- -
- 100%
- +
»Zumindest mit dem letzten Adjektiv hast du recht.« John legte das Sandwich zurück. Der Detektiv saß mit dem Rücken zum Imbissbetreiber und vermutlich stimmte trotzdem wieder einmal alles, was er hergeleitet hatte – deduziert, wie er es selbst immer hochtrabend bezeichnete. »Okay, lass uns einen Spaziergang machen und du erzählst mir von deiner so genannten Selbstmedikation.«
*
»Du weißt, dass ich Moriartys Komplizen aufgespürt und eliminiert habe, während ich«, mit hochgehobenen Händen deutete Sherlock Anführungszeichen an, »tot war.«
Das Viertel wurde dominiert von dem riesigen Komplex des Smithfield-Markts, wo werktags am frühen Morgen gewaltige Mengen Fleisch umgeschlagen wurden. Nun lagen die Hallen ebenso still da wie die Pubs, in denen Ärzte und Schwestern des Barts sich gern ein Feierabendbier gönnten. Auf dem Gehweg kam ihnen eine alte Frau mit ihrem Dackel entgegen.
John murmelte Zustimmung. Noch immer schmerzte es, an das Verschwinden des Freundes zu denken.
»Ich hatte nie Probleme, mit mir allein zu sein. Auch wenn unsere Zusammenarbeit in der Vergangenheit«, Sherlock zeigte sein ironisches Lächeln, »erstaunlich gut funktioniert hat.«
»Danke«, entgegnete John trocken.
Sie hatten die breite Newgate Street erreicht, auf der bereits einige Autos in Richtung der innerstädtischen Einkaufszentren unterwegs waren. Nachdem sie sie überquert hatten, passierten sie das Gerichtsgebäude Old Bailey. Die säulengeschmückte Vorderseite lag im Schatten, der helle Stein wirkte fast düster. John wartete darauf, dass der Freund fortfuhr. Sherlock schwieg jedoch; ganz leicht, kaum merklich, begann er zu zittern. John deutete auf die Bank an einer Bushaltestelle und sie setzten sich. Sherlock schlang beide Arme um den Oberkörper und atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor er endlich neu ansetzte:
»Gefahr hat mich noch nie abgeschreckt und in Schwierigkeiten bin ich oft genug geraten. Aber manche Situation während dieser drei Jahre war extrem. Ich will nicht ins Detail gehen, aber ich habe Albträume bekommen.«
»Und daraus resultierend die Schlafprobleme«, vermutete John, der an seine eigenen Kriegserfahrungen denken musste.
»Genau. Jetzt kommt ein kleiner Exkurs zu meiner Drogenkarriere – oder ziehst du als Mediziner etwas wie zunehmende Toleranz gegenüber Betäubungsmitteln vor?«
»Wir können gern Klartext reden.«
»Gut.«
Wieder ein Versuch zu provozieren, registrierte John, als der Freund ihm ins Gesicht sah und trotz des anhaltenden Tremors ohne Pause fortfuhr.
»Früher habe ich vorwiegend mit Kokain experimentiert – ich wollte die geistige Wendigkeit meines Bruders erlangen, aber alles, was ich erreicht habe, war, dass er es mitbekommen hat und mich gezwungen hat, es zu lassen. Mehrere Male.«
John nickte. Die Rivalität zwischen den beiden hochintelligenten Brüdern konnte Sherlock in der Gegenwart zu Höchstleistungen anspornen, für den Heranwachsenden musste sie eine Qual gewesen sein. Mycroft hatte seine Überlegenheit garantiert genussvoll ausgespielt.
»Einmal dann, ich war schon in Cambridge, habe ich auch Heroin ausprobiert. Ich hatte gelesen, es sei gut zum Runterkommen vom Koks. Da bin ich ernsthaft kollabiert. Danach hat Mycroft mich für mehrere Wochen in eine dieser Kliniken sperren lassen.«
Zwei Jahre hatten sie zusammengewohnt, ohne dass Sherlock einmal über diese Dinge gesprochen hatte. John fragte sich, warum er es jetzt tat. Weil er seine Hilfe brauchte? Weil Mycroft auch heute noch eine Möglichkeit finden würde, ihn zur Rehabilitation zu zwingen – auch wenn er zweifelsohne wusste, dass eine Maßnahme unter solchen Umständen nicht erfolgreich sein konnte?
»Ich habe ihn gehasst dafür, natürlich, und gedacht, er macht das nur, damit seine Karriere nicht gefährdet wird. Er war damals ein junger, vielversprechender Politiker – für sein Image wäre ein drogensüchtiger Bruder gar nicht gut gewesen.«
Langsam rollte der 23er-Bus an die Haltestelle heran, als keiner der beiden Männer reagierte, beschleunigte der Fahrer wieder und fuhr weiter in Richtung des ehemaligen Zeitungsviertels Fleet Street.
»Und dir ist nie der Gedanke gekommen, dass er sich ernsthaft Sorgen um dich macht?« John musste zugeben, dass Mycroft Holmes selbst alles tat, um diesen Eindruck zu vermeiden. Was war überhaupt mit den Eltern gewesen?
Als hätte er die Frage laut gestellt, sagte Sherlock. »Damals nicht, nein. Heute weiß ich, dass er auch wegen unserer Mutter beunruhigt war. Deswegen hat er alles komplett allein organisiert. Mich von der Uni beurlauben lassen – aus familiären Gründen –, die Klinik weit weg von London, in Shropshire, ausgesucht und bezahlt und den Eltern erzählt, ich sei sehr beschäftigt mit meinem Studium und würde einige Wochen nicht nach Hause kommen.«
»Perfektionist«, murmelte John.
»Mycroft«, meinte Sherlock. »Die Klinik war ein schlechter Witz. Lauter Mitglieder des englischen Establishments oder ihre Familienangehörigen, die in Gesprächskreisen herumsaßen und sich einander offenbarten.«
Erstaunt rutschte John auf der unbequemen Bank ein Stück zur Seite, um sein Gesicht besser sehen zu können.
»Ich nicht, bewahre! Aber ich habe schnell festgestellt, dass ich erst wieder rauskomme, wenn ich etwas erzähle, und habe ihnen gesagt, was sie hören wollten.«
War das genau der Grund, weshalb Sherlock jetzt mit ihm sprach?
»Nichtsdestotrotz habe ich begriffen, dass ich mit den Drogen aufpassen sollte. Und sei es nur, um nie wieder in so eine absurde Situation zu geraten.« Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Und nun stehe ich wieder kurz davor. »Danach war ich sehr, sehr vorsichtig.«
Sollte das heißen, er hatte durchaus Drogen genommen, während sie zusammenwohnten?
»Aber als ich Moriartys Komplizen in Afghanistan verfolgte, konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Wenn ich doch einmal quasi zusammenbrach, kamen die allerschrecklichsten Träume. Und ich wusste, ich muss schlafen, um zu funktionieren. Sonst erwischen sie mich und dann ist der schlimmste Albtraum nichts gegen die Wirklichkeit.« Sherlock löste die Arme, mit denen er die ganze Zeit seinen Oberkörper gehalten hatte und schaute seinen Freund an. »Da habe ich mit kleinen Dosen Heroin angefangen. Es ist dort sehr rein und man kann schlafen. Tief und fest schlafen. Du weißt das natürlich. Du hast es bei Soldaten in deinem Regiment mitbekommen.«
John nickte. Der Drogenmissbrauch bei den Truppen wurde immer geleugnet, war jedoch im Afghanistan-Krieg überall Alltag gewesen.
»Ich habe aufgepasst. Einen Druck vor dem Einschlafen, wenn ich an einem sicheren Platz war, mehr nicht. Schließlich war es lebenswichtig, dass ich tagsüber komplett wach und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten war.« Er presste die Fingerspitzen an die Ränder der Augenhöhlen.
»Aber die Angewohnheit hast du beibehalten, als du zurück warst«, schloss John. Er überlegte, ob die Drogen vielleicht auch für das seltsame Verhalten des Freundes bei ihrem Wiedertreffen verantwortlich waren.
»Ja. Die Albträume und die Schlaflosigkeit blieben, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich hier in Sicherheit bin. Deshalb habe ich damit weitergemacht. Aber als ich dann diesen Fall angenommen habe, sind die Dinge wohl etwas außer Kontrolle geraten.«
Er hatte während des letzten Satzes starr geradeaus geschaut. Mehr würde er dazu nicht sagen, und das musste er auch nicht.
»Es handelt sich hier nicht um Mycrofts Auftrag, nehme ich an«, fragte John, obwohl er sich da ziemlich sicher war. Nach dem, was Sherlock gerade erzählt hatte, würde sein Bruder ihn kaum dieser Nähe zu Drogen aussetzen.
»Nein«, bestätigte der Freund.
»Also wirst du den Fall auch abgeben«, beschloss John. In dem Umfeld konnte Sherlock keinesfalls weiter agieren. »Alles weitere werden wir sehen. Du wohnst die ersten Tage bei Mary und mir in Hounslow. Genau dorthin setzen wir uns jetzt in die U-Bahn, dann kann ich für eine Dreiviertelstunde die Augen zumachen.« Er registrierte, dass Sherlock ihn nicht begeistert, aber auch nicht komplett ablehnend ansah und stellte eine letzte Regel auf: »Alle zwei Tage nimmt Ettie einen Drogentest vor.«
3. Kapitel
John hatte vergessen, dass sie Besuch erwarteten. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station St. Paul’s hatte er versucht, Mary anzurufen, sie jedoch nicht erreicht. In Holborn, wo sie umsteigen mussten, wurden sie dermaßen von in die Stadt hineinströmenden Einkaufswilligen und Touristen bedrängt, dass er gar nicht versuchte, sein Handy aus der Jackentasche zu holen, und als sie endlich in der Piccadilly-Linie saßen, gab er seinem Schlafbedürfnis nach und reagierte erst wieder auf die Ankündigung der wohlklingenden Frauenstimme, dass der nächste Halt Hounslow West sei. Mittlerweile waren außer ihnen nur noch ein paar Reisende mit Koffern in dem Abteil; wenige Kilometer entfernt begann das Gebiet des Flughafens Heathrow.
Schweigend gingen die beiden Männer nebeneinander durch die tristen Vorortstraßen, während über ihnen ein Flugzeug im Landeanflug eine Schleife zog. Vor dem schmalen Haus in der Basildene Road holte Mary gerade vollgepackte Einkaufstaschen aus dem Kofferraum ihres Autos. John beschleunigte seinen Schritt, um ihr zu helfen – und sie unter vier Augen zu informieren, dass Sherlock vorerst bei ihnen bleiben würde.
»Natürlich, kein Problem!« Sie gab ihm einen schnellen Kuss und strahlte dem herankommenden Detektiv entgegen.
»Du wirst etwas Großstadtflair in unser beschauliches Leben bringen.«
Verliebt registrierte John das breite Lächeln seiner Verlobten, die Herzlichkeit, mit der sie versuchte, Sherlock sein offensichtliches Unbehagen an der Situation zu nehmen.
»Gleich kommen noch zwei Gäste. Charlene ist eine Kollegin von mir, sie wollte unbedingt unser Haus sehen, zumal ihr Freund Immobilienmakler ist.« Sie drückte Sherlock die letzte Plastiktüte in die Hand. »Wir sitzen nur ein bisschen im Garten zusammen und grillen.« Lachend fügte sie an: »Was man so Garten nennt.«
»Immobilienmakler. Interessant«, war Sherlocks einziger Kommentar, während John sich selbst verfluchte, dass er die Verabredung vergessen hatte. Mit Sherlock Holmes und Bekannten beim Essen zusammensitzen und plaudern – wie sollte das funktionieren?
Gemeinsam trugen sie die Einkäufe in die Küche, dann zeigte John dem Freund das kleine Zimmer im ersten Stock, das sie vermutlich später einmal als Kinderzimmer nutzen würden. Aktuell war es mit einer alten Schlafcouch und einem Regal voll aussortierter Bücher eher lieblos eingerichtet.
»Es ist nicht gerade groß.« John zuckte die Schultern. »Und um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, ob man auf dem Sofa schlafen kann, ohne sich die Wirbelsäule zu verrenken.«
»Ich weiß zu schätzen, was du hier machst«, antwortete Sherlock. »Wirklich. Was ihr macht.«
Er sah aus, als sei er kurz davor, sich komplett in sein Inneres, in seine Gedankenwelt, zurückzuziehen. Vermutlich das Beste, was er tun konnte, dachte John.
»Du musst an diesem Grillen nicht teilnehmen«, sagte er. »Wenn du willst, bleib einfach hier oben.«
»Meinst du nicht, das würde ein wenig seltsam aussehen? Mary zeigt euren Gästen das Haus und sagt dann: Hinter dieser Tür erholt sich Johns Freund gerade von einem kleinen Drogen-Exzess.« Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln.
»Hast du jetzt eigentlich …«, begann John, als Mary von unten nach ihm rief. »Egal. Später. Das Bad ist direkt gegenüber, komm einfach zu uns, wenn du magst.«
*
»Ich denke, da habt ihr einen sehr, sehr guten Griff gemacht«, beurteilte Gilbert Johns und Marys Kauf. »Die Lage ist absolut im Trend, in spätestens zwei Jahren ist das hier das Doppelte wert.«
Nach der Hausbesichtigung, die schnell erledigt war, auch wenn sie von Charlene mit kleinen entzückten Schreien und von Gilbert mit sachkundigen Fragen und Kommentaren unterbrochen worden war, saßen sie zu fünft um den runden Kunststofftisch auf dem Rasen, neben ihnen der Grill sowie ein Hocker, auf dem der Teller mit dem Fleisch und ein Weinkühler standen. Damit war die Fläche des Gartens fast komplett belegt.
Sherlock hatte während des Rundgangs durch das Haus nichts gesagt, und auf Charlenes Äußerung ›Der berühmte Sherlock Holmes!‹ bei der Vorstellung befremdet reagiert. Er trank nichts von dem vermutlich sündhaft teuren Moselriesling, den die beiden mitgebracht hatten, sondern beschränkte sich auf Wasser.
»Verstehe, ein Detektiv muss immer einen klaren Kopf behalten, nicht wahr?«, fragte Gilbert.
John, der am Grill stand, konnte sich ein bitteres Verziehen der Mundwinkel nicht verkneifen. Mary nahm den Fleischteller und trat neben ihn, murmelte leise. »Das wird schon, mach dir nicht solche Sorgen.«
Vielleicht hatte sie ja Recht. Momentan bemerkte er keinerlei Entzugserscheinungen bei seinem Freund, der Gilbert ohne zu zögern zustimmte. »Ein Makler sollte hingegen eher trinkfest sein, wenn es um die großen Geschäfte geht, nehme ich an.«
»Da sagen Sie etwas!« Der Mittdreißiger brach in lautes Lachen aus. Wie seine Freundin trug er betont legere Freizeitkleidung. John sah Sherlock an, dass er das gestreifte Hemd, die helle Jeans und die überdimensionale Sonnenbrille taxierte und erwartete jeden Moment einen Kommentar, der dazu führen würde, dass die beiden niemals wieder zu Besuch kämen. Womit er leben könnte; er wusste jedoch nicht, wie viel Mary an ihrer Kollegin lag. Wieder dröhnte ein Flugzeug über ihre Köpfe hinweg, zwei Weingläser klirrten aneinander.
»Neulich ging es um einen Abschluss in Shepherd’s Bush.« Gilbert schaute Charlene an, die wissend nickte. »Ein alter Gutshof, ein absoluter Traum, so etwas mitten in London.«
»Mitten in London?«, unterbrach John ihn irritiert.
»Aber selbstverständlich! Du bist in weniger als einer halben Stunde am Piccadilly Circus. Das ist mitten in London. Eigentlich seid ihr doch hier auch noch mitten in London.«
Sherlock hatte sein Smartphone aus der Hosentasche gezogen und tippte etwas ein. Er benutzte es viel seltener als vor seinem Verschwinden. Eine weitere Angewohnheit aus den vergangenen drei Jahren, vermutete John. In jener Zeit hatte er garantiert fast vollständig darauf verzichtet, um nicht aufgespürt oder abgehört zu werden.
»Bei diesem Gutshof war in einer Kirchengruft die Leiche der letzten Besitzerin gefunden worden.« Sherlock schaute auf. »Ich erinnere mich. Interessante Geschichte. Sie war eines natürlichen Todes gestorben, aber ihr Bruder, der auf ihre Kosten gelebt hat, musste ihren Tod so lange geheim halten, bis sein Pferd beim Grand National laufen konnte und erwartungsgemäß gewonnen hat. Danach ging das Pferd wie alles andere an ihre Erben. Aber er hatte das Preisgeld.«
»Beeindruckend! Haben Sie das in der Schnelligkeit online recherchiert?«, fragte Charlene, die neben Sherlock saß.
»Was? Nein. Ich sagte doch, ich erinnere mich. Also hat diese Geschichte den Preis gedrückt oder stehen die Leute auf so etwas?« Er war nicht wirklich interessiert, das sahen nun vermutlich auch die beiden.
Gilbert holte aus zu erklären, wie man solch eine Historie vermarkten müsse, damit potentielle Käufer bereit waren, dafür zu bezahlen, was für ein unglaubliches Objekt der Gutshof gewesen sei und dass er von solchen Anwesen in jeder Woche zehn an wohlhabende Russen oder Araber verkaufen könnte. »Die stehen ja Schlange. Kaufen alles, zu jedem Preis.«
John nickte. Das bekam jeder zu spüren, der in London ein Haus kaufen oder auch nur eine Wohnung mieten wollte. Die Wohnung in der Baker Street war schon vor Jahren eine absolute Ausnahme gewesen. Ob Mrs Hudson Sherlock noch einmal einen Mietnachlass gewährt hatte, jetzt, da er allein dort lebte?
»Ja, das ist alles sehr, sehr spannend«, murmelte der Detektiv und sprang auf einmal auf, steckte das Handy zurück in die Hosentasche. »Kommst du, John?«
»Was? Wohin?« John warf einen Blick auf das Grillfleisch, das gerade perfekt gebräunt war.
»In die Stadt. Eine Wohnung besichtigen. Vielleicht ist es ja etwas für euch. Damit ihr nicht länger in dieser Vororthölle leben müsst.« Unter den irritierten Blicken von Charlene und Gilbert ging er mit ausholenden Schritten in Richtung Haus und verkündete: »Das Spiel geht los!«
»Aber Mary gefällt es hier«, protestierte John und schaute seine Verlobte entschuldigend an.
»Tut es nicht!«, rief der Detektiv über die Schulter und stieß schwungvoll die Terrassentür auf.
Nein, das lag nicht an den fehlenden Drogen, das war ganz und gar der alte Sherlock, dachte John grimmig, während er hinter ihm herlief, ihn in der Küche am Arm packte und herumriss.
»Was fällt dir ein?! Ich habe ja damit gerechnet, dass du diesen aufgeblasenen Makler beleidigst, aber …«
Sherlock wirkte irritiert: »Das habe ich mir verkniffen. Seine Freundin wird schon wissen, dass er sie betrügt. Vielleicht ist es auch ihr Arrangement, sie lebt ja ganz gut auf seine Kosten.«
John schüttelte den Kopf, unwillkürlich drehte er den Kopf in Richtung Garten.
»Er hat ein Hemd mit abgestoßenem Kragen an und eine Jeans mit Kaffeefleck. Es ist ihm nicht wichtig, wie er aussieht, wenn er mit ihr unterwegs ist. Gerade eben hat er unter dem Tisch seiner Geliebten eine SMS geschrieben, wobei er sogar die Lippen gespitzt hat. Sie trägt Sandalen von Manolo Blahnik und benutzt ›Coco Mademoiselle‹ von Chanel, beides könnte sie sich von ihrem Gehalt als Krankenschwester nie leisten. Dafür lacht sie über seine dürftigen Witze.«
In Rekordgeschwindigkeit hatte er das heruntergerattert, als Mary in die Küche kam. Zu Johns Erstaunen sah sie weniger wütend aus als vielmehr leicht amüsiert. »Liebling, er hat Recht.« Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Ich versuche, es hier schön zu finden, weil wir uns nun mal nichts anderes leisten können, aber ich mag es genauso wenig wie du.«
»Was? Woher weißt du, dass …« John starrte sie entgeistert an. »Und wieso bekommt er das schneller mit als ich? In seinem Zustand?«
»John, bitte, sei nicht melodramatisch«, verlangte Sherlock. »Wie oft soll ich dir noch sagen …«
»Schluss jetzt!«, sagte Mary. »Geht Verbrecher jagen wie in alten Zeiten! Ich glaube, das tut euch beiden gut. Ich werde mich noch ein wenig mit den beiden langweilen und dann Migräne vortäuschen. Vielleicht finde ich im Internet ja doch eine bessere Bleibe für uns.«
*
»Darauf habe ich seit zwei Wochen gewartet«, sagte Sherlock und trommelte unruhig mit den Fingern der rechten Hand auf seinen Oberschenkel. »Sagt dir Parkside etwas?«
Mary hatte ihnen ihr Auto angeboten, damit sie schneller in die Stadt hineinkamen, John fuhr. »Ich lebe im Vorort, nicht auf dem Mars.« Er war noch immer verärgert wegen der Äußerung des Freundes, außerdem hatte er Hunger. Gern hätte er vor ihrem Aufbruch etwas gegessen, aber so etwas ging mit Sherlock Holmes natürlich nicht. Wenn er einen Fall zu lösen hatte, duldete er keine Verzögerung.
Aber was für ein Fall war das eigentlich?
»Das hat jetzt aber nichts mit dieser Heroingeschichte zu tun?«, fragte er alarmiert.
»Nein. Das ist der Fall meines werten Bruders.«
»Er will nicht, dass du in der Sache weiter ermittelst.«
»Er will auch, dass du mich in eine Entzugsklinik bringst und trotzdem bin ich hier.«
John trat so abrupt auf die Bremse, dass er den Renault abwürgte. »Ich habe dich nicht in eine Klinik gebracht, weil ich dir einen angenehmeren Entzug ermöglichen«, ungehalten reagierte er auf Sherlocks lautes Seufzen, »Himmel, meinetwegen, weil ich dir diese Phase erleichtern wollte. Aber du erinnerst dich hoffentlich: Klare Regeln!«
Hinter ihm hupte ein anderer Fahrer und gestikulierte erbost, als er den haltenden Wagen überholte.
»Bei deinen Regeln erinnere ich mich an keine, nach der ich nicht arbeiten soll. Du weißt, dass mir das am besten über jeden Zustand«, er betonte das Wort auf eine absurde Art, »hinweghilft. Und ich bin weiterhin bereit, mich an alle anderen zu halten. Ich hätte sogar gerade etwas von deinem Grillfleisch gegessen, es sah wirklich gut aus. Aber der Besichtigungstermin ist nun mal in einer halben Stunde.«
»Wir hätten noch schnell etwas essen können«, knurrte John, wenngleich ihm klar war, dass sie es auch so kaum pünktlich schaffen würden. Er ließ den Motor wieder an und hielt Ausschau nach der Auffahrt auf die M4, mit der sie ein Stück der Strecke abkürzen konnten.
Bis sie die Autobahn wieder verließen, schwiegen beide. John vermutete, dass Sherlock in Gedanken bei dem Wohnkomplex für die Reichsten der Reichen am Hyde Park war und fragte sich, ob er ihn einweihen würde, um was es ging, bevor er, Dr. John Watson, Praktischer Arzt und Afghanistan-Veteran, in diese Welt hineinstolpern würde.
Als sein Freund endlich sprach, ging er jedoch noch einmal auf das Drogenthema ein. »Es befand sich so viel Stoff in der Baker Street, weil ich ihn kaufen musste, um meine Tarnung zu wahren. Vermutlich sagt jedoch die Tatsache, dass ich nicht wenigstens einen Teil gleich durch die Toilette gespült habe, durchaus etwas aus. Insofern ist es schon sinnvoll, wenn es in nächster Zeit ein paar Regeln gibt.«
»Gut«, antwortete John überrascht. »Gut.«
Sie hatten mittlerweile Kensington erreicht; herrliche viktorianische Stadthäuser, vor denen hochgewachsene Bäume standen, säumten die Straßen. Das war London, dachte John. Nicht ihr schäbiges Reihenhaus in Hounslow. Aber schon ein kleines Appartement kostete hier eine Million Pfund.
»Wir werden also gleich eine Wohnung in Parkside besichtigen?«, fragte er und spürte ein hysterisches Lachen in seiner Kehle, als er an sich herunterblickte. Wie meist trug er eine Windjacke über einem Sporthemd, beides sah in keinster Weise nach Geld aus. »Hätte ich mich nicht vielleicht umziehen sollen?«
»Und was genau hättest du angezogen?«, fragte Sherlock zurück.
John wollte aufbrausen, aber sein Freund hatte Recht. Er besaß einen Anzug, den er bei festlichen Angelegenheiten trug, und eine »Kombination«. So hatte zumindest der Verkäufer bei Marks & Spencer den Blazer und die Stoffhose genannt. Würde er sich damit passender gekleidet fühlen? Passender aussehen?
Sherlock trug ebenfalls noch das dunkelblaue Hemd und die Anzughose vom Morgen – beides war, wie alles, was John jemals an ihm gesehen hatte, eindeutig teuer gewesen. John hatte keine Ahnung, wo der Freund seine Kleidung kaufte, aber definitiv nicht bei Marks & Spencer. Und sein gesamtes Auftreten verriet ohnehin seine Herkunft aus der Oberschicht.
»Privatschulschnösel«, raunzte er nach links.
»Danke«, antwortete Sherlock. »Du wirst perfekt sein als mein proletarischer Geliebter.«
John schnappte nach Luft. In der Zeit ihres Zusammenlebens hatte er sich daran gewöhnt, dass die Leute sie für ein Paar hielten, auch wenn er wieder und wieder betont hatte, dass zumindest er nicht schwul sei. Das einzige Mal, dass Sherlock erotisches Interesse gezeigt hatte, war ebenfalls in Bezug auf eine Frau gewesen – die sagenhafte Erpresserin Irene Adler hätte ihn fast, aber auch nur fast, um den Finger gewickelt. Ansonsten lebte er nach der Überzeugung, dass Gefühle dem klaren, rationalen Denken diametral gegenüberstehen und Liebe einem gefährlich zum Nachteil gereiche.
Nun sollten sie nicht nur beide als schwul, sondern er, John, als der unterprivilegierte Liebhaber auftreten! »In der Rolle darf ich dir eine reinhauen, ja?«
»Du kannst gern ein wenig grob auftreten, wenn es dir hilft«, gab Sherlock ungerührt zurück. »Es wäre auch nicht schlecht, wenn du deine Sprache etwas schlichter hältst. Sei nicht so präzise mit deinen Ausdrücken.« Er wies auf das links auftauchende Nationalhistorische Museum. »Stell den Wagen da auf dem Parkplatz ab. Lord Escott würde kaum mit einem Renault fahren, auch wenn er für seine Exzentrik bekannt ist.«
»Lord Escott also.« John konnte nicht leugnen, dass ihm das Spiel gefiel. Er bog auf den Platz neben dem Museumseingang ein. »Und wie heiße ich?«
4. Kapitel
»Das ist Dave Taylor.« Sherlock wies auf John und schaffte es, in seinen Tonfall und die nur angedeutete Bewegung Herablassung und so etwas wie Besitzerstolz zu legen.
John ergriff die Hand des etwa 50-jährigen, athletischen Mannes, der aussah, als wollte er jedes Klischee über Südländer bestätigen. Die dunklen Haare mit Gel nach hinten gestrichen, das helle Leinenhemd mindestens einen Knopf zu weit geöffnet, auf der behaarten Brust ein großer Kruzifixanhänger. »Angenehm«, sagte er, besann sich dann darauf, dass er schlichter sprechen sollte. »Hallo, wie geht’s?«