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Da aber am Tatort Zangen zu sehen waren, gehe ich bis heute davon aus, dass sich die Rohrsoldaten ihr Werkzeug schon vor dem Schlusssatz meiner Rede besorgt hatten. Der nächste Obi nämlich liegt etliche Kilometer entfernt. So war es an diesem 20. Juni wohl ein anderer Agent als ich, der beweisen wollte: Auf dem Weg zur Freiheit ist mein Freund, der Zaun, kein Hindernis.
Der Vollheutige
Viel bin ich nicht herumgekommen in den vergangenen Tagen. Bad Berg. Dachswald. Sofa. Auf dem Sofa las ich eine Kurzgeschichte von James Salter: »Es war eigentlich wie in einer Ehe, uninteressant, aber was gibt es sonst?«
Das gab mir Hoffnung. Ich führe keine Ehe.
Die Schwierigkeiten von Beziehungen fangen an, bevor die Beziehungen beginnen. An der Haltestelle Berliner Platz hörte ich einen Jungen zu einem Mädchen sagen: »Warum nimmst du mich nicht mit zu dir nach Hause? Schließlich habe ich das Essen bezahlt!«
Junge, wollte ich sagen, du warst beim falschen Koch. Der Junge sah stärker aus als ich. Seinen Satz, er habe das Essen umsonst bezahlt, schrieb ich in mein Notizbuch. Wenn tagelang nichts in mein Notizbuch wandert, war das Leben wie in einer Ehe.
Am Sonntag, als es sonst nichts gab, sah ich mir den amerikanischen Dokumentarfilm Inside Job an, er handelt von den Gründen des Börsendesasters 2008. In dem Film sagt ein Banker: Die wenigen Experten, die davor gewarnt haben, dass die Blase platzt, hat man als Ewiggestrige verspottet. Der Ewiggestrige schlug bei mir ein. Ich kenne das Wort. Der Ewiggestrige ist ein politischer Kampfbegriff, ein Totschlagargument. Ständig versucht das Zockerpack, Gegner und Opfer des Blasenplatzens als Hinterwäldler, Waldschrate, Hippies zu verspotten.
Leute, die andere Leute Hippies nennen, haben keine Ahnung, wo das Wort Hippie herkommt. Was es bedeutet. Wer anderen Leuten unterstellt, ewiggestrig zu sein, weiß so gut wie nie etwas über das Gestern. Vom Ewigen ganz zu schweigen. Woody Allen sagt: Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.
Ich frage mich: Was kommt eigentlich nach der Zukunft?
Neulich hat mir ein Fortschrittlicher seine Erkenntnis gemailt, Leute, die gegen S 21 protestierten, seien »Nostalgiker«. Und weil er nicht genau wusste, was das ist, lieferte er kopierte Textstellen aus Wikipedia mit: Nostalgiker, ist da zu lesen, verklärten die Vergangenheit. In einem eigenständig formulierten Satz fügte er hinzu: Leute, die gegen Stuttgart 21 protestierten, hörten nur Jimi Hendrix und Rolling Stones.
Wer solche Klugheiten über den Ewiggestrigen verbreitet, ist ein Vollheutiger.
Ich antwortete dem Vollheutigen, es sei noch schlimmer, als er denke: Manche dieser Leute hörten sogar Mozart und Bach. Bis heute hätten sie nicht das Zeitgemäße und Morgige von Florian Silbereisen erkannt.
Lustig, wenn ich bei Ratzer Records in der Altstadt neue Schallplatten gekauft habe und mit meiner Tüte nach Hause gehe. So gut wie immer treffe ich unterwegs einen Vollheutigen, der mich fragt, ob ich »wieder alte Scheiben« gekauft hätte, von Hendrix, den Rolling Stones und so. Wenn ich antworte, ich hätte mir gerade brandneue Vinyl-Produkte von blutjungen Musikanten besorgt, alle erst gestern aufgenommen und heute veröffentlicht, schaut mich der Vollheutige mitleidig an. Er denkt, ich leide an Alzheimer.
Mein Hinweis, der Ewiggestrige könne mithilfe seiner LP die Musik sogar im Internet herunterladen oder als CD hören, bringt den Vollheutigen vollends aus der Fassung. Woher soll er wissen, dass CD oder Download-Code oft serienmäßig im LP-Cover liegen? Der Vollheutige ist bis heute nicht im Heute angekommen. Jeder Musiker, der etwas auf sich halte, sage ich zum Vollheutigen, bringe seine Musik auch auf Vinyl heraus. Eine Frage des Stils. Der Vollheutige glotzt ungläubig.
Ich sage: Vinyl ist wie Sex. Nicht vom Internet abhängig, zum solistischen Herunterladen geeignet, aber auch bei zwischenmenschlichen Angelegenheiten von Vorteil. Ein Essen auszugeben ist ja heute keine so sichere Sache mehr.
Verstehst du, sage ich zum Vollheutigen, einer LP-Hülle die Plastikfolie abzustreifen, die dichte Pressung mit heißen Fingern zu streicheln, das Ding in den Händen zu halten, die Scheibe samt Booklet herauszuziehen, die Nadel richtig anzusetzen, das ist ein haptisches Erlebnis, erregender als deine Ehe, wo es sonst nichts gibt.
Früher, als es Vinyl und keine CDs und keine Computer gab, hat mich diese Erfahrung nicht angemacht. Oft ist mein Schwarzes Gold in Whiskey-Cola geschwommen und kaputt gegangen. Heute bin ich scharf auf die Dinger. Beim ewiggestrigen Elektrogeschäft Dräger in der Hauptstätter Straße habe ich mir einen nagelneuen Plattenspieler gekauft. Damit höre ich Musik, die es heute ohne Mozart und Hendrix nicht gäbe.
Der Ewiggestrige – um die Sache abzuschließen – ist ein Außerirdischer, der Vinylplatten hört und Filme im Kino schaut, Bücher liest, Museen besucht und im Gegensatz zum Vollheutigen weiß, dass es auch Museen für Zeitgenössisches gibt. Der Ewiggestrige macht diese Dinge, damit er eher heute als morgen merkt, welche aufgekochte Scheiße die wahren Gestrigen dem Vollheutigen als Fortschritt und Zukunft verkaufen.
Vom Ende der Uhr
Es ist kein Verbrechen, Zeit zu verschwenden. Am Ende ist es wurscht, ob man sie totgeschlagen hat. Abgelaufen wäre sie so oder so. Die Zeit ist ein philosophisches Problem, und in meinem Alter hat man zum Glück nicht mehr die Zeit, es zu lösen.
Am Hölderlinplatz steht eine Standuhr. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn eine Standuhr steht. Leider aber stehen seit langem auch ihre Zeiger. Es sieht aus, als sei die Zeit nicht nur stehengeblieben. Sie hat sich aus dem laufenden Betrieb verabschiedet.
Neben der Standuhr gibt es einen Zeitungskiosk. Das heißt: Es gab mal einen. Die Betonbude, nicht wesentlich größer als ein Karton aus dem benachbarten Schuhgeschäft, steht zwar noch. Allerdings hat man den Rollladen auf eine Weise heruntergelassen, die jede Hoffnung zunichtemacht. Vor einigen Jahren noch hat hier Frau Balogh Zeitungen und Illustrierte verkauft. Auf dem Tresen standen Gläser mit eingelegten Paprikascheiben, und im Notfall gab es einen Magenbitter. Eines Tages war Frau Balogh weg und der Kiosk dicht.
Jedes Mal, wenn ich am Hölderlinplatz aus dem 40er-Bus steige und die Standuhr neben dem Fernsehgeschäft Eberle sehe, muss ich an Frau Balogh denken. Nicht selten erschienen mir ihre Einmachgläser als einzige Orientierungspunkte im Warnlichter-Chaos am Hölderlinplatz.
Am Hölderlinplatz gibt es so viele Ampeln, dass daneben keine Uhr Überlebenschancen hat. Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag die Uhr stehengeblieben ist. Spielt keine Rolle. Heute ist es immer zehn nach zwei oder fünf vor viertel drei.
Tatsache ist: Uhren im öffentlichen Raum haben ausgespielt. Schon einige Male habe ich Leser-Mails mit der Aufforderung erhalten, ich solle mich endlich um die verdammten Uhren kümmern. Um die schönen Uhren, die es nicht mehr gibt.
Die öffentliche Uhr verschwindet aus dem Stadtbild. In der urbanen Möblierung spielt sie keine Rolle mehr. An etlichen Haltestellen wurde die Uhr abmontiert, ohne dass einer deswegen die Alarmglocke geläutet hat. Vermutlich ist es der Straßenbahngesellschaft zu teuer, die Zeit anzuzeigen, wo man doch keine mehr hat.
In der Stadt ist es schon lange fünf vor zwölf. Die Superzeitgemäßen steuern ihre Bulldozer ohne Respekt vor Raum und Zeit gegen die Würde der Menschen. Man könnte glauben, mit den Uhren habe auch die Zeit ausgedient. Man spricht nicht mehr von Zeit. Man labert von Zeitfenstern und Zeitschienen. Diese Begriffe sollen die Hohlheiten zeitgemäßer Marketingmanager kaschieren. Im Bahnhof hängt ein zeitgemäßes Werbeposter für kalten Kaffee aus dem Plastikbecher: »Unser Beitrag zur Bahnhofs-Debatte: erst mal abkühlen«.
Ich erhalte Mails mit der Frage, wie mein Zeitfenster aussehe. Versifft, antworte ich, seit Jahren hat es keiner geputzt. Putzen die Leute ihre Fenster eigentlich immer noch mit Zeitungspapier? Mir hat man gesagt, Zeitungspapier sei das Beste, um Fenster blank zu wienern. Etwas Glasreiniger auf die Scheibe – dann mit einer zusammengeknüllten Zeitungskolumne wischen, bis sich im Glas die Bartstoppeln spiegeln. Warum aber hat Frau Baloghs Kiosk geschlossen? Poliert denn keiner mehr sein Fenster mit gutem Zeitungspapier?
Seltsam. Das Straßenleben am Hölderlinplatz blüht und gedeiht. Nur die öffentliche Uhr steht herum wie ein Baum, den nie ein Hund anpisst.
Die Zeit, das ist mein Trost, läuft. Sie läuft auch ohne öffentliche Uhr. Die großen öffentlichen Agenten hinter ihren Zeitfenstern brauchen nicht zu glauben, sie würden unsterblich, weil die öffentliche Uhr ausstirbt. Die Zeiten ändern sich bei Zeiten, und bis zur Sekunde ist offen, wer als nächster die Glocke hört.
PS: Wenige Tage nach Erscheinen dieses Textes geschah ein Wunder: Die Uhr am Hölderlinplatz lief wieder.
Gedanken sind frei
Der Sänger trug Schlips und Smoking, er sang im Freien in der Abenddämmerung, es war Sommer, und ich hatte Geburtstag. Aus meinem angenagten Korbsessel konnte ich die eiserne Brücke der Gäubahn sehen. Der Sänger sang Lieder von Robert Schumann mit Texten von Heinrich Heine, und selbst wenn ein Zug über die verschnörkelte Eisenträgerkulisse der alten Brücke donnerte, war er tadellos zu verstehen. Ein gutes Lied, schrieb ich in mein Notizbuch, verstummt auch nicht, wenn die Eisenbahn es überrollt.
So war das im Sommer 2011, in der ehemaligen Gärtnerei Jakob bei den Wagenhallen am Nordbahnhof, einer Trutzburg namens Jakob 17, die noch einige Wochen lang ein paar Künstlern als Spielstätte dienen sollte, bevor sie Stuttgart 21 zum Opfer fiel. Im Publikum saß auch der Immobilien-Mann der Deutschen Bahn, und ich lüge nicht, wenn ich Ihnen berichte: Auch der Vermieter der Jakob-Idylle war sichtbar gerührt, als der Opernsänger in den Abendhimmel sang: »Die alten, bösen Lieder, / Die Träume bös und arg, / Die lasst uns jetzt begraben, / Holt einen großen Sarg.« Am Ende des Konzerts verabschiedete sich das Publikum mit einem herzzerreißenden Abendchor. Vom Pianisten begleitet, sangen alle gemeinsam: »Die Gedanken sind frei.«
Das gefiel mir. Gedanken sind frei, sie fliegen und stürzen ab, bis eines Tages vielleicht die Stadt erwacht. Die Nacht brach herein, ich fuhr noch eine Weile mit der Straßenbahn herum und ging ein Stück zu Fuß, um mir die Zeit zu vertreiben, als ich auf dem Weg zum Neckartor an einer Hauswand die Werbung einer Fluggesellschaft sah: »Nonstop vom Städtle ins Weltstädtle«.
Fast immer wenn mich die schwäbische Verkleinerungsform grüßt, erleide ich einen Schluckauf. Obwohl selbst ein gelernter schwäbischer Kleingeist, kommt es mir hoch, sobald ich am Schwanz eines Wortes die erzwungene Endung »le« höre. Das gilt selbstverständlich nicht für den Bäcker Schmälzle, für Herrn Häberle oder den alten Freund Karle. Doch bis heute bin ich dem schwäbischen Kabarettisten Uli Keuler dankbar, dass er einst die Diminutiv-Trottel vorführte, indem er ihr »Ländle« im entlarvenden Ton der Möchtegerne aussprach: »Lönd-lö«.
Mit Ländle ist das auch in unserer Gegend nicht unbekannte Bundesland Baden-Württemberg gemeint. Leider aber wird das entwürdigende Unwort »Ländle« nicht nur von den Kreisklassekomikern der auswärtigen Medien benutzt. Das dackelhafte lö dient auch im eigenen Stall zur folkloristischen Hinrichtung des Selbstwertgefühls.
Sei’s drum. »Ländle« ist nicht mehr aus dem Sprachgebrauch zu tilgen. Dieser Kampf ist verloren, ich weiß. Dass aber ein weiterer idiotischer Diminutiv-Begriff kursiert, kann nicht straffrei durchgehen: Es handelt sich um das Städtle. Die verschwäbelte Städtle-Leier klingt nach dem Geist der Mäulesmühlö, der kulturellen Hochburg der SWR-Unterhaltung.
Vor allem junge Menschen, vorzugsweise die Content-Apostel am Lifestyle-Counter, gebrauchen das Dummwort Städtle, sobald sie die Bars der Theodor-Heuss-Straße heimsuchen oder bei Breuninger Calvin-Klein-Unterhosen kaufen. Keiner hat diesen naiven Nachäffern gesagt, wofür der Begriff Städtle in Wahrheit steht – nämlich für die Stuttgarter Altstadt bzw. den traurigen Rest, der von ihr übrig geblieben ist.
Ging ein erfahrener Mann einst ins Städtle, landete er zwischen Charlotten- und Wilhelmsplatz, zwischen Hauptstätter Straße und Olgastraße. Oder er tauchte ein in die Stripper-Buden-Kulisse der Vereinigten Hüttenwerke, wo heute das hässliche Schwabenzentrum steht, diese Ausgeburt obszöner Stuttgarter Stadtplanung. Genau genommen diente der Begriff Städtle einst als Kosenamen für das Rotlichtmilieu. Das klang ehrenvoller und origineller als Strich oder Gosse, zumal das Stuttgarter Städtle früher als subkultureller Kiez mit einer eigenen Sprache und den Relikten sportlicher Fairness halbwegs Respekt verdiente.
Das heutige Sprach-Babylon in den Köpfen ist leicht zu erklären: Die Altstadt mit ihren geplagten Huren des Elends ist nicht mehr als urbanes Zentrum der Stadt im Bewusstsein der Menschen. Die Politiker und ihre Verwaltung lassen das Quartier seit Jahrzehnten verkommen, kümmern sich weder um Bausubstanz noch um Denkmalschutz. Die architektonische Psychologie des Viertels ist zerstört. Ein Jammer.
Viele alte Häuser wären erhaltenswert. Teilweise gehen ihre Ursprünge zurück bis ins 15. Jahrhundert. Es gibt eine lange Liste mit Kulturdenkmälern aus Gotik, Barock, Klassizismus, Jugendstil.
Die liebevolle Bezeichnung Städtle galt früher der Altstadt, unserer heute vergessenen City. Vor diesem Hintergrund ist es Hochstapelei und Propaganda, im Investorenwahn geplante Konsumkästen wie an der Tübinger Straße als »neue Mitte« auszurufen. Das Städtle – mit dem Bohnenviertel, dem Leonhardsviertel und den Resten auf der anderen Seite der Stadtautobahn – wäre immer noch in der Mitte der Stadt, nämlich im Herzen vieler Stuttgarter, würde es nicht behandelt wie eine Quarantäne-Station für Abgeschriebene und Unerwünschte.
Es ist hoffnungslos. Wenn heute Reklame-Typen die Fluglinie Stuttgart–New York mit dem Spruch »Vom Städtle ins Weltstädtle« verkaufen, haben sie, ohne es zu ahnen, den weltweiten Einfluss der schwäbischen Sprache entdeckt. Auch die Amerikaner pflegen mit Hochachtung Verniedlichungswörter mit der Endung le. Ich kenne eins. Es heißt asshole. Zu deutsch: Arschlöchle.
Gedanken sind frei.
Im Hause Zimmermann
Ahnungslos stiefle ich an einem trägen Julitag 2012 durch das Leonhardsviertel und die Weltgeschichte, bis ich den Wirt Heinrich Huth vor seiner Kneipe treffe. Heinrich, 49, ist ein stattlicher Mann mit Zopf und Bauch. Seit zwölf Jahren führt er die Jakobstube. Er nennt sie ein »unverfälschtes Stück Altstadt«. Der Schwulen-, Damen- und Barhockertreff in der Jakobstraße 6 ist gut für einen Absacker, ob am Tag oder in der Nacht spielt keine Rolle.
Eine Milieukneipe für zwei Dutzend Gäste, raumgreifend die Theke, auffälligste Dekoration zwei Spielautomaten. Früher war in den Räumen des Lokals eine Wäscherei. Die Chefin war Frau Kötzle, sie kümmerte sich um die Garderobe der Altstadt-Jungs und gab im Notfall Kredit. Neuerdings dürfen die Gäste der Jakobstube auch vor der Tür Platz nehmen. Zehn Jahre lang habe er bei den Ämtern für die Straßenbestuhlung gekämpft, sagt Heinrich. Er hat nicht aufgehört zu kämpfen. Bis heute hat er den Traum, die Altstadt könnte eines Tages ein buntes, lebenswertes Quartier werden. Zufall, dass wir an diesem heißen Sommertag vor der Jakobstube plaudern. Es gibt immer viel zu diskutieren im Rotlicht, und Heinrich kennt sich aus. Er weiß, wer die übelsten Häuser in der Nachbarschaft besitzt, welcher politischen Partei die Herrschaften angehören, und er hat nachgeforscht, was es mit dem Gebäude der Jakobstube auf sich hat.
In dem Haus in der kleinen Fußgängerzone zwischen Leonhardsplatz und Weberstraße wurde am 2. Januar 1807 Balthasar Friedrich Wilhelm Zimmermann geboren. Keine Tafel, nichts erinnert an ihn. Vielleicht, sagt Heinrich, habe man den Mann bewusst vergessen, weil er ein radikaler Demokrat gewesen sei. Wilhelm Zimmermann war ein schwäbischer Dichter und Historiker, protestantischer Theologe, Doktor der Philosophie. Er schrieb Dramen, Novellen, Gedichte und veröffentlichte die berühmte »Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges«. In Stuttgart besuchte er – zusammen mit seinem Freund Eduard Mörike – das Gymnasium Illustre, heute Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Während der Revolution von 1848/49 wurde er im Wahlkreis Schwäbisch Hall als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung der Paulskirche gewählt; er zählte zur aufrechten Linken. Kurz darauf zog er mit großer Mehrheit für den Wahlkreis Schwäbisch Hall in die verfassungsgebende württembergische Landesversammlung ein.
Auf diese Dinge kommt der Spaziergänger in der Altstadt, bei einem Plausch mit Heinrich, geboren und aufgewachsen in Heidelberg. Es gibt in Stuttgart seit 1907 auch eine Zimmermannstraße, zwischen Olga- und Alexanderstraße. Um etwas über den Namensgeber zu erfahren, braucht der Flaneur eine detektivische Ader. Gegen ein Schild mit der Aufschrift »Wilhelm-Zimmermann-Straße« hat entweder die Stuttgarter Schildervorschrift oder die knappe Kasse gesprochen, so dass wir auf diesem Weg nicht über den Dichter stolpern.
Wilhelm Zimmermanns Geburtsstätte in der Jakobstraße 6 wurde zwischen 1700 und 1750 erbaut, als Barockhaus ist es ein Kulturdenkmal ersten Ranges. Vielleicht reicht ja die Stuttgarter Schilderverordnung aus, dem Dichter (er starb 1878) eine Erinnerungstafel zu widmen. Das würde nicht nur Heinrich freuen. Sollte das zu viel verlangt sein, bleibt uns ein Ausflug zur Wilhelm-Zimmermann-Gedenkstätte in Dettingen an der Erms.
Vielleicht aber wird auch das Stuttgarter Haus des toten Dichters eines Tages an einen großen Sohn der Stadt erinnern. In den guten Zeiten der Altstadt war es üblich, Kollekten zu organisieren, wenn einer der Jungs aus dem Viertel hinter Knastmauern wanderte. Heinrich hat beschlossen, etwas Kohle für den Freiheitskämpfer Wilhelm Zimmermann zu sammeln. Ein Erinnerungsschild an dessen Geburtshaus wäre ein kleines Zeichen gegen die Betonköpfe im Rathaus.
Das Schweigen der Lämmer
Das Baby in meinem Waggon schrie, als wäre sein Leben verwirkt. Das Baby sah frisch aus, so gut wie keine Kopfhaare, vermutlich war es vorhin erst im fahrenden Zug geboren worden, ungefähr bei Kassel. Ich kenne mich nicht gut aus in diesem Geschäft. Bei meiner Art Nachwuchsarbeit ist bis heute nichts Zählbares herausgekommen.
Ich habe davon gehört, Babys schrien vor Schmerz, wenn sie Zähne bekämen, ihre ersten. Das Baby in meinem Waggon hörte sich an, als bräche sein erster Stoßzahn durch den Kiefer. Aber kein Mensch hört hin, wenn ein Baby beim Halt in Fulda schreit. Viele schreien sich an dieser Station den Frust von Fulda von der Seele.
Oft bin ich mit dem Zug von Stuttgart nach Berlin und wieder zurück gefahren, und immer sind die sonderbarsten Dinge in meinem Leben bei Fulda passiert. Einmal habe ich im Bahnhof Fulda aus dem Fenster gesehen und den Slogan der Stadtwerbung auf einer Bahnsteigtafel gelesen: »ideal zentral«. Fulda. Da war mir alles klar. Es war wie damals, als der Intercity noch in Böblingen hielt.
Ich war guter Dinge auf dieser Reise, konnte nicht ahnen, dass Fulda an diesem Tag noch mehr auf Lager hatte als ein Elefantenbaby. Das Drama begann, als sich die Mutter anschickte, ihr Baby mit großer körperlicher Leidenschaft in den Schlaf zu wiegen. Sie tat das so lange, bis der Waggon schaukelte und sich der Kaffee aus meinem Pappbecher über meine Hose ergoss. Der Kaffee im Intercity ist bekanntlich dünn und scheiße, aber er war heiß. Ich schrie laut auf, die Schmerzen kamen aus meinem Stoßzahnbereich. Als mich die Fahrgäste vorwurfsvoll anschauten, zog ich wie Clint Eastwood die Haut meiner Backe unter dem linken Auge hoch und zeigte mit abgewinkeltem Daumen auf das Baby. »Hätten Sie je Zähne bekommen, hätten Sie mehr Mitgefühl mit jungen Menschen«, sagte ich zu einem Mann, der mich betont erwachsen anschaute.
Ich hatte Fulda mit nasser Hose hinter mir gelassen, als sich eine Dame mit zwei Jungs in die Nische vor mich setzte. Die Dame war extrem dünn, sie trug einen Kampfbürstenhaarschnitt, eine Mischung aus José Mourinho und Renate Künast. Prägend aber war ihr Gesicht: das typische Fuldaer Sparbüchsengesicht.
Das Fuldaer Sparbüchsengesicht zeichnet sich durch militärische Schmallippigkeit aus, es unterscheidet sich vom schwäbischen Sparbüchsengesicht durch einen leichten Oberlippenbartansatz.
Zwischen Fuldaer Sparkassenbüchsen-Lippen passt keine Fünf-Cent-Münze, auch nicht beim Sprechen. Diese stählerne Erotik setzt sich in anderen Körperzonen fort.
Die beiden Jungs und die Mutter hatten noch nicht richtig Platz genommen, da wusste ich bereits, wie sie hießen. Kaum saßen sie auf einer Arschhälfte, begann das Sparbüchsengesicht, kalaschnikowartig ihre Namen zu rufen, bis nicht einmal mehr das Baby mit dem Stoßzahn zu hören war. Die Jungs hießen Joschi und Marius.
Von Joschi und Marius kam kein Laut. Aus Langeweile dachte ich eine Weile darüber nach, warum man ein unschuldiges Kind mit dem Vornamen eines der schlimmsten Sänger strafen konnte, den die Popmusik je hervorgebracht hat. Ausgerechnet dieser Kerl mit dem Sound eines singenden Sparbüchsenschlitzes. Ich stellte mir das Sparbüchsengesicht vor, wie es mit feuchten schmalen Lippen am Lagerfeuer eines Fuldaer Staudamms »Frei-heit, Frei-heit« säuselte, bis sich einer erbarmte, Marius den Zweiten zu zeugen, nur um seine Ruhe zu haben. Der Doppelname im Haus war programmiert.
Von den beiden Jungs im Zug war wie gesagt nichts zu hören. Marius grinste gelegentlich mit schmalen Lippen durch die Lücke zwischen den Lehnen meiner Vordersitze, um mich als Publikum zu gewinnen. Ich gab ihm mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger das Victory-Zeichen, und er streckte mir die Zunge raus. »Beim nächsten Mal werde ich sie dir abbeißen«, sagte ich so leise, dass nur er es hören konnte. Da wusste Marius noch nicht, dass er in Fulda den ICE zur Hölle bestiegen hatte.
Ohne Atempause ermahnte das Sparbüchsengesicht Joschi und Marius, den Mund zu halten, obwohl beide kilometerlang keinen Ton von sich gegeben hatten. »Wir machen jetzt ein Spiel. Wer am längsten schweigt, hat gewonnen«, sagte sie. Ich hörte nichts außer dem Rollen der Räder und setzte bei meinem Buchmacher heimlich hundert Euro, dass die Mutter das Spiel nicht gewinnen würde. Prompt giftete sie im Kasernenton: »Der Fernseher bleibt so lange aus, bis ihr Schweigen gelernt habt. Und wenn es acht Tage dauert.«
Joschi und Marius sagten kein Wort, und so setzte wieder das Tröten des Sparbüchsengesichts ein: »Wir machen jetzt ein anderes Spiel. Es heißt der schweigende Mönch.« Nie zuvor hatte ich von diesem Spiel gehört, auch nicht bei Edgar Wallace. Ich befürchtete das Schlimmste. Der schweigende Mönch. Das klang nach unschuldigen Buben im Beichtstuhl.
Obwohl Joschi und Marius weiterhin schwiegen, wiederholte die Mutter ihre Drohung so laut, dass man sie durch den ganzen Waggon hörte: »Wir spielen jetzt der schweigende Mönch.«
Erst nach ungefähr zehn Minuten jungenhaften Schweigens, das pausenlos durch das Sparbüchsengesicht-Gezeter unterbrochen wurde, lüftete sich mir das Geheimnis des schweigenden Mönchs. Das Sparbüchsengesicht aus Fulda hatte einen gottverdammten Sprachfehler. Wir kennen diesen Defekt von den Rheinländern. Sie konnte kein Esceha sprechen. Mit kindlichen Chchch-Lauten zischelte sie, wie wir das aus der Zeit von Günter Netzers Duetten mit Gerhard Delling kennen: Mir gefällt da spielerich überhaupt nichts, aber Tchechien ist heute technich besser.
Das Sparbüchsengesicht hatte nicht vom schweigenden Mönch gesprochen, nicht von einem Herrn mit Kutte, Messwein, Vaseline. Gemeint war der schweigende Mensch.
Joschi und Marius sagten nichts, und das war falsch. Sofort meldete sich wieder die Mutter, und sie klang wie ein Gewerkschaftsmegafon: »Wir machen jetzt ein neues Spiel. Es geht so: Wer am längst schweigt, hat gewonnen.« Ich hörte keinen Laut. Vier, fünf Sekunden vergingen. Dann kreischte die Mutter: »Marius, mir reicht es. Ich bin sehr unzufrieden mit dir. Der Fernseher bleibt jetzt acht Tage aus.« Marius schien diese Drohung zu schlucken. Im Waggon war ja kein Fernseher.
Inzwischen hatte die andere Mutter ihr Baby mit dem Stoßzahn in die Ohnmacht geschaukelt, im Waggon wurde es still, ich konnte das Klappern von fünfzig Laptops hören. Wie erwartet hob wieder das Sparbüchsengesicht an: »Joschi, Marius, ich habe jetzt genug von eurem Tigerspiel. Das Tigerspiel ist das Letzte. Ich mag das nicht. Ich verbiete euch ein für allemal das Tigerspiel.«