzte die Vorderseite seines langen schwarzen Mantels vor Nässe, und ich auch, denn was mich betrifft, so hatte ich keinen Mantel an gezogen, sondern zeigte der Welt nur meine nassen Beine.
»Welcher Mensch braucht mich denn?«, fragte der Priester misstrauisch, als ich ihn durch das Friedhofstor führte.
»Der Mensch, der Sie braucht, ist tot«, antwortete ich.
»Wenn er tot ist, wozu dann die große Eile, Roseanne?«
»Der andere Mensch, der Sie braucht, lebt noch. Es ist sein Bruder, Hochwürden.«
»Verstehe.«
Auch die Grabsteine auf dem Friedhof glänzten vor Nässe, und auf den Wegen tanzte der Wind, sodass man nicht wusste, wo der Regen einen erwischen würde.
Als wir zu dem kleinen Tempel gelangten und eintraten, hatte sich die Szene kaum verändert: als wären die vier Lebenden und ganz gewiss der Tote, als ich hinausging, eingefroren und hätten sich nicht von der Stelle gerührt. Als Father Gaunt eintrat, wandten ihm die irregulären Soldaten ihre jungen Gesichter zu.
»Father Gaunt«, sagte mein Vater. »Es tut mir leid, dass Sie herkommen mussten. Die Burschen hier haben mich gebeten, Sie rufen zu lassen.«
»Halten sie Sie etwa gefangen?«, erkundigte sich der Priester, erzürnt über den Anblick von Gewehren.
»Nein, nein.«
»Ich hoffe, Sie werden mich nicht erschießen«, sagte Father Gaunt.
»In diesem Krieg ist noch kein Priester nich’ erschossen worden«, antwortete der Mann, den ich bei mir den dritten Mann nannte. »So schlimm es auch ist. Nur der arme Kerl hier ist erschossen worden, Johns Bruder Willie. Er ist mausetot.«
»Ist er schon lange tot?«, fragte Father Gaunt. »Hat jemand ihm den letzten Atemzug genommen?«
»Ich«, antwortete der Bruder.
»Dann schenken Sie ihm seinen Atemzug jetzt wieder«, sagte Father Gaunt, »und ich werde ihn segnen. Und seine arme Seele zum Himmel auffahren lassen.«
Also küsste der Bruder seinen Bruder auf den leblosen Mund und schenkte ihm den letzten Atemzug wieder, den er im Augenblick seines Todes eingeatmet hatte. Und Father Gaunt segnete ihn, beugte sich zu ihm und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.
»Können Sie ihn lossprechen, Hochwürden, damit er geläutert in den Himmel kommt?«
»Hat er einen Mord begangen, hat er in diesem Krieg einen anderen Mann getötet?«
»Im Krieg einen Mann zu töten ist kein Mord. Es ist nur der Krieg selbst.«
»Mein Freund, Sie wissen sehr wohl, dass die Bischöfe uns verboten haben, euch loszusprechen, denn sie haben entschieden, dass euer Krieg unrecht ist. Aber ich will ihn lossprechen, wenn ihr mir versichert, dass er, soweit ihr wisst, keinen Mord begangen hat. Das will ich tun.«
Da blickten die drei einander an. Auf ihren Gesichtern stand eine seltsam dunkle Furcht. Es waren junge Katholiken, und sie fürchteten sich vor diesem Priester, sie fürchteten sich davor, ihm eine Lüge aufzutischen, und sie fürchteten sich davor, in ihrer Pflicht zu versagen, ihrem Kameraden zum Himmel zu verhelfen, und ich bin sicher, dass sich jeder von ihnen auf der Suche nach einer wahrheitsgetreuen Antwort das Hirn zermartete, denn nur die Wahrheit würde den Toten ins Paradies befördern.
»Nur die Wahrheit wird euch dienlich sein«, sagte der Priester, und ich zuckte zusammen, da seine Worte ein Echo meiner eigenen Gedanken waren. Es waren die schlichten Gedanken eines schlichten Mädchens, aber vielleicht ist der katholische Glaube in seinen Grundannahmen ja selbst schlicht.
»Keiner von uns hat ihn irgendetwas Derartiges tun sehen«, sagte der Bruder schließlich. »Sonst würden wir’s sagen.«
»Dann ist es ja gut«, sagte der Priester. »Und Sie haben mein aufrichtiges Beileid. Und es tut mir leid, dass ich fragen musste. Sehr leid.«
Er trat dicht an den Toten heran und berührte ihn mit äußerster Behutsamkeit.
»Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Und alle Anwesenden, mein Vater und ich eingeschlossen, sagten Amen dazu.
FÜNFTES KAPITEL
Dr. Grenes Aufzeichnungen
Es wäre eine sehr gute Sache, wenn ich wenigstens manchmal davon überzeugt wäre, dass ich weiß, was ich tue.
Ich habe das Gesundheitsministerium vollkommen unterschätzt, was ich, um aufrichtig zu sein, nie für möglich gehalten hätte. Man hat mir mitgeteilt, die Bauarbeiten vor Ort würden in Kürze beginnen, am anderen Ende von Roscommon, ein sehr guter Standort, wird mir versichert. Damit aber nicht alles nach guten Nachrichten klingt: Es wird dort nur eine sehr geringe Anzahl von Betten geben, dabei haben wir hier so viele. Tatsächlich gibt es hier Räume mit leeren Betten, nicht weil wir sie nicht füllen könnten, sondern weil die Räume jenseits von Gut und Böse sind, mit einsturzgefährdeten Zimmerdecken und grässlich feuchten Wänden. Alles, was Eisen ist, etwa die Bettgestelle, rostet dahin. All die neuen Betten in dem neuen Gebäude werden hochmodern sein, rostfrei, brandneu und schön, aber es werden weniger sein, sehr viel weniger. Also werden wir wie verrückt aussieben müssen.
Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich versuche, mir anvertraute Geschöpfe zu verstoßen, die fern von mir nicht gedeihen werden. Das mag verständlich sein, zugleich aber bin ich mir selbst suspekt. Ich habe die wirklich idiotische Angewohnheit, meinen Patienten gegen über väterliche, ja sogar mütterliche Gefühle zu hegen. Nach all den Jahren, die, wie ich genau weiß, die Impulse und Instinkte anderer in diesem Bereich tätigen Menschen abtöten, bin ich noch immer geradezu eifersüchtig auf die Sicherheit, auf das Wohl meiner Patienten bedacht, selbst wenn ich an ihren Fortschritten allmählich zweifle. Aber ich bin misstrauisch. Ich frage mich, ob ich, nachdem ich bei meiner eigenen Frau versagt habe, dazu neige, diesen Ort als eine Art Eheschauplatz zu betrachten, an dem ich sündenfrei und unbescholten sein kann, ja, an dem ich (erbärmliches Verlangen) tagtäglich erlöst werde.
Früher bezeichnete man gebrauchte Kleiderstoffe, die nichts mehr taugten, als »unrettbar«. Damals wurden die Anzüge für die Männer und die Kleider für die Frauen an Orten wie diesem aus Stoffspenden angefertigt, Erstere von einem Schneider, Letztere von einer Näherin. Bestimmt dachte man, für die armen Schlucker, die hier wohnten, sei selbst das, was eigentlich »unrettbar« war, immer noch gut genug. Jetzt, da ich wie jeder andere langsam mürbe werde, da ich in dem Stoff, aus dem ich gemacht bin, hier ein Loch finde und dort einen Riss, bin ich auf diesen Ort immer stärker angewiesen. Die Verantwortung für Menschen in tiefer Bedrängnis ist eine versöhnliche Arbeit. Vielleicht sollte ich frustrierter sein über die offensichtlichen Sackgassen der Psychiatrie, die grauenhafte Verschlechterung der Lage jener, die hier vor sich hindämmern, die Unmöglichkeit des Ganzen. Aber Gott steh mir bei, ich bin es nicht. In ein paar Jahren werde ich das Rentenalter erreicht haben, und was dann? Ich werde sein wie ein Spatz ohne Garten.
Wie auch immer, ich weiß, diese Gedanken entspringen aktueller Notwendigkeit. Zum ersten Mal nehme ich die Unverfrorenheit, ich glaube, das ist das richtige Wort, die Unverfrorenheit meines Berufsstandes wahr. Dieses Durch-die-Hintertür, o ja, diese Verschlagenheit. Und nun bin ich, in einem weiteren Anfall von Idiotie, entschlossen, nicht länger verschlagen zu sein. Die ganze Woche über habe ich mich mit bestimmten Patienten unterhalten, darunter einigen ganz außergewöhnlichen Menschen. Mir ist, als würde ich sie für einen bestimmten Zweck befragen, für ihre Ausweisung, ihren Ruin. Als müssten sie, falls sie Wohlbefinden bekunden, ins Exil der segensreichen »Allgemeinheit« verbannt werden. Mir ist durchaus bewusst, dass diese Art zu denken grundverkehrt ist, deswegen versuche ich ja auch, mir hier Luft zu machen. Ich müsste mich genau anders herum verhalten: mich unbeteiligt geben, distanziert, mir bei jeder Gelegenheit Mitgefühl versagen, denn Mitgefühl ist mein schwacher Punkt. Gestern war da ein Mann, ein Bauer aus Leitrim, der früher über vierhundert Morgen besessen hat. Er ist auf eine maßlose, vollendete Weise verrückt. Er erzählte mir, seine Familie sei so alt, dass sie sich über zweitausend Jahre zurückverfolgen lasse. Er selbst, sagte er mir, sei der Letzte seines Namens. Er habe keine Kinder, ganz gewiss keine Söhne, und sein Name werde mit ihm untergehen. Der Name, fürs Protokoll, war Meel, in der Tat ein sehr merkwürdiger Name, vielleicht leitet er sich von dem gälischen Wort für Honig ab, meinte er jedenfalls. Und er ist etwa siebzig, sehr würdevoll, kränklich und verrückt. Ja, er ist verrückt. Psychotisch, um genau zu sein. Und ich entnehme seiner Akte, dass er das Pech hatte, vor Jahren auf einem Schulhof aufgegriffen zu werden, wo er unter einer Bank Schutz gesucht hatte – mit drei toten Hunden, die er sich ans Bein gebunden hatte und die er überallhin mitschleppte. Aber als ich mit ihm sprach, empfand ich nichts als Liebe. Das war lächerlich. Und es ist mir zutiefst verdächtig.
Oft kommen mir meine Patienten wie eine Herde Schafe vor, die einen Hügel hinabstürmen, direkt auf die Klippe zu. Ich müsste ein Schäfer sein, der alle Pfiffe kennt. Ich kenne keinen einzigen. Aber wir werden sehen.
»Wir werden sehen, sagte die Ratte, als sie ihr Holzbein schüttelte.«
Eins von Bets Sprichworten. Was bedeutet es? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es eine Redewendung aus einer berühmten Kindheitsgeschichte, noch so eine berühmte irische Kindheitsgeschichte, die mir, der seine Kindheit in England verbracht hat, nichts sagt. Es ist verblüffend, Ire zu sein und über keine einzige dieser Eigenarten oder Erinnerungen zu verfügen, nicht einmal über einen verdammten Akzent. Niemand auf dieser Welt hat mich je mit einem Iren verwechselt, und doch bin ich, soviel ich weiß, genau das.
Bet in ihrem Zimmer über mir war die ganze Woche mucksmäuschenstill, nicht einmal den BBC World Service hat sie gehört, wie sie es sonst immer tut. Meine Frau. Es war gespenstisch.
Gestern Abend habe ich den Versuch eines Rapprochement unternommen – falls man das Wort so schreibt. Ich zweifle nicht daran, dass ich sie liebe. Warum nützt ihr dann meine sogenannte Liebe nichts, warum gefährdet sie sie sogar? Oh, als ich meinen letzten Eintrag hier überflog, in dem ich mir mehr oder weniger subtil Mitgefühl und Liebe bescheinige – als ich es las, drehte sich mir fast der Magen um –, da habe ich mich so über mich geärgert, dass ich in die Küche ging, wo ich sie gerade dieses schreckliche Zeug zubereiten hörte, das sie abends vor dem Schlafengehen trinkt. Das Stärkungsmittel Complan. Ein in jeder Hinsicht gespenstisches Getränk, das nach Tod schmeckt. Ich meine, Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, Coleridge, wenn ich mich recht erinnere. Ballade vom alten Seemann. Wen kann ich am Ärmel packen, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Früher war es Bet. Jetzt bin ich ärmellos. Und bin sicher, dass ich sie allzu oft am Ärmel gepackt, oder in meinen Worten: von ihrer Kraft gezehrt und ihr nichts zurückgegeben habe. Nun ja, vielleicht. Wir hatten großartige Tage miteinander. King und Queen des Kaffees am Morgen, im Dunkel des Winters, in der Frühsonne des Sommers, die zum Fenster hereinschien, um uns zu wecken. Ach ja, Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die wir geistige Gesundheit nennen oder den Stoff, aus dem Gesundheit ist. Damals machte mich das Gespräch mit ihr – nein, Gott bewahre mich vor Sentimentalität. Die Zeiten sind vorüber. Jetzt sind wir zwei fremde Länder, deren Botschaften sich lediglich im selben Haus befinden. Die Beziehungen verlaufen freundschaftlich, aber streng diplomatisch. Unterschwellig ahnt man Gerüchte, Vorurteile, Erinnerungen, wie zwei Völker, die in einer früheren Generation schwere Verbrechen gegeneinander verübt haben. Wir sind ein baltischer Splitterstaat. Nur dass sie mir, der Teufel soll sie holen, nie etwas angetan hat. Die Scheußlichkeiten kommen samt und sonders aus einer Richtung.
Es war nicht meine Absicht, hier von alledem zu schreiben. Dies sollte eine zumindest halbwegs professionelle Schilderung der Dinge sein, der vielleicht letzten Tage eines unbedeutenden, vergessenen und doch unentbehrlichen Ortes. Des Ortes, an dem ich mein gesamtes Berufs leben verbracht habe. Des wunderlichen Tempels meiner Ambitionen. Ich fürchte mich davor, für die Insassen hier nichts bewirkt zu haben, sie mit zu viel Gefühl betrachtet und dadurch im Stich gelassen zu haben, ich fürchte dies ebenso sehr, wie ich sicher bin, dass ich Bets Leben ruiniert habe. Jenes »Leben«, jene ungeschriebene Geschichte ihrer selbst, die – ich weiß nicht. Ich hatte es nicht darauf angelegt. Ganz ehrlich, ich war stolz, stolz auf meine Treue zu ihr, auf meine Hochachtung vor ihr, meine regelrechte Verehrung für sie. Vielleicht war ich auch ihr gegenüber zu rührselig. Schädliche, chronische Gefühlsduselei. Verdammt, mein Stolz auf sie war mein Stolz auf mich selbst, und das war etwas Gutes. Solange sie eine gute Meinung von mir hatte, hatte ich die allerbeste Meinung von mir selbst. Davon zehrte ich, davon befeuert ging ich jeden Tag zur Arbeit. Wie wunderbar, wie kraftvoll – wie lächerlich. Aber ich würde alles in der Welt darum geben, diesen Zustand wiederzuerlangen. Ich weiß, es ist nicht möglich. Und dennoch. Wenn dieser Kosmos hier erst einmal niedergerissen ist, werden so viele kleine Geschichten mit ihm verschwinden. Im Grunde ist es beängstigend, vielleicht sogar grauenerregend.
Ich ging also in die Küche. Inwiefern ich willkommen war, kann ich nicht sagen. Vermutlich nicht sehr, meine plötzliche Gegenwart musste wohl eher ertragen werden.
Dabei rührte sie gar kein Complan an, vielmehr löste sie in einem Glas einige Tabletten auf, Aspirin oder dergleichen.
»Fehlt dir was?«, fragte ich. »Hast du Kopfschmerzen?«
»Mir geht’s ganz gut«, sagte sie.
Ich weiß, dass sie im Januar vor einem Jahr einen kleinen Schreck bekommen hatte. Sie war beim Einkaufen auf der Straße ohnmächtig geworden, und man hatte sie nach Roscommon ins Krankenhaus gebracht. Sie musste den ganzen Tag dableiben und wurde untersucht, und am Abend rief mich ganz arglos einer der Ärzte an, ich solle sie abholen. Vermutlich glaubte er, ich wüsste, dass sie dort war. Ich war äußerst beunruhigt. Als ich den Wagen aus der Einfahrt setzte, hätte ich fast einen Unfall gebaut, fast den Pfeiler gerammt, ich fuhr wie ein Mann, der seine schwangere Frau nachts ins Krankenhaus bringt, wenn die legendären Wehen einsetzen, nicht, dass sie die je durchgemacht hätte, und vielleicht liegt da ja der Hund begraben.