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Kappe nahm die Vernehmungsprotokolle nicht mehr wahr, sondern sah die beiden Frauen so plastisch vor seinem geistigen Auge, als könne er sie berühren. Er gab sich einen Ruck, fokussierte die Protokolle mit einiger Willenskraft und legte sie anschließend in die Akte zurück.
So ein Unsinn! Lienhwa und Clärenora waren Geschichte, und das sollten sie auch bleiben. Kappe wäre mit keiner von beiden wirklich glücklich geworden, das wusste er inzwischen. Er lebte ein völlig anderes Leben. Ihm reichte die Aufregung, die sein Beruf mit sich brachte.
Unglaublich, auf was für Gedanken er manchmal kam! Gut, dass diese nicht zu hören waren. Er würde sich ja pausenlos blamieren.
So summte er leise Die Gedanken sind frei vor sich hin, als seine Bureautür aufgerissen wurde und Galgenberg hereinplatzte. «Bei mir is ’ne Vermisstenmeldung einjetroffen! Ein jewisset Fräulein Anna Ebeling is jestern nich nach Hause jekommen.»
«Seit wann kriegst du denn die Vermisstenmeldungen?», fragte Kappe.
«Keene Ahnung. Vielleicht hat die Zentrale falsch durchjestellt. Aber hör doch mal zu! Die Beschreibung passt exaktemente auf die durchlöcherte Tote: zwanzich Jahre, schlank, braune Oogen, braune Locken.» Galgenberg legte die Notizen vor Kappe hin.
Der warf einen kurzen Blick darauf. «Die Beschreibung passt auf die Hälfte aller jungen Frauen.»
«Aber die sind nich alle jestern nich nach Hause jekomm», konstatierte Galgenberg und ließ sich in den Besuchersessel fallen, der ein bedrohliches Quietschen von sich gab. «Brauchta Öl, oder fällta bald auseinander?»
«Beides! Der ist nur für schlanke Besucherinnen konstruiert, Kollege.»
Galgenberg grinste schief, sagte aber nichts. «Wat is nu? Soll ick jemanden hinschicken, damit wir mehr erfahren und vielleicht sojar een Photo kriejen?»
Kappe suchte auf dem Blatt die Anschrift von Frau Martha Ebeling, die die Meldung gemacht hatte. «Ich übernehme das selbst! Es liegt praktisch direkt auf meinem Heimweg.»
«Heimweech klingt jut. Ick mach ooch Feierahmt für heute. Frau und Kinder rufen.» Galgenberg seufzte, erhob sich und blieb dabei beinahe in Kappes Besuchersessel stecken.
«Vielleicht solltest du nach Hause laufen, Gustav. Bisschen Bewegung! Sonst musst du dir beim nächsten Mal einen eigenen Sessel mitbringen, falls du hier noch mal sitzen willst.»
«Kann ja nicht jeder so ’n halbes Hemde sein wie du, lieber Hermann. Obwohl du ooch zujeleecht hast, wenn ick mir die Bemerkung ma erlauben darf.»
Kappe blickte an sich herunter und musste zugeben, dass sein Kollege recht hatte. Das Hemd spannte ein wenig, und über den Hosenbund hatte sich ein kleines Speckröllchen gewölbt. Das muss der Zufriedenheitsspeck sein, dachte er. Während der Zeit seiner außerehelichen Liebesabenteuer hatte er oftmals keinen Bissen herunterbringen können. Aber nachdem Klara und er sich versöhnt hatten, schmeckte ihm die Blutwurst wieder. «Nun ja, die schlechten Zeiten sind vorbei», sagte Kappe und ließ offen, was er damit gemeint hatte.
Mai 1909
Unter der Küchenbank ist er unsichtbar. Wenn Vater in dieser Stimmung war, begegnete er ihm besser nicht. Mutter schlug auch zu, wenn er sich einen Fleck auf das Hemd gemacht oder nicht aufgegessen hatte. Dann flog er einmal durch den Raum, aber das war es dann auch schon. Vater aber steigerte sich stets in blinde Wut hinein, schlug und schlug und schlug, egal, wo er traf, egal, mit was. Oft konnte er dann tagelang nicht in die Schule gehen wegen der vielen blauen Flecke. Mal war auch die Lippe aufgeplatzt, und einmal hatte er tagelang Kopfschmerzen, nachdem der Vater ihn mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert hatte. Manchmal wunderte er sich, dass noch keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Die Leute im Haus wussten, was bei ihnen passierte. Er hatte sie darüber reden hören, und sie sahen ihn immer so mitleidig an. Mutter musste heute das falsche Essen gekocht haben, denn Vater ging sofort auf sie los, kaum dass er hungrig aus der Kneipe gekommen war. Jetzt liegt sie am Boden. Vater schlägt und tritt sie. Er würgt sie mit ihrem rosafarbenen Schal, den sie immer trägt, weil ihr so leicht kalt am Hals wird, und der zu ihr gehört wie ihre blauen Augen. Der Blick, den sie ihm stumm unter die Küchenbank schickt, fleht, dass er Hilfe holen möge. Doch er rührt sich nicht. Die Mutter schreit nun. Er kann nicht sehen, was der Vater oben tut, doch dann saust ein Stuhl auf ihren Schädel hinunter. Wieder und wieder. Als sie sich nicht mehr rührt, holt sich der Vater ein Bier und setzt sich auf die Küchenbank. Er wagt kaum zu atmen, bis Vater Stunden später zu Bett geht.
VIER
DER JUNGE MANN stellte den Koffer ab und sah auf den Zettel, ob er sich auch nicht verlaufen hatte, aber die Anschrift stimmte: Soldiner Straße 89, zweiter Hinterhof. Sein möbliertes Zimmer lag also in einer Gegend, die er früher unter allen Umständen gemieden hätte. Doch er war gezwungen, sein Geld zusammenzuhalten. Und wenn das bedeutete, dass er ab sofort bei den Ratten wohnen musste, dann war das eben so. Er konnte es nicht ändern. Noch nicht.
«Du liebe Zeit, wie riesig der ist!» Charlotte legte den Kopf, so weit es ging, in den Nacken und hielt die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
«Deshalb ham se den wohl ooch ‹Langer Lulatsch› jenannt», mutmaßte Mina beim Blick auf den wahrhaft imposanten Berliner Funkturm.
Dieser war am 3. September bei sommerlichen Temperaturen um 25 Grad nach zweijähriger Bauzeit endlich eingeweiht worden.
Charlotte hatte Mina gefragt, ob sie mit ihr und Konrad, der inzwischen wieder aufgetaucht war, über die Funkausstellung schlendern und sich bei dieser Gelegenheit auch den Turm anschauen wollte.
Mina sagte gerne zu, hatte aber die Funkausstellung ziemlich langweilig gefunden. Die Messe fand zum dritten Mal statt, und es wurde auch in der Presse ein ziemlicher Wirbel darum veranstaltet, den sie überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Es waren vornehmlich Röhrenempfänger zu sehen sowie Kopfhörer von vielen verschiedenen Herstellern, für die Konrad Brause ein ausgeprägtes Interesse zeigte. Was sollte nur so gut daran sein, die Musik direkt in die Ohren zu bekommen? Mina hörte gerne hin und wieder Radio zur Unterhaltung während der Hausarbeit, bei der sie Charlotte zur Hand ging. Das war das mindeste, was sie für die Freundin tun konnte als Dank dafür, dass diese sie kostenlos bei sich wohnen ließ. Doch mit einem Kabel wäre sie dabei nicht einmal vom Radioapparat bis zum Küchentisch gekommen. Außerdem hätten sie sich dann auch nicht mehr unterhalten können.
Ob es nun die Kopfhörer waren oder die schlechte Luft in den Messehallen, Mina war es immer schwerer gefallen, ihr Gähnen dezent hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, und Charlotte ging es ganz offensichtlich genauso. Sie war heilfroh, als sie die schmucklosen Räumlichkeiten verließen und wieder an die frische Luft kamen.
Der imposante Funkturm thronte mitten auf dem Messegelände und war weithin zu sehen. Sechshundert Tonnen Stahl waren dafür verarbeitet worden, hatte Mina in der Zeitung gelesen. Das Gebilde sollte fortan als Mittelwellensender für Radioprogramme dienen. Unterhalb des Sendemastes war eine verglaste Aussichtsplattform angebracht, und auf halber Höhe befand sich ein Restaurant. In dieses Restaurant wollte Konrad Brause Lotte und Mina einladen.
Doch je länger Mina nach oben sah, umso mulmiger wurde ihr bei dem Gedanken, in einen engen, wackeligen Fahrstuhl zu steigen und keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben.
«So, dann lasst uns mal hochfahren!», sagte Charlotte schließlich energisch und schob Mina und Konrad in Richtung Funkturm.
Mina ließ sich jedoch nicht schieben. «Lotte, bitte sei mir nich böse, aber ick kann da nich ruff. Ick hab jedacht, et wär nich mehr so schlümm, aber ick bin sicher, ick halte den Weech nach oben nich aus, wenn ick det hier sehe.» Bei dem Gedanken daran, wie hoch alles erst von oben aussehen würde, wenn sie sich doch hier unten schon gruselte, wurde ihr beinahe schwindelig.
«Mina, du siehst ja käseweiß um die Nase aus. Hast du Höhenangst?»
«Ick gloob schon. Uff so wat Hohem war ick ja bisher noch nie. Bitte, lasst mich hier unten! Wir machen een andermal wat Schönet zusamm. Aba bitte nich da hoch!» Mina machte kugelrunde Augen, zog die Stirn in Falten und gab insgesamt ein ziemlich jämmerliches Bild ab.
«Beruhige dich doch! Wir müssen da nicht hoch. Wir bleiben unten und gehen woandershin. Nicht wahr, Konrad? Das macht dir doch auch nichts aus, oder?»
Aber Mina wehrte ab. «Ick weeß doch, wie ihr euch druff jefreut habt. Jeht ohne mir hoch! Mir macht det nüscht. Ick hab det Ding jetz von Nahem jesehn, und det reicht. Ick koof ’ne Ansichtskarte für meene Familje, und denn fahr ick nach Hause und machet mir ’n bissken jemütlich.»
Charlotte wollte protestieren, aber Mina versicherte ihr, dass es ihr wirklich nichts ausmachen würde.
Konrads Protest war ohnehin verhaltener ausgefallen. Er war vermutlich froh, seine Lotte wieder für sich zu haben, so selten, wie sie Zeit füreinander hatten.
«Gut, aber pass auf dich auf!», sagte Lotte.
«Ja, Mutti!» Mina lachte. «Hör ma, ick bin ja nich zum ersten Mal alleene in Berlin untawegs.» Sie winkte den beiden zu, als sie in den Fahrstuhl einstiegen, und winkte noch, als sich die kleine Kabine schon nach oben in Bewegung gesetzt hatte. Doch beim Hochschauen ergriff das Schwindelgefühl erneut von ihr Besitz, und sie schwankte ein wenig. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
«Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein? Sie sind ja vollkommen bleich.»
Mina ließ es geschehen, dass der Mann sie zu einer Parkbank führte, die am Fuße des Funkturms stand, und sie mit Nachdruck darauf platzierte.
Der Unbekannte öffnete seine Aktentasche und holte eine Thermoskanne heraus. In den Deckel, der gleichzeitig als Becher diente, goss er etwas ein und reichte es Mina. «Kräutertee», sagte er. «Der wird Ihnen auf die Beine helfen.»
Der Tee war nur lauwarm, aber er tat gut. Auch dass sie sitzen konnte und sich jemand um sie kümmerte, half viel.
«Danke. Det war sehr nett von Ihnen.» Mina gab den leeren Becher zurück.
«Keine Ursache! Stammen Sie aus Berlin?»
«Wieso?»
«Sie reden so.»
«Nee, ick komm aus der Lausitz. Aber wir könn’ ooch keen Hochdeutsch.» Mina verzog das Gesicht. Es war ihr ein bisschen peinlich, dass sie auf einen so offensichtlich kultivierten Mann den Eindruck einer Berliner Rotzgöre machte.
«Das ist doch charmant, mein Fräulein.» Der Mann lächelte sie an und fixierte sie mit seinem Blick. «Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Gestatten, Emil Weinhaus.» Er lüpfte leicht den Hut.
«Ick bin Wilhelmina Kowalewski.»
«Entzückender Name! Sie haben wohl kaisertreue Eltern gehabt?»
«Zumindest ham wir Kaiser Wilhelm mal bei einer Parade Unter den Linden jesehn, als ick noch kleen war.» Mina musste kurz an die Propellerschleifen denken und an das Familienphoto, das ihren gefallenen Bruder zeigte. Berlin riss alte Wunden wieder auf.
Sie kamen ins Plaudern.
«Waren Sie auf der Funkausstellung, Fräulein Mina?»
Die Art, wie er Fräulein Mina zu ihr sagte … Das klang ganz sanft, und es gefiel ihr. «Ja, ick war mit meener Freundin und iam Verlobten da. Die sind jetzt beede da oben.» Sie deutete auf das Funkturmrestaurant, ohne jedoch hoch zusehen.
Das tat jedoch Herr Weinhaus.
Mina plapperte unterdessen weiter darüber, wie langweilig die Messe gewesen sei mit all den Radios und Kopfhörern.
«Ich bin ja nicht so fürs Radio», erwiderte Weinhaus. «Ich bin ein Mann der Bücher.» Er klopfte auf seine Aktentasche und deutete auf ein kleines Köfferchen, das Mina zuvor entgangen war. «Im Grunde bin ich unterwegs zu einer Buchhandlung, der ich einige Neuerscheinungen vorlegen wollte. Doch nun hat mich der Hunger gepackt. Wäre es sehr aufdringlich von mir, wenn ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen würde?» Seine blauen Augen ruhten auf ihr.
Mina war nicht sicher, ob sich das eigentlich schickte. In Bückgen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, seiner Bitte nachzukommen. Aber in Berlin? Da fiel es womöglich nicht weiter auf. Und Hunger hatte sie obendrein. Das hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch jetzt knurrte ihr Magen wie auf Kommando ziemlich undamenhaft. Sie lachte. «Solange wir den Imbiss nicht dort oben einnehmen müssen, soll es mir recht sein.» Dann hob sie scherzhaft drohend den Zeigefinger: «Aber nicht, dass Sie glauben, ich hätte so etwas schon einmal gemacht!»
Er fuhr mit ihr ins Café Möhring am Kurfürstendamm. Die imposanten Gebäude beeindruckten Mina stets auf Neue: der Gloria-Palast nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das Nelson Theater, in dem Josephine Baker aufgetreten war und offenbar ganz Berlin mit dem Charleston-Virus angesteckt hatte, das Romanische Café, in dem sich Künstler, Schauspieler und Literaten trafen, sowie das Marmorhaus, ein weiterer Lichtspielpalast. Hier fühlte Mina sich lebendig.
Im Café saßen sie einander gegenüber, jeder an einem Fensterplatz. Der Kuchen war köstlich, und die Aussicht auf die vorbei flanierenden Damen und Herren im Sonntagsstaat war unterhaltsam.
«Se ham jesacht, Se sinn Vertreter für Bücher?»
«Bücher sind mein Leben. Und Sie? Lesen Sie auch?»
«Wahnsinnich jerne! Zu Hause hatt ick einje Bücher, die hab ick immer und immer wieder jelesen. Damals hatt ick aber ooch noch mehr Zeit», setzte sie hinzu.
«Was lesen Sie denn am liebsten?» Er sah sie forschend an. Mina errötete leicht. «Det sag ick lieber nich.»
«Oh, Sie müssen sich nicht zieren.» Weinhaus bückte sich und öffnete das Köfferchen. Anschließend tauchte er mit drei Büchern in der Hand über der Tischkante wieder auf.
Belladonna. Ein Liebesroman, las Mina, dann Der Weg durch die Nacht und Van Zantens glückliche Zeit. Ein Liebesroman von der Insel Pelli. Sie lächelte. «Sie ham mir erwischt.»
«Dachte ich es doch.»
«Ick mag Liebesromane. Janz besonders jern les ick Jane Austen. Stolz und Vorurteil hatte meene Mutter noch und hattet mir jejeben.»
«Jane Austen hat auch außergewöhnliche Dinge geschrieben – aber keine reinen Liebesromane. Also müssen Sie sich nicht mal schämen. Obwohl es da, streng genommen, ohnehin nichts zu Schämen gibt, Fräulein Mina.»
Da war es wieder: Fräulein Mina. Es klang schon irgendwie vertraut.
Als sie sich ansahen, lag eine lauernde Spannung zwischen ihnen, die jedoch abrupt von Weinhaus unterbrochen wurde, als er den Kellner um die Rechnung bat. «Das schenke ich Ihnen», sagte Weinhaus, als der Kellner wieder gegangen war, und legte ein Buch vor Mina auf den Tisch. «Es ist soeben auf Deutsch erschienen und scheint sehr vielversprechend zu sein. Ein Liebesroman, leicht lesbar und doch spannend.»
Mina sah ungläubig auf Der Weg durch die Nacht von John Knittel. «Das kann ich doch nicht annehmen.»
«Selbstverständlich können Sie! Es ist mein Dankeschön für unsere nette Unterhaltung.»
«Sie ham doch schon den Kuchen bezahlt.»
«Dann betrachten Sie es als Arbeitsaufgabe!»
Mina sah ihn fragend an.
«Sie lesen das Buch und sagen mir, was Ihnen daran gefallen hat und was nicht. Dann kann ich sozusagen mit einer Buchbesprechung aus erster Hand zu den Buchhändlern gehen.» Er lächelte.
Mina wollte schon zustimmen, zögerte dann jedoch. Weinhaus schien zu wissen, was sie sagen wollte. «Dazu müssten Sie sich jedoch überwinden, mich noch einmal wieder zusehen.» Mina spürte, wie die Röte langsam ihr Gesicht empor wanderte. Das kostet doch keine Überwindung, dachte sie. Wenn ich nur wüsste, ob sich das schickt. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass es gleichgültig war, ob es sich schickte oder nicht. Es musste ja niemand erfahren. «Einverstanden!», sagte sie schließlich.
«Dann würde ich mich aufrichtig freuen, wenn wir uns in einer Woche hier wieder um fünfzehn Uhr treffen würden. Können Sie das einrichten?»
Auf dem Nachhauseweg war Mina sehr damit beschäftigt, ihre Hände ruhig zu halten, die ohne Unterlass zitterten, als hätte sie nicht nur eine Tasse Kaffee getrunken, sondern fünf. Zugegeben, der Kaffee war kräftig gewesen, das war sie nicht gewohnt. Doch das Zittern kam auch aus ihrem Herzen. Das ist inzwischen der zweite Mann, der mich um ein Wiedersehen bittet, dachte Mina. Ob es im Leben wohl immer so weitergehen würde? Sie umklammerte das Buch, las aber noch nicht darin. Es war zu kostbar, um es im Omnibus oder der Bahn zu entweihen, die voller Menschen waren, die nicht zu würdigen wüssten, welchen Schatz sie bei sich trug.
Die U-Bahn mied sie heute, sie fühlte sich nicht danach, im dunklen Tunnel unterwegs zu sein. Dann dachte sie plötzlich an Siegfried, und das schlechte Gewissen drohte, sie zu übermannen. Gleichzeitig fragte sie sich, womit er diese Rücksichtnahme überhaupt verdient hatte. Schließlich hatte er Mina verlassen und nicht umgekehrt. Aber sie konnte ihn einfach nicht vergessen.
Mina schaute aus dem Fenster. Bei dem schönen Wetter schienen fast nur Liebespaare unterwegs zu sein. Einige hielten sich an den Händen, einige wagten dies nicht und beschränkten sich auf verzehrende Blicke. So viele Menschen, die einander liebten! Trauerte sie Siegfried vielleicht völlig umsonst hinterher? Gab es die wahre Liebe überhaupt? Oder war dies nur eine Illusion hoffnungsloser Romantiker, die nicht wahrhaben wollten, dass man mit jedem Menschen zusammenleben konnte, wenn man nur halbwegs ähnliche Interessen hatte?
Sie stand auf, damit sie an der nächsten Station aussteigen konnte, und überlegte, ob sie ein Beispiel fand. Natürlich! Ihre Eltern waren doch so ein Fall. Die beiden behandelten einander stets mit Respekt. Doch solange sie denken konnte, hatte Mina sie niemals händchenhaltend oder sich eng umschlungen küssend gesehen. Mina erinnerte sich an den Tag, als sie ihre Mutter einmal fragte, ob sie verliebt in ihren Vater sei. Die Mutter wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und sagte, Liebe wäre purer Luxus. Mina war damals zu klein, um die tiefere Bedeutung der Worte zu verstehen. Was sie jedoch verstand, war, dass sie nicht weiter nachfragen sollte. Doch inzwischen begann sie zu erahnen, was hinter den Worten ihrer Mutter stecken mochte. Wer weiß, ob sie an Siegfried nicht nur so hing, weil er der Erste gewesen war, der Interesse an ihr gezeigt hatte. Und mit Emil Weinhaus hatte sie sich ja immerhin sehr gut unterhalten. Das war doch durchaus ein Anfang. Alles Weitere sollte sie einfach abwarten.
Die Straßenbahn hielt, und sie ging den Rest bis zu Charlottes Wohnung zu Fuß. Charlotte wollte sie von ihrer Begegnung mit Emil Weinhaus vorerst nichts erzählen. Mina wollte sich erst einmal selbst über alles klarwerden.
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