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Wie gesagt, in der Nachwuchsarbeit bin ich unerfahren, so war mir auch das Tigerspiel kein Begriff. Ich fragte eine neutrale Dame auf dem Sitz neben mir, was das Tigerspiel sei, ob es mit den Praktiken des schweigenden Mönchs zu tun habe. Nein, sagte sie, das Tigerspiel symbolisiert den evolutionären Wettkampf der Männer. Ah, sagte ich, es geht also um die intellektuelle Überlegenheit, um die spirituelle Dominanz des Maskulinen. Nein, sagte sie, beim Tigerspiel geht es um den Größten, Stärksten, Schnellsten, Längsten.
O Mann, sagte ich, ich danke Ihnen, Madame, ich weiß, was Sie meinen. Dann begann ich leise zu singen:
Wenn ich am Wochenende tanzen geh / Und ein ganz besonders schönes Fräulein seh’ / Lass ich meinen Whisky Soda steh’n und dann / Dann, dann schleich / Ich an das Fräulein ran / So wie ein Tiger, oh, oh, oh / Ja, wie ein Tiger, oh, oh, oh / Denn sie gefällt mir gut / Drum hab’ ich Mut / Oh, wau, wau ...
Wow!, sagte die unbekannte Dame und formte ihre vollen Lippen zu einem verführerischen Lächeln. Ich übte im Kopf bereits den berühmten Peter-Kraus-Rülpser, dieses Schluckauf-Glucksen aus einem aufgeblähten Magen, als sich wieder das Sparbüchsengesicht zuschaltete, diesmal auf der Öko-Ebene: »Marius, lass gefälligst den Mülleimer in Ruhe. Nimm die Hände weg. Am Ende leckst du den Mülleimer noch mit der Zunge ab.«
Ich begriff nicht. Diese Sätze klangen nach einer Kombination aus schweigendem Mönch und Tigerspiel. Wie gesagt, ich kam damals mit dem Zug aus Stuttgart, einer Stadt, wo räudige Hunde sich rudelweise für Tiger hielten, weil sie Nadelstreifen trugen. Wo schweigende Mönche überall herumleckten, wenn es darum ging, mit korrupter Scheinheiligkeit der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.
Leider blieb mir nicht die Zeit, diesen politischen Gedanken zu Ende zu denken. Kurz vor Braunschweig hatte das Sparbüchsengesicht beschlossen, den Showdown der Eisenbahnfahrt einzuleiten. »Marius«, keifte das Sparbüchsengesicht, und die Stimme schien blechern auf ihren harten Lippen aufzuschlagen, »warum hast du Joschi gerade in den Finger gebissen?«
Ich hatte nichts mitgekriegt, kein schmerzhaftes Stöhnen, keinen Blutspritzer, nichts. Mit der Erfahrung jahrelanger Analysestunden bei meinem Therapeuten begann ich mir zusammenreimen, was in diesem Zugabteil vor sich ging. Marius hatte beim Biss in Joschis Finger zwanghaft reagiert. Eine Ersatzhandlung. Er war Opfer. Nicht Täter. Marius hatte keine andere Wahl gehabt. Er war der Tiger. Als er in Braunschweig mit Joschi und dem Sparbüchsengesicht aufstand, um aus dem Zug zu steigen, lief Blut aus seinem Mundwinkel. Ich schloss die Augen und schlief mit wilden Träumen bis Berlin.
Einige Jahre waren vergangen seit diesem Ereignis, als ich mir neulich im Intercity nach Berlin in Höhe von Kassel eine herrenlose Bild-Zeitung griff, um mich von dem Babygeschrei im Zug abzulenken. Die Schlagzeile auf der Titelseite traf mich wie ein Stoßzahn: »ICE-Vampir von Fulda mordet weiter – Sechstes Opfer im fahrenden Zug«. Ich musste die Horrorgeschichte nicht zu Ende lesen, um die Sache zu begreifen.
Marius spielte das Tigerspiel. Er ging durch Intercity-Waggons zweiter Klasse, er sagte kein Wort – und dann / dann, dann / schlich er an die Fräuleins ran. Einem halben Dutzend Mütter hatte er auf diese Weise in den vergangenen Wochen die Zunge aus dem Schlund gebissen. Als ich in Fulda den vertrauten Bahnhof sah, malte ich mir aus, wie es Marius genoss, wenn das Blut einer durchgebissenen Zunge an die Waggondecke spritzte, während sich vor seinen Augen im Zugfenster das Sparbüchsengesicht spiegelte.
Keiner, das wusste ich, würde den Vampir von Fulda jemals schnappen. Keiner kennt ihn, und ich bin der schweigende Mönch.
Bürger, zur Sonne!
Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Ex-Menschen,
heute, im April 2012, begrüße ich Sie zu einem historischen Neubeginn in der Stadt. Willkommen in der ersten Bürgerkolumne.
Mitten im Bürgerwahlkampf um das Amt des Bürger-Rathauschefs versammelten sich acht Bürgerinnen und Bürger, darunter eine Frau, für ein Zeitungsfoto. In Höhe ihres primären Geschlechtsmerkmals hielten sie Schilder vor ihren Körper: »Bürger-OB Sebastian Turner e.V.«. Damit auch der Bürger-OB wusste, wo er herumstand, packte er sich ebenfalls Propaganda-Pappe vor den Bauch: »Bürgerstadt Stuttgart«.
Der Schildbürgerverein für zwielichtige Kassenmanöver besteht aus Mitgliedern von CDU, Freien Wählern und FDP – letztere ein Sektiererclub, den der Amtschef des Stuttgarter SPD-Finanzministers neulich auf Facebook als »FD-Pisser« würdigte. Diese verbale Inkontinenz löste eine Bürgerkrieg zwischen FDPennern und SPDeppen aus, beschädigte aber nicht den Ruf des bürgerlichen Lagers. Das bürgerliche Lager ist sowieso eine Latrine. Der »Bürger-OB«-Verein hatte sich bereits vor dem Parteienkrach im Landtag für ein Gruppenbild mit Dame (letzte Reihe) formiert. Der Fotograf sagte: »Alle mal lächeln«, und fertig war der Cheese-Bürger.
Der gequält grinsende Cheese-Bürger hat mithilfe seines Leithammels aus der Reklamebranche, er heißt Turner, ein neues Berufsbild erfunden: »Bürger-OB« heißt auf Deutsch Bürger-Oberbürgermeister – eine Art Polit-Tampon für alle.
Unser neuer Mitbürger Bürger-Oberbürgermeister ist eine typische Marketing-Marke. Nach Art des Marketing-Vermarkters hat er den Oberbürgermeister auf den Bürger »runtergebrochen«. Ziel ist es, die Bürger mit der Marke »Bürger-Oberbürgermeister« im gebrochenen Sprachgebrauch der Politiker-Analphabeten »abzuholen« und »mitzunehmen«. So will man verhindern, dass der Bürger als Wähler des Bürger-Oberbürgermeisters »wegbricht«, bevor er selber bricht.
Der Bürger-Oberbürgermeister versprach den Menschen, als Weltbürger die Stuttgarter Bürgerwelt zu »einen« und zu »entfalten«. Diese bürgernahen Worthülsen bedeuten: designen, leimen, schleimen.
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
ich bringe meine Freude darüber zum Ausdruck, welche Wertschätzung der Bürger in diesen Tagen erfährt.
Vor dem Auftritt des Bürger-Oberbürgermeisters hatte der Bürger ein miesen Ruf. Das Bürgertum vom Killesberg bis nach Kaltental galt als Horde protestierender Penner und Anarchisten. Ein Hambürger Journalist schuf gar den Stuttgarter »Wutbürger«, als er sämtliche Teile des Klein- und Spießbürgers in seiner hanseatischen Kloschüssel zusammenrührte.
Bald darauf brüllte die CDU: Bürger, wehrt euch! Seitdem ist die Bürgerwehr überall. Sie tut so, als sei der Bürger King. Der selbsternannte Bürger-Oberbürgermeister macht uns vor, er befreie den Bürger aus seinem »Wutbürger«-Käfig, kaum dass man in der Stadt den Schlossgarten abgeholzt und den Bahnhof zerstört hat. Auferstanden aus Ruinen ist die Bürger-Rechte – ein reaktionärer Haufen von Grün bis Schwarz.
Ein anderer Reklametyp hat inzwischen vorgeschlagen, dem werten Bürger das Neue Schloss als Stuttgarter »Bürgerschloss« zu widmen. Das bedeutet: Der Bürger darf hie und da das von seinen Steuern bezahlte Schloss in der Stadt betreten. Seine Freude darüber ist groß, weil er sich die Bürgermiete in den Investorenburgen seiner Bürgerstadt sowieso nicht mehr leisten kann.
Um auch diese Sauerei im Ton der Marketing-Vermarkter »wegzukommunizieren«, rief der Bürger-Oberbürgermeister gleich noch die »neue Bürgerstadt« aus. Das Würgewort »Bürgerstadt Stuttgart« erleichtert es dem Bürger, die Bürgerstadt Stuttgart vom Tierheim Botnang zu unterscheiden. Zuvor hatte der Bürger-Oberbürgermeister mit einem Witzbold-Witz über das Ross im Stadtwappen seinen Köter für ein Youtube-Videos in die Kamera gehalten. Wow!, entfuhr es dem Hundsbürger. Und der brave Bürger hob das Bein. Endlich wusste der Bürger: Eine Stadt mit Hunderttausenden Bürgern ist eine Bürgerstadt. Und kein Hundezwinger, kein Kirmesplatz und keine Scheißwerbeagentur.
Wenn das Bürgerschloss eröffnet ist, bitte ich, dem neuen Stuttgarter Gutbürger weitere große Bühnen anzubieten. Um dem Bürgerstadt-Bürger Demokratie unter seinem Bürger-Oberbürgermeister vorzugaukeln, wird in Zukunft nicht genügen, Bürger-Maultaschen und Königsbürger Klopse mit Energie der Firma Bürgergas aufzukochen. Auch das Bürgerhospital signalisiert keine bürgerliche Mitbestimmung – trotz geschlossener Abteilung, wo die Reklamefritzen gut aufgehoben wären.
Verehrte Bürgerinnen und Bürger,
wir Bürgerstadt-Bürger haben die Schnauze voll von herrschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Weg mit dem Kaiserschmarrn. Es lebe der Bürgerschwachsinn. Ab sofort heißt die Königstraße Bürgersteig. Das turnt voll.
Ostendplatz
Als ich den Müll von der Ballerei auf der Straße sah, war mir noch nicht klar, wo ich ins Jahr 2012 hineinspazieren könnte, ohne gleich am ersten Tag der neuen Saison in die Hundehäufen des Lebens zu treten. Obwohl ich die Silvester-Knallerei nahezu traumlos verpennt hatte, fühlte ich mich etwas angeschossen am Neujahrsmorgen und nahm deshalb den nächsten Weg. Seit die Bahnlinie 4 meinen Heimathafen Hölderlinplatz anfährt, kann ich ohne Umsteigen den Ostendplatz erreichen. Auch die Buslinien 40 und 42 führen vom Westen in den Osten, wohl als Zeichen für mich, endgültig die Seiten zu wechseln.
Der Ostendplatz, sagte ich mir an diesem Morgen, ist ein guter Platz. Er macht auch an einem Katermorgen bella figura, selbst an einem Neujahrstag, der nicht mehr als ein stinklangweiliger Sonntag war. Wollte ich mich der Geschichte des Ostendplatzes nähern, müsste man eine Zeitungskolumne mit Böllern sprengen. In der Zeit der Arbeiterbewegung, als es noch sozialdemokratische Sozialdemokraten gab, hieß der Ostendplatz bei den Rebellen und Kämpfern nur der »Rote Platz«.
Tote Plätze gibt es anderswo in der Stadt. Wenn es der Ostendplatz im Lauf der Geschichte zu größeren literarischen Ehren gebracht hat als jeder andere Stuttgarter Platz, dann nicht nur deshalb, weil es sich bei den meisten Plätzen der Stadt um hässliche Asphaltlöcher handelt, um stadtplanerische Missgeburten wie den Österreichischen Platz oder um chaotisch beampelte Straßenkreuzungen wie den Hölderlinplatz; von dessen lächerlicher Kunststoffstele im Joint-Format ganz zu schweigen.
Manfred Essers 1978 im März-Verlag erschienener »Ostend-Roman« ist heute Legende; unlängst wurde er es neu aufgelegt und Ende vergangenen Jahres kam das Buch des 1995 verstorbenen Schriftstellers bei einer Ausstellung im Literaturhaus zu Ehren. »Auf dem Straßenbahn-Depot am Ostendplatz scheppern die Linien 4 und 8. Die Kurden, die hier in Notunterkünften nahezu auf diesen Schienen hausen, werfen sich im Schlaf«, heißt es im ersten Kapitel.
Im Straßenbahn-Depot ist heute ein Kinder- und Jugendzentrum untergebracht, es war auch mal Staatstheater-Filiale, damals, als es noch ein Staatstheater mit funktionierenden Bühnen gab. Auf den Straßenbahnschienen scheint keiner mehr zu hausen, und zum Glück blieb in der Nähe das Toilettenhaus mit seiner Pagoden-Architektur von 1920 unversehrt. Einige Male vom Abriss bedroht, steht es heute wie eine Eins neben dem Zeitungskiosk, und solange eine Bedürfnisanstalt und ein Kiosk an einem Ort miteinander harmonieren, hat ein Platz alle Aussichten, als solcher von den Menschen wahrgenommen zu werden.
An Silvester 2011 wurde, soweit ich den Raketen- und Flaschenschrott beurteilen kann, auch am Ostendplatz hemmungslos geschossen und gesoffen. Das Bedürfnis, Geld anzuzünden und in die Luft zu lassen, erinnerte mich angesichts der Wirtschaftslage an ein Buch meines Berliner Spaziergängerfreundes Klaus Bittermann: »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol«.
Der Morgen des Neujahrstags ist kein Tag, um über die Menschen in einer Gegend etwas Richtiges sagen zu können. Die meisten werfen sich zu dieser Zeit im Schlaf, sie denken noch nicht wie Essers Romanfiguren an die Revolution. Nur ein Dichter könnte aus der Ferne in den Bett-Gesichtern der Verlierer lesen.
Weiter in die Gablenberger Hauptstraße, leicht ansteigend und trotz der Neujahrsstille und des gedimmten Winterlichts voller satter Bilder. Ich stehe vor einem kleinen olivgrünen Haus mit pinkfarbenem Sockel und einem merkwürdig dynamischen Dach, teils schräg, teils flach. An der Frontseite hängt, eingerahmt von Stuttgarter-Hofbräu-Leuchten, ein Schild mit weithin sichtbarer Frakturschrift: Krämers Bürgerstuben. Hinter dem Glas der Eingangstür entdecke ich ein kleinen Zettel: »Am 1. Januar ist unser Restaurant aus Altersgründen geschlossen. Wir danken für Ihre Treue und wünschen alles Gute.« Bei näherem Hinsehen entdecke ich die Wahrheit: Die Mitteilung war von Ende 2009. Krämers Bürgerstuben, unter der Leitung der Familie Hofacker, galten viele Jahre als gutes, angesehenes Speisehaus. Es stimmt mich ein wenig traurig, wenn die Nachricht über den Abschied der Wirtsleute noch zwei Jahre später an der Eingangstür hängt. Als sei das Gasthaus ein Geisterhaus und der ganze Osten geschlossen.
Noch ein schneller Blick um die Ecke in die Wagenburgstraße zur Kleinkunstbühne Laboratorium. 2012 feiert der Laden seinen 40. Geburtstag, und nirgendwo ein Abschiedsbrief.
Es ist ein gutes Gefühl, das Neujahr mit einem Spaziergang durch die Leere und Ungewissheit des morgendlichen Ostens zu beginnen. In der Libanonstraße lese ich schmunzelnd die Inschrift an der Wand eines Backsteingebäudes; vermutlich hat sie der Häuslebauer Karl Dausch im Jahr 1909 mit großer Befriedigung angebracht: Klein, aber mein.
In der Libanonstraße fällt mir ein, wie mir eine ältere Dame vor ein paar Jahren Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählte. Als sich die Arbeiterkinder aus der Gablenberger Libanonstraße und die besser gestellten Kids von der Gänsheide harte Straßenkämpfe lieferten, obwohl es damals bei uns noch wenig Gangs und so gut wie keine Kapuzenjacken gab. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, und auf dem Höhepunkt des Klassenkampfs im Osten setzte die Gänsheide-Armee gegen die Libanon-Truppen ihre schärfste Geheimwaffe ein: Gartenschläuche, die Vorläufer der Polizei-Wasserwerfer.
Adios, Ostendplatz, ich bin zurück in der Gegenwart.
Die wahre Geschichte vom Dackel Lump
Es gab und gibt in der Geschichte von Stuttgart viele Dackel, einige von ihnen sind berühmt geworden. Aber nur einer von ihnen hat sich im Glanz künstlerischer Genialität bewegt, und nur er hat großen Werken seine Erhabenheit erwiesen, als er gelassen das Bein hob und die Schöpfung ohne Respekt anpisste. Davon handelt meine Geschichte, die Geschichte vom Dackel Lump.
Während der spanischen Diktatur lebt das Künstlergenie Pablo Picasso in Südfrankreich. Eines Tages, es ist das Jahr 1957, besucht ihn in seiner Villa La California bei Cannes der Fotograf David Douglas Duncan. Der Amerikaner, ein berühmter Kriegsreporter, kommt in Begleitung eines Freundes, eines einjährigen Dachshundes.
Vermutlich hieß der Dackel ursprünglich Lumpi, ich weiß es nicht. Wahr ist, dass Duncan den Dachshund 1956 bei einer Familie in Stuttgart gekauft hat; leider ist mir der Name dieser Leute nicht bekannt.
Obwohl Mr. Duncan ein großer Hundefreund ist, fühlt sich Lump, wie der Hund mit richtigem Namen heißt, bei ihm nicht wohl. Erstens missfällt ihm das Nomadenleben des Kriegsreporters, zweitens hat sein Herrchen noch einen anderen Freund, einen vierbeinigen Afghanen. Der ist nicht nur größer als Lump, er ist auch eifersüchtig und damit das Scheitern der Multikulti-Familie programmiert.
Es konnte nie geklärt werden, ob Duncan seinen Freund Picasso gebeten hat, Lump in Obhut zu nehmen. Oder ob es vielmehr Lump war, der mit fliegenden Ohren zu Picasso überlief. Die Historiker wissen von Picassos magischer Anziehungskraft auf Damen. Lump aber war keine Dame. Vermutlich also flog Picasso auf Lump.
Dass diese Beziehung zustande kam, haben Mann und Hund nicht nur Lumps Stuttgarter Familie zu verdanken. Geholfen hat eine mysteriöse Verkettung glücklicher Umstände. Womöglich wäre David Douglas Duncan dem Genie Pablo Picasso nie begegnet, hätte ihn nicht Robert Capa, sein amerikanischer Freund, dem Künstler vorgestellt. Capa, selbst ein berühmter Fotograf, hatte früher mit einer jungen Frau namens Gerda Taro zusammengelebt, und hätte er die 1910 in Stuttgart geborene Tochter eines jüdischen Eierhändlers nicht im Pariser Exil getroffen, wäre er nie der große Robert Capa geworden.
Capa war aus Ungarn, schlug sich mehr schlecht als recht unter seinem Namen André Friedmann als Fotograf durch, bevor ihn seine Geliebte zum Weltstar machte. Gerda Taro, neunzehn Jahre lang in der Stuttgarter Alexanderstraße zu Hause, erfand nicht nur sein Image, nebenbei machte sie im Schatten seines Ruhms auch selbst großartige Fotos. 1937 fiel sie nach einem Luftangriff von Hitlers Legion Condor bei ihrer Arbeit als Reporterin im Spanischen Bürgerkrieg.
Der Starruhm seiner Umgebung dürfte Lump, Stuttgart, im Hause Picasso kaum beeindruckt haben. Schließlich war er selbst auf dem besten Weg, in der internationalen Kunstwelt Fuß zu fassen. Allein zwischen dem 17. August und dem 30. September 1957 verewigt Picasso den Dackel fünfzehn Mal in den 44 Skizzen seiner Serie »Las Meninas«. Sollte Lump in diesen Bildern dem einen oder anderen Banausen heute relativ mickrig vorkommen, so ist er doch eine Kunstikone von Weltformat.
Picasso besitzt mehrere Hunde, als Lump bei ihm lebt, keinen aber liebt er so sehr wie seinen Kurzhaardackel aus Stuttgart. Lump ist das einzige Tier, das der Künstler in die Arme nimmt. Sogar Picassos zweite Ehefrau Jacqueline Roque, so wird berichtet, ist eifersüchtig auf Lump. »Lump ist kein Hund«, sagt Picasso. »Lump ist auch kein kleiner Mensch. Er ist etwas anderes. Er trägt unsere besten und schlechtesten Eigenschaften in sich.«
Nach sechs guten gemeinsamen Jahren schlägt das Schicksal zu. 1963 erkrankt Lump an der Wirbelsäule, ein typisches Dackelproblem. Seine Hinterläufe funktionieren nicht mehr. Als Duncan den Maler wieder mal in der Nähe von Cannes besucht, sieht er den kranken Hund und bringt ihn sofort zum nächsten Tierarzt. Der Veterinär sagt ihm, es sei nichts mehr zu machen. Lump sei unheilbar gelähmt. Der Fotograf, in zahlreichen Fronteinsätzen gestählt, nennt den Tierarzt einen verdammten Hurensohn, setzt den Dackel spontan auf den Rücksitz seines Autos, einen schwarzen Mercedes SL 300 Gullwing, und fährt noch in der gleichen Nacht nonstop nach Stuttgart. Unterwegs füttert er Lump über die Schulter hinweg mit Erdnussbutter-Keksen. In Stuttgart, notiert er später, »gab es einen berühmten Tierarzt, und als er Lumps Pfoten berührte, wusste er sofort, dass Lump nicht gelähmt war.« Nach einigen Monaten Behandlung bringt Duncan den Hund in sein Haus nach Rom. »Er lief herum wie ein betrunkener Seemann«, schreibt er, »aber er hatte noch zehn Jahre lang ein gutes Leben.«
Über die Geschichte des Stuttgarter Dackels hat Duncan – er arbeitete oft für Mercedes – 2006 einen Bildband veröffentlicht, das Buch heißt: »Lump the Dog who ate Picasso«. Hinter dem Titel verbirgt sich eine wahre Begebenheit. Einmal zeichnet Picasso ein Kaninchen auf einen Karton, und als Lump den Hasen sieht, erwacht sein Instinkt als Dachshund. Weil aber für die Jagd nicht ausgebildet, verspeist er das Karnickel samt Karton. Seitdem ist er »der Hund, der einen Picasso fraß«. Immerhin hatte diese Aktion mehr Stil als Lumps Angewohnheit, seine Unzufriedenheit mit Picassos Skulpturen auszudrücken – er pisste die Werke mehrfach an. Picasso akzeptierte die Kritik. Lump bezog nie Prügel.
Nachdem er nach Italien umgezogen war, hat der Dackel seinen Herrn allerdings nie mehr gesehen. Lump starb am 29. März 1973 in Rom. Picasso zehn Tage später in Mougins.
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