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»Ich hielte es für das Beste, wenn du von hier fortgingest«, wagte Johanna einen Vorstoß.
Sophie riss die Augen auf. »Von hier fortgehen? Aber wohin denn?«
»Vielleicht nach Konstanz, zu Vater und Mutter.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Johanna. Ich kann mich nicht im Haushalt meiner Schwester verstecken.«
»Warum nicht? Es wäre das Sicherste.«
»Ich will mich nicht beugen, ich möchte nicht davonrennen. Das habe ich noch nie getan.«
»Dann wird es Zeit, dass du es lernst. Du darfst nicht glauben, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn du gehst. Es wäre eher trotzig und unverantwortlich, wenn du bliebest. Du hast Raphael gegenüber eine Verantwortung.«
Sophie sah sie nachdenklich an. »Sobald dem Jungen auch nur die kleinste Kleinigkeit passiert, werde ich gehen, das verspreche ich dir. Aber vorher nicht.«
»Wenn ihm bereits etwas passiert ist, ist es zu spät«, erwiderte Johanna heftig.
Sophie wandte den Kopf zur Seite. Ihr kam eine ganz andere Idee: Wenn sie schon gehen musste, warum dann nicht zu ihrem Bruder Siegfried und seiner Frau Luise ins Ruhrgebiet? In die Höhle des Löwen sozusagen? Dort wusste immerhin keiner außer Siegfried und Luise, dass Raphael Halbfranzose war. Und die beiden würden sie nie verraten. Sophie wagte zwar immer noch nicht daran zu glauben, dass Pierre unter den französischen Besatzern sein könnte, sie war sich nach wie vor fast sicher, dass er im Krieg gefallen war, aber es war zumindest der Hauch einer Chance.
Sophie war in der Zwickmühle. Einerseits lastete die Verantwortung für Raphael schwer auf ihr und sie wollte ihn keinesfalls in Gefahr bringen, andererseits war da diese unbändige Wut, die Entschlossenheit, sich nicht kleinkriegen zu lassen – von wem auch immer. Und die schwache Hoffnung, dass Pierre unter den Besatzern sein könnte und sie ihn eines Tages durch Zufall wiedersehen würde.
Sie wusste aber, dass Johanna von ihren Plänen nicht begeistert sein würde. Und momentan fehlte ihr die Kraft für große Diskussionen. Deshalb seufzte sie nur und sagte ausweichend: »Ich muss darüber nachdenken.« Sie schloss die Augen. »Ich muss erst mal mit all dem ins Reine kommen.«
»Gut«, erwiderte Johanna. »Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da, Sophie. Jetzt lasse ich dich allein.«
Sophie nickte dankbar. Als Johanna gegangen war, stand sie zum ersten Mal, seit ihr der Stein an den Kopf geflogen war, auf und ging ans Fenster. Sie ignorierte die Schwäche in ihren Beinen und den erneuten dumpfen Schmerz in ihrem Kopf. Dann zog sie ihr Notizbüchlein hervor und schrieb:
Was soll ich nur tun? Lieber Gott, was soll ich nur tun?
16. Kapitel
München, Bayern, 23. Januar 1923
»Wenn das nicht die kleine Marlene ist.«
Marlene zuckte zusammen, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Bisher hatte sie sich schrecklich unwohl gefühlt. Seit sie in diesem Lokal angekommen waren, in dem alle Bier aus riesigen Krügen tranken, seit Lisbeth ihren Verlobten und ihre anderen Freunde getroffen hatte, fühlte sie sich wie eine Außenseiterin. Und sie war es auch. Lisbeth bemühte sich zwar nach Kräften, sie immer wieder ins Gespräch zu ziehen, aber sie kam einfach aus einer anderen Welt. Sie wusste nichts von ihren Themen, ja, sie verstand nicht einmal ihren Dialekt. Und nun also die Hand auf ihrer Schulter. Die Stimme kam ihr entfernt bekannt vor. Sie wandte sich um und blickte in die Augen ihres Schwagers. Wie lange war es her, dass sie den Bruder des Mannes ihrer Schwester – war das überhaupt ein Schwager? – zum letzten Mal gesehen hatte? Zwei Jahre? Drei? Sie hatte nicht gewusst, dass er so gut aussah. So männlich und so markant. Marlene spürte, wie ihr Herz schneller schlug, merkte auch, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Zum Glück war Andreas schnell abgelenkt, er wurde von den anderen herzlich begrüßt, schien dazuzugehören zu ihrem Freundeskreis. Wie klein die Welt doch ist, dachte Marlene.
Sie sprachen den ganzen Abend kein Wort mehr miteinander, aber ihre Blicke verfingen sich immer wieder, und Marlene kramte in ihrem Gedächtnis, was sie über diesen Schwager wusste. Johanna und ihr Mann Sebastian konnten ihn nicht leiden, das hatte sie noch ganz deutlich in Erinnerung. Aber warum nicht? So angestrengt sie auch überlegte, sie kam nicht darauf. Aber an eines erinnerte sich Marlene mit einem Mal: dass Andreas eigentlich auch am Bodensee lebte, verheiratet war und zwei Kinder hatte. Diese Erkenntnis traf sie mit ungeheurer Wucht, es fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen. An der Faszination, die Andreas auf sie ausübte, änderte das nichts.
Und als er am 28. Januar mit der SA auf dem Marsfeld aufmarschierte, stand Marlene am Wegesrand und warf ihm bewundernde Blicke zu.
17. Kapitel
Deauville, Frankreich, 26. Januar 1923
Pierre Didier öffnete vorsichtig die Tür zur Küche und sah Michelle am Tisch sitzen. Er hatte Angst, denn er wusste: Was jetzt kam, würde über sein künftiges Leben entscheiden. Obwohl er nach dem letzten Gespräch entschlossen gewesen war, sich von ihr zu trennen, und das Gefühl gehabt hatte, sie nicht einen Tag länger ertragen zu können, hatte er sich doch entschieden, ihr einen Neuanfang anzubieten. Er hatte Hemmungen, einfach so fortzugehen, so sehr er sich auch nach Sophie sehnte und so sehr Michelle ihn anwiderte. Außerdem waren da noch die beiden Kinder …
Zögernd stieß er die Tür ganz auf.
Michelle blickte auf und musterte ihn kalt.
Ich glaube, ich muss erfrieren neben dieser Frau, dachte Pierre, doch er zwang sich zu einem Lächeln.
»Guten Morgen, Michelle«, sagte er höflich und beugte sich zu ihr herunter, um sie auf die Wange zu küssen.
Michelle ließ es geschehen, erwiderte aber weder seinen Gruß noch seinen Kuss. Sie rührte sich nicht.
»Wo sind die Kinder?«
»Mit dem Kindermädchen im Park, wie jeden Morgen«, antwortete Michelle kühl.
»Ach ja, richtig, wie dumm von mir.« Pierre fühlte sich immer unwohler in seiner Haut.
»Michelle, ich muss etwas mit dir besprechen.«
Michelle sah auf. Sie verzog noch immer keine Miene, aber an dem leisen Flackern in ihrem Blick bemerkte er, dass sie doch nicht ganz so gleichgültig war, wie sie sich gab. Dass sie nur eine Maske aufgesetzt hatte und hinter dieser immer noch die verzweifelte Frau war, die so leicht in Tränen ausbrach.
»Ja?« Sie blätterte mit gelangweilter Miene und sorgsam manikürten Fingernägeln in der Zeitschrift, die vor ihr auf dem Küchentisch lag.
»Ich bin wieder einberufen worden«, erklärte Pierre geradeheraus. »Ich muss mit den Besatzungstruppen nach Deutschland.«
Michelle sagte kein Wort.
Pierre starrte in ihr sorgfältig geschminktes Gesicht und suchte nach einer Regung. Er fand keine.
»Michelle?«, fragte er. »Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«
Michelle sah auf und ihm gerade in die Augen. Sie hatte sich bestens im Griff. Kein Zucken verriet ihre wahren Gefühle. »Natürlich habe ich dich verstanden.«
»Und was sagst du dazu?«
»Nun, ich gratuliere dir.« Es klang desinteressiert und gelangweilt.
Pierre war fassungslos. »Du gratulierst mir? Aber warum? Du weißt doch genau, dass ich von dieser Ruhrbesetzung alles andere als begeistert bin. Ich freue mich keineswegs, in die Besatzungstruppe abkommandiert zu sein.«
»Dann nehme ich meine Gratulation selbstverständlich wieder zurück.« Michelle wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu.
Pierre spürte den wohlvertrauten Zorn in sich aufsteigen, der immer irgendwann durchbrach, wenn er länger mit seiner Frau sprach. »Michelle, was soll das alles?«, fragte er, mühsam beherrscht.
»Was … alles?«, fragte Michelle scheinheilig.
»Du weißt genau, was ich meine. Warum spielst du mir etwas vor und sagst mir nicht endlich, was du wirklich denkst?«
»Ich glaube nicht, dass dich das interessieren würde«, erwiderte sie spitz. »Außerdem möchte ich dich nicht damit belasten, was ich denke oder fühle.«
»Michelle!«
»Nein, Pierre. Ich meine es ernst.« Zum ersten Mal ließ sie eine Regung erkennen und sah ihm in die Augen, wenn sie den Blick auch kurz darauf wieder senkte. »In den letzten Jahren hast du mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich dich nicht interessiere und dass du immer noch an diese Deutsche denkst. Und jetzt kannst du es nicht ertragen, dass ich mich von dir zurückziehe.«
»Michelle …«
Wieder unterbrach sie ihn. »Ich habe dir gratuliert, weil du nun endlich einen Grund hast, nach Deutschland zurückzukehren und das zu tun, was du schon immer wolltest: nach deiner Sophie suchen.«
Pierre spürte, wie sein Herz bei der bloßen Erwähnung von Sophies Namen heftig zu schlagen begann. Aber er unterdrückte die Hoffnung, sie wiederzusehen.
»Und ich gratuliere dir, dass du uns endlich los bist. Darauf hast du doch immer gehofft.«
»Nein, Michelle, das ist nicht wahr.«
»Dann geh doch!«, Michelle hatte nun vollkommen die Beherrschung verloren. »Geh, aber ich will dich nie, nie wiedersehen, und die Kinder wirst du auch nicht mehr zu sehen bekommen. Du kannst ja mit Sophie welche haben.«
»Bitte, Michelle, lass uns doch vernünftig …«
»Geh mir aus den Augen!«, schrie Michelle hysterisch. »Sofort!«
Pierre erhob sich langsam.
»Ich fahre heute noch zu meiner Mutter«, fuhr Michelle, jetzt ein wenig gefasster, fort. »Falls sie mich noch nimmt, denn deinetwegen habe ich ja auch sie beinahe verloren. Die Kinder nehme ich mit. Und wenn ich zurückkomme, dann erwarte ich von dir, dass du verschwunden bist.«
»Michelle, das geht doch nicht so einfach. Wir sind verheiratet und ich möchte die Kinder nicht aufgeben.«
Michelle verlor die Kontrolle über sich. Sie kreischte wüste Beschimpfungen, und Pierre floh aus dem Haus.
Ich werde das klären, wenn sie sich etwas beruhigt hat, dachte er. Ich werde meine Kinder nicht aufgeben, ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.
Aber während er die breite Straße hinunterging, die von den eleganten Häusern der Pariser Elite gesäumt war, fühlte er eine große Erleichterung in sich aufsteigen, wie ein Vogel, den man nach vielen Jahren im Käfig endlich freigelassen hatte.
In diesem Moment war er sich sicher, dass er Sophie wiederfinden würde. Er würde nach ihr suchen. Und was die Ehe mit Michelle anging, da würde es sicher eine Lösung geben.
Die Worte, die Michelle ihm nachgerufen hatte, hatte er vergessen oder sie zumindest tief in seinem Unterbewusstsein vergraben.
»Du wirst noch bereuen, was du mir angetan hast, Pierre«, hatte sie geschrien. »Du wirst deines Lebens nicht mehr froh, das schwöre ich dir.«
18. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Als Johanna die Treppe zur Küche hinunterstieg, sah sie durch das kleine Fenster am Treppenabsatz ihren Großvater und Raphael durch den Garten auf das Haus zukommen.
Seltsam, wunderte sie sich. Es ist doch erst zehn Uhr und der Unterricht müsste in vollem Gange sein! Beunruhigt lief sie die Treppen ganz hinab und öffnete die Tür. Erst jetzt bemerkte sie, dass Raphael völlig verstört war.
»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«, rief sie erschrocken.
Als sie ihren Großvater anblickte, erschrak sie noch mehr, denn das sonst so gütige, ruhige Gesicht war wutverzerrt und die stets humorvollen Augen glühten vor Zorn.
Raphaels Miene hingegen schien regelrecht erstarrt, und an der Rötung seiner Augen konnte sie erkennen, dass er geweint hatte.
»Raphael, was ist denn los?«, fragte Johanna und wollte ihn in die Arme nehmen. Aber der Junge riss sich los und rannte ins Haus.
Johanna sah ihren Großvater irritiert an. »Nun sag doch endlich, was passiert ist!«
»Diese Schweine!«, zischte Friedrich durch die Zähne. »Diese gottverdammten Schweine!«
Johanna zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Schimpfwörter aus seinem Mund waren selten.
»Wer, Großvater? Wer?«
Doch der alte Mann schüttelte nur den Kopf und sah sie an, als bemerke er sie jetzt erst. Er schien nicht fähig, in Ruhe zu berichten.
Johanna nahm ihn beim Arm. »Großvater«, sagte sie eindringlich. »Willst du mir nicht endlich sagen, was geschehen ist?«
»Sie haben auf Raphaels Schulbank ›Franzosenschwein‹ geschrieben«, berichtete Friedrich mit bebender Stimme. »Alle seine Hefte waren zerrissen oder mit Tinte beschmiert. Als er ins Klassenzimmer kam, haben seine Kameraden ihn angespuckt und getreten, so berichtete jedenfalls der Klassenlehrer. Er hat mich dann gleich geholt.«
»Oh nein«, flüsterte Johanna. »Also doch. Der arme Junge.«
»Ich habe es auch schon befürchtet«, gestand Friedrich. »Aber ich habe mich damit zu beruhigen versucht, dass ich mir sagte, die Leute können nicht so blöd sein, ihre Kinder in diese Angelegenheit mit hineinzuziehen.«
»Aber wusste Raphael denn überhaupt, wie ihm geschah? Ich meine, er denkt doch bis heute noch, dass sein Vater ein deutscher Soldat war, der im Krieg gefallen ist.«
»Nein, er versteht die Welt nicht mehr.«
»Was soll jetzt nur werden?«, flüsterte Johanna hilflos.
»Die Sache ist klar«, erklärte der alte Schuldirektor. »Sophie muss mit dem Jungen die Stadt verlassen.«
»Aber wenn sie nicht will?«
»Sie wird. Verlass dich drauf«, beharrte Direktor Seiler grimmig. »Ich werde nicht zulassen, dass sie sich und meinen Enkel aus purem Trotz in Gefahr bringt.«
Johanna schwieg und dachte an Raphael.
»Und was wird aus dem Jungen?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, er muss jetzt die Wahrheit erfahren und diese wird ihn treffen wie ein Schlag.«
»Er ist nicht feindlich gegen die Franzosen eingestellt. Er hat nur ein paar Mal die Sprüche der anderen nachgeplappert.«
»Das nicht, aber nur, weil wir es nicht sind. Von der Außenwelt bekommt er immer wieder eingetrichtert, wie schlecht sie sind.«
»Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn du mit ihm reden würdest«, sagte Friedrich nachdenklich. »Raphael vertraut dir und du hast eine bemerkenswerte Fähigkeit, solche Gespräche zu führen.«
»Du meinst, ich soll ihm beibringen, dass …«
»Ja.«
»Vielleicht hast du recht«, lenkte Johanna ein. »Sophie ist zu sehr in diese Geschichte verwickelt.« Sie straffte die Schultern. »Ich werde mit ihm reden. Aber nur mit Sophies Segen. Ich werde sie fragen.«
»Tu das«, sagte der alte Schuldirektor. »Aber erst gehe ich zu ihr.«
Johanna starrte ihm nach, wie er das Haus betrat und mit schweren Schritten die Treppe hinaufging. Mit einem Mal stieg Ärger in ihr auf. »Warum muss immer ich die schwierigen Gespräche führen?«, murmelte sie wütend. »Gerade erst habe ich das mit Sophie hinter mich gebracht und jetzt steht schon wieder eines an … Ich weiß nicht, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich ganz schön ausnutzen lasse.«
19. Kapitel
Essen, Ruhrgebiet, 5. Februar 1923
Der Offizier Pierre Didier war erst seit zwei Tagen als französischer Besatzer im deutschen Ruhrgebiet, als er schon das Gefühl hatte, es nicht länger ertragen zu können. Weder die verachtungsvollen Blicke, die ihm die deutschen Bürger zuwarfen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, noch die Schilder, die in den Schaufenstern der Läden und Cafés hingen und auf denen stand: ›Franzosen werden hier nicht bedient.‹ Als er das letzte Mal in Deutschland gewesen war, war er als interessierter Berichterstatter, als Journalist, gekommen und als Liebender gegangen. Ein deutsches Mädchen hatte er geliebt, Sophie, seine Sophie. Und nun kam er als Feind, als Mitglied der Besatzungsmacht. Nach dem Krieg hatte er mit der Naivität eines Liebenden gedacht: Jetzt ist alles gut. Jetzt werde ich sie bald wiedersehen, meine geliebte Sophie. Obwohl er soeben erst geheiratet hatte und seine Frau schwanger war, war er optimistisch gewesen. Er hätte wissen müssen, dass es nicht einfach werden würde. Ihm hätte klar sein müssen, dass der Krieg zu viel zerbrochen hatte, als dass es wieder eine Normalität geben könnte. Wird denn niemals wieder Frieden einkehren?, fragte Pierre sich verzweifelt.
Er ertrug die feindselige Ablehnung der Deutschen nicht und er ertrug auch die Anweisungen seiner Regierung nicht, hart gegen die Bevölkerung vorzugehen und auf Demonstranten zu schießen. Erst gestern hatte er Befehl erhalten, eine Gruppe demonstrierender Deutscher auseinanderzutreiben. Mit Gewalt. Mit Artillerie. Er hatte nicht geschossen, er hatte es einfach nicht gekonnt. Aber seine Kameraden hatten gefeuert, und Pierre hatte gesehen, wie ein Schüler, der höchstens elf Jahre alt war, blutend zusammenbrach. Er hatte gedacht: Der Junge war vielleicht drei Jahre alt, als hier alles noch in Ordnung war, als ich noch in Frieden in diesem Land lebte und von der Bevölkerung zuvorkommend und freundlich behandelt worden bin. Zwar waren die Deutschen und die Franzosen auch damals keine Freunde gewesen, aber sie gingen wenigstens einigermaßen zivilisiert miteinander um. Wie hatte sich die Welt doch verändert! Und vor allem – was brachte das alles? Die Deutschen hatten nach der Besetzung des Ruhrgebietes ihre Kohlelieferungen an Frankreich vollständig eingestellt und die französische Regierung somit genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte.
Er dachte an die Frau, die er vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hatte und die auch zu der Bevölkerung gehörte, die nun unter der Besetzung zu leiden hatte. Und er hoffte, dass sie sich nicht der allgemeinen Stimmung angeschlossen hatte. Dass sie ihn nicht hasste. Er würde seinen Plan, sie zu suchen, in die Tat umsetzen, beschloss er.
Aber durfte er das denn? Würde er sie damit nicht nur unnötig in Gefahr bringen, jetzt, da der Franzosenhass so hohe Wellen schlug? Er hatte von deutschen Frauen gehört, die von der aufgebrachten Bevölkerung beinahe massakriert worden waren, weil man sie mit Franzosen gesehen hatte.
Aber er hatte jahrelang auf diese Chance gewartet.
Ja, er würde sie suchen, seine Sophie.
20. Kapitel
Überlingen, Bodensee, 5. Februar 1923
Johanna hämmerte an Raphaels Zimmertüre. »Raphael, bitte, mach doch die Tür auf!«
Der Junge antwortete nicht und es war nur lautes und verzweifeltes Schluchzen zu hören.
»Bitte, Raphael, lass uns darüber reden.«
Oh nein, dachte Johanna, als wieder keine Antwort kam, was soll ich nur tun?
»Raphael, ich möchte dir doch helfen!«, rief sie flehend.
Das Bett knarrte, und Johanna hörte, wie Raphael durch das Zimmer zur Tür ging. Der Schlüssel wurde herumgedreht und dann stand der Junge vor ihr.
Es schnitt Johanna ins Herz, als sie sein verzweifeltes kleines Gesicht sah. »Darf ich hereinkommen?«, fragte sie vorsichtig.
Raphael nickte schniefend und trat einen Schritt zurück.
Johanna ging ins Zimmer und ließ sich auf seinem zerwühlten Bett nieder.
»Komm«, sagte sie, »setz dich neben mich.«
Raphael folgte der Aufforderung. Er saß sehr aufrecht, fast steif, und war sichtlich um Fassung bemüht.
»Möchtest du mir davon erzählen?« Johanna achtete darauf, den Jungen nicht anzusehen oder zu berühren.
Raphael schwieg und starrte auf seine Fußspitzen. »Warum haben sie das getan?«, fragte er schließlich so leise, dass Johanna Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich gehöre doch dazu. Warum sind sie über mich hergefallen? Sie sind böse. Kennen sie denn die Franzosen überhaupt, dass sie so über sie schimpfen?«
In Johannas Kopf arbeitete es fieberhaft. Wie sollte sie es Raphael nur beibringen? Sie musste es ihm so sagen, dass er nicht das Gefühl bekam, es sei eine Schmach.
»Menschen, die so etwas tun, sind dumm«, sagte sie schließlich hilflos. »Die Franzosen sind nicht schlecht.«
»Das weiß ich«, sagte Raphael. »Aber in der Schule schimpfen alle auf sie.«
»Im Moment verstehen sich die Franzosen und die Deutschen nun mal nicht so gut«, erklärte Johanna ruhig. »Aber das macht weder sie noch uns zu schlechteren Menschen. Ich streite mich auch manchmal mit jemandem, ohne dass ich dadurch gleich zu einem Bösewicht werde.«
Raphael schwieg nachdenklich. »Stimmt«, sagte er dann. »Gestern habe ich mich auch mit Susanne gezankt. Aber Susanne ist nicht böse. Und ich auch nicht, oder?«
Johanna schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst und wartete auf die nächste Frage, die unvermeidlich kommen musste.
Da fragte Raphael auch schon. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum sie mich ›Franzosenschwein‹ genannt haben. Irgendwie ist das seltsam. Erst die Einbrecher und jetzt das.«
Johanna sah ihn erschrocken an. Ahnte der Junge, dass mehr hinter dem Einbruch steckte?
»Ich meine, ich weiß, dass die Jungs blöd waren, als sie auf die Franzosen schimpften. Aber warum haben sie mich beschimpft?«
Johanna schluckte und holte dann tief Luft. »Es gibt da etwas, was du wissen solltest, Raphael«, begann sie vorsichtig.
*
Sophie lag hemmungslos schluchzend in ihrem Bett. Immer wieder murmelte sie zwischen den Schluchzern die Frage, die sie sich in den letzten Tagen so oft gestellt hatte. »Was soll ich nur tun? Oh Gott, was soll ich nur tun?«
»Ich glaube, das weißt du sehr gut selbst, Sophie«, sagte ihr Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß, ernst. »Du hast nicht viele Möglichkeiten.«
»Du meinst, ich soll Überlingen mit Raphael verlassen?«
»Ja«, erwiderte Friedrich schlicht. »Du bist für den Jungen verantwortlich.«
»Es ist ihm ja nichts geschehen«, murmelte Sophie in ihr Kissen.
»Wie bitte?«, fragte Friedrich mit unterdrückter Wut in der Stimme. Er sprang auf und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Was ist denn nur los mit dir? Das nennst du ›nichts geschehen‹? Wann wäre denn in deinen Augen ›etwas geschehen‹? Wenn er zusammengeschlagen im Krankenhaus läge?«
»Bitte, Vater«, schluchzte Sophie. »Du hast ja recht … Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
»Sophie«, sagte Friedrich eindringlich. »Du hast nicht nur die Verantwortung für Raphaels körperliches Wohlergehen, sondern auch für sein seelisches. Selbst wenn sie ihn nicht zusammenschlagen, so sind diese Erlebnisse für ihn schrecklich und werden ihn prägen. In diesen Minuten sagt Johanna ihm, dass sein Vater Franzose ist. Glaubst du denn, es ist einfach für ihn, zu erfahren, dass sie ihn aufgrund dessen so behandeln? Es könnte seine ganze Entwicklung beeinträchtigen.«
»Vater«, flehte Sophie. »Hör bitte auf. Ich weiß ja, ich weiß.«
»Was wirst du also tun?«, fragte Friedrich streng.
»Überlingen verlassen.« Sie sagte ihm nicht, dass sie keineswegs nach Konstanz gehen wollte, wie ihr Vater dachte, sondern ins Ruhrgebiet zu Luise.
Friedrich atmete tief durch. »Gut«, sagte er, ruhiger geworden.
»Ach, Vater, was meinst du, wie wird er es aufnehmen?«, fragte Sophie bang.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Schuldirektor auf seine bedächtige Art. »Aber du kannst sicher sein, dass Johanna ihr Möglichstes tun wird, um es ihm so zu sagen, dass er es als das auffasst, was es ist: nicht als Schande, sondern als ganz normale Tatsache. Die Zeit, in der wir leben, ist verrückt, nicht die Sache an sich.«
»Aber es ist so viel geschehen!«
»Es bleibt dir nichts anderes übrig, als abzuwarten.«
Sophie nickte. »Ich weiß, aber das ist gar nicht so einfach.«
21. Kapitel
München, Bayern, 5. Februar 1923
Die Tage vor Lisbeths Hochzeit waren angefüllt mit aufgeregtem Treiben. Und Marlene war mittendrin. Es musste letzte Hand an die Aussteuer gelegt werden – Lisbeths Mutter bestand darauf, jede einzelne Serviette mit den Initialen ihrer Tochter zu versehen. LB. Lisbeth Böttcher. Lisbeth selbst interessierte sich nur für ihr Brautkleid, drehte sich, wenn die Schneiderin kam, wie ein Pfau hin und her und fragte Marlene ein ums andere Mal, ob sie glaube, dass ihr Bräutigam Gefallen an ihr in dem Kleid finden würde, was Marlene jedes Mal mit einem halbherzigen »Aber natürlich, meine Liebe« bestätigte, um dann wieder in ihre Träume zu versinken. Träume von Andreas. Lisbeth in ihrer Aufregung merkte nicht, wie es um die Freundin stand. Sie bemerkte nicht einmal, dass Marlene verzweifelt versuchte herauszufinden, ob er auch zur Hochzeit kommen würde. Mit Fragen, die zu beiläufig gestellt waren, als dass sie wirklich harmlos hätten sein können. Und dann – Lisbeth saß gerade vor ihrem Schminktisch und bürstete ihre goldenen Haare wie jeden Abend mit 100 Strichen, weil ihre Mutter ihr in ihrer Kindheit beigebracht hatte, dass sie dann einen betörenden Glanz entfalteten – sagte sie wie nebenbei den ersehnten Satz: »Ach, übrigens, Andreas wird auch da sein.« Marlene hätte beinahe die Stickerei fallen lassen. Lisbeths Mutter hatte sie ihr aufgedrängt, man werde sonst vor der Hochzeit nicht fertig.