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»Können Sie Major Fontanelle bitten, dass er uns einen Hangar für unsere drei Segelflugzeuge und eine Motorwinde zur Verfügung stellt?«, fragte das Mädchen und lächelte ihn an.
»Warum nicht?«, sagte er und grinste verlegen zurück.
Nach einigem Hin und Her und nachdem ein paar brasilianische Real den Besitzer gewechselt hatten, war Major Fontanelle bereit, einen der leer stehenden Hangars am südlichen Rand des Flughafens für die deutsche Segelfliegercrew aus seinem Immobilienfundus herauszurücken, den er Kraft seines selbst geschaffenen Amtes verwaltete. Ein Gebäude, das von einer inzwischen bankrotten Fluglinie gebaut wurde, die Expeditionsflüge in den Busch angeboten hatte. Duncan erklärte dem Mädchen, dass man die Seilwinde stundenweise mieten konnte, was in der Regel einen Haufen Geld kostete. Er schlug ihr deshalb vor, das Gerät für den nächsten Morgen zu reservieren und sie dann gemeinsam zu nutzen, denn er wolle die angekündigte gute Thermik nutzen.
»Nennen Sie mich Hanna und Ihren Vorschlag nehme ich gerne an.«
»Peter Duncan«, stellte er sich vor. »Meine Mutter ist Deutsche, lebt aber schon seit Jahren in London«, erklärte er seine Sprachkenntnisse.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie halten mich bestimmt für ein BDM-Mädel auf einem KdF-Ausflug, oder?«, erwiderte Hanna gereizt.
»Oh, nein, nein …«, murmelte er, bevor er sich schnell abwandte. Im Prinzip hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Botschaft hatte den »Völkischen Beobachter« abonniert, der über mehrere Stationen per Luftfracht durch die Condor, ein Tochterunternehmen der deutschen Lufthansa, mit Dornier-Wal-Flugbooten nach Rio de Janeiro gelangte. Er las gelegentlich eines der Exemplare und konnte deshalb die Begriffe zuordnen. Die Organisation von Jugendlichen in solchen Verbänden waren ihm zutiefst zuwider. Er selbst wäre als kleiner Junge nie auf die Idee gekommen, sich als Pimpf einem älteren Jugendlichen unterzuordnen. Eine Gruppenreise mit Arbeitskollegen an einen Ort, den die Firma für die Belegschaft reserviert hatte, war ebenfalls undenkbar für ihn. Er liebte seine Freiheit und die Vorstellung, dorthin reisen zu können, wo es ihm gefiel. Im Alter von zwölf Jahren war er mit seinen Kameraden auf die Gipfel der schottischen Berge geklettert und hatte dort die selbst gebauten Segelflugzeuge ausprobiert, wobei es keine Anführer gab, oder ältere Jugendliche, die bestimmten, was getan werden sollte.
»Nun gut, ich glaube Ihnen. Ich möchte mich sowieso nur auf das Segelfliegen konzentrieren. Ist das möglich?«, fragte sie leise, mit einem vernichtenden Seitenblick auf die SS-Männer, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und wahrscheinlich beratschlagten, wie sie die Flugzeuge in den Hangar bugsieren konnten.
»Das wäre schön«, erwiderte er, von sich selbst überrascht. Die junge Frau begann ihn zu interessieren.
»Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«, fragte er sie nach einer Weile unsicher.
»Kommt darauf an«, lächelte sie.
»So gegen acht, Bar Tropical im gleichnamigen Hotel. Ich lade Sie zu einem Schlummertrunk ein und Sie erzählen mir, was eine junge Deutsche im fernen Brasilien macht«, erwiderte er schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
»Oh ja, gerne!«, antwortete Hanna erfreut.
»Also abgemacht, heute Abend um acht?«
Sie nickte unmerklich, bevor sie sich umdrehte und hastig zu ihrer Crew zurückkehrte.
»Gott steh Ihnen bei, mein Freund«, grinste Major Fontanelle, der das Gespräch belauscht hatte. »Die hat so viele Haare auf den Zähnen, wie mein Schätzchen zwischen den Beinen.« Zur Bekräftigung zog er an einem stinkenden Zigarrenstumpen und nahm einen Lungenzug, als gäbe es kein Morgen.
»Also ich weiß nicht … Ich glaube, wir sollten das Thema wechseln«, erwiderte Duncan schnell, denn er merkte, dass er rot wurde. »Also bei meiner Juanita bin ich mir sicher«, lachte Major Fontanelle, verschluckte sich an dem Rauch und begann zu husten. Er hustete so lange, bis nur noch das pfeifende Geräusch seiner Bronchien zu hören war.
Den Rest des Tages verbrachte Duncan damit, den lästigen Papierkram zu erledigen, der nötig war, damit einem die brasilianische Regierung erlaubte, über den Zuckerhut zu schweben. Duncan checkte sein Flugzeug, einen deutschen Kranich, den er sich von seinen ersten Gehältern gekauft hatte, und legte neben seinen Fallschirm eine Schwimmweste. Vorsicht war angebracht, denn als Segelflieger wusste man nie, ob einen die Thermik, die von den Granitfelsen aufstieg, die die Hafeneinfahrt säumten, nicht aufs offene Meer trieb. Der zweisitzige Segelflieger war erst vor wenigen Wochen per Schiff eingetroffen und Duncan hatte die Kaufentscheidung bisher nicht bereut. Die Krauts waren die besten Segelflugzeugkonstrukteure der Welt. Niemand ahnte, dass sich die Nazis damit einen entscheidenden Vorteil im Wettrüsten um die gefährlichsten Kriegsflugzeuge verschafften. Als Assistent des britischen Handelsattachés, Sir Reginald Donovan, hatte Duncan es sich in Rio de Janeiro bequem gemacht. Er galt bei seinen Vorgesetzten als unpolitisch, aber pflichtbewusst, schnell und effizient. Seine Freizeit verbrachte er in Begleitung eines britischen Offiziers der »Glasgow«, ein Zerstörer, der in Rio vor Anker lag und die Handelsflotte – gegen wen auch immer – schützen sollte. Duncan hatte in Cambridge Jura studiert und dort als Jahrgangsbester abgeschlossen. Während er darüber nachdachte, sich bei der angesehenen Londoner Anwaltskanzlei »Brooks, Barneby & Sons« zu bewerben, erhielt er von seinem Professor das Angebot, als Jurist in die Handelsabteilung des diplomatischen Dienstes nach Rio zu gehen. Professor Higgins war ein Duzfreund von Sir Reginald Donovan und hatte seinen Namen bei einer gemeinsamen Cocktailparty fallen gelassen. Donovan hatte ihn sich gemerkt und ihn zwei Tage später nach Rio eingeladen. Duncan war von seinem Angebot sofort begeistert und trat die Stelle umgehend an.
Dokumenteneinschub 1/ Auszug aus einem von der Gestapo beschlagnahmten Feldpostbrief von Heinrich Liebesam/ Funker der Brasilienexpedition/ Gestapokarte:
Mein lieber Schatz,
nun sind wir nach einer langen Schiffsreise endlich in Rio de Janeiro angekommen, aber meine Vorgesetzten machen mir das Leben zur Hölle.
Leutnant Kaltenbrunner ist der Schlimmste von allen. Er ist wie ein Reptil, das uns beobachtet, als wären wir ein willkommenes Festessen.
Nicht nur, dass er keine Gelegenheit auslässt, Hanna Reitsch anzufassen, nein, auch die Tatsache, dass er an allem etwas auszusetzen hat, lässt meine Laune auf den Nullpunkt sinken. Kaltenbrunner strahlt etwas Schweres, Dunkles aus, das mich lähmt und mich trotz der Hitze frieren lässt. Hinzu kommt, dass die drei SS-Offiziere, die man uns als Begleitschutz mitgegeben hat, jede unserer Äußerungen registrieren und uns nicht aus den Augen lassen. Mit meinen Kameraden, den beiden Flugzeugmechanikern, verstehe ich mich jedoch prächtig.
Professor Georgii, der wissenschaftliche Leiter der Expedition, scheint in seiner Aufgabe aufzugehen und hat sich bisher als kompetenter Fachmann erwiesen. Ohne die Kontrolle durch die SS und Leutnant Kaltenbrunner wäre die Expedition sicherlich noch viel interessanter. Hanna Reitsch ist vermutlich bewusst, dass sie als Aushängeschild der zukünftigen deutschen Luftwaffe gilt.
Jetzt ist Siesta, von mittags zwölf bis nachmittags um drei, vier Uhr. Wie gelber Honig tropft die Hitze durch die Risse und Löcher des Wellblechdaches der Flugzeughalle, in der wir untergebracht sind. Staubpartikel flirren in den Lichtstrahlen, die die Mittagssonne durch die beiden Fensteröffnungen schickt, die an der Seitenwand des Hangars angebracht sind. Kein Lüftchen regt sich. Es ist heiß wie in einem Backofen, deshalb mache ich auch kein Auge zu. Ich wünschte, ich wäre zuhause, Liebes, und könnte dich in die Arme schließen. Stattdessen wartet jede Menge harte Arbeit auf mich. Wir Soldaten haben die alten Ölfässer und die zerborstenen Motorblöcke beiseitegeräumt, um Platz für die vier silbernen Vögel zu schaffen, die wir hintereinander auf dem ölverschmierten Betonboden aufgereiht haben. Die Fafnir, ein Hochleistungssegler, der besonders für weite Strecken taugt, sieht mit ihren angewinkelten Flügeln wie ein Bussard aus. Sie steht vor der Moatzgotl, die den Namen eines aztekischen Gottes trägt, weil sie extra für die Südamerikareise konstruiert worden ist. Die etwas kleinere Condor, das nächste Flugzeug in der Reihe, ist kunstflugtauglich und soll von Hanna Reitsch geflogen werden. Ihre Überschläge und Fieseler Manöver sollen das brasilianische Publikum für die Delegation aus Nazideutschland begeistern. Das Grunau-Baby, die kleinste Maschine in der Flotte, ist als Schulungsmaschine für die jüngeren Zuschauer gedacht. Eine weitere Maßnahme, um die Sympathie der Brasilianer zu wecken. Auf jeder Tragfläche sind unten und oben blutrote Quadrate angebracht, in denen das schwarze Hakenkreuz prangt. Wenn die Menschen die silbernen Vögel mit den bedrohlichen Emblemen am Himmel schweben sehen, werden sie wissen, wer nicht nur die Lufthoheit für sich beansprucht. Kaltenbrunner hat die Arbeiten beaufsichtigt, während Hanna Reitsch mit mir die Wind- und Wetterverhältnisse über Funk abgefragt hat. Die drei Offiziere haben währenddessen außerhalb des Hangars im Schatten einer Mauer in ihrem Auto, einem gepanzerten Horch, gesessen, eine silberne Taschenflasche mit Cognac kreisen lassen und dabei Skat gespielt.
Professor Georgii ist bereits ins Hotel Imperial gefahren, um sich auszuruhen.
Vor Obersturmbannführer Mühsal habe ich Angst. Kaltenbrunner hat den Auftrag, Hanna Reitsch zu bespitzeln, er soll sie nicht aus den Augen lassen, während sie sich mit einem der Briten trifft, der für uns den Dolmetscher spielt. Alles in allem habe ich das Gefühl, jeder beobachtet jeden. Was als Segelflugexpedition begann, ist inzwischen Teil einer gewaltigen Propagandamaschinerie.
Gleichzeitig will man wohl die Briten aushorchen und beobachten, wie groß ihre militärische Stärke in Südamerika ist.
Kaltenbrunner wird alles tun, um der SS zu gefallen. Dazu wird er über Leichen gehen. Ich bin mal gespannt, was er als Nächstes tun wird, um an die Lorbeeren zu gelangen, die er braucht, um auf der Karriereleiter ein Stückchen höher zu klettern. Außerdem hat er ein Auge auf Hanna Reitsch geworfen. Bisher hat sie ihn ignoriert, aber ich weiß nicht, wie lange sie das noch schafft. Andererseits hätten wir Soldaten vermutlich unsere Ruhe, wenn Hanna mit Kaltenbrunner schäkern würde … Wie auch immer. Ich muss mich beeilen, Liebes, ich schreibe Dir bald wieder!
Gruß und Kuss, Dein Heinrich
Vorspeise
Chaim Miller hatte sich einen Stuhl geschnappt und setzte sich rittlings vor den alten Mann im Rollstuhl, nachdem er ihn an einen Tisch des Speisesaals geschoben hatte. Duncan bestand nur noch aus Haut und Knochen. Aber in seinem bleichen, zusammengefallenen Gesicht blitzten hellwache Augen. Sie waren alleine, es war kurz vor zwölf, die Gäste des Hauses aßen gewöhnlich später zu Mittag.
»So, so, im Rollstuhl. Wie haben Sie das denn geschafft, Mühlbauer?«, grinste Miller und nestelte aus seiner Trenchcoattasche eine Packung Marlboro hervor.
»Rauchen verboten«, erwiderte Duncan stattdessen. Mit einem Seufzen steckte Miller die Zigarette wieder zurück.
»Okay, also noch einmal von vorne. Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile, aber mir ist nicht aufgefallen, wie Sie im Rollstuhl gelandet sind.«
Petersen tauchte auf. Er trug einen zerknitterten schwarzen Anzug, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Petersen beobachtete die beiden aus tränenden Augen, mit Ringen groß wie Wagenräder, und malmte mit dem zahnlosen Mund, wobei sich ein Speichelfaden selbstständig machte. Dann rülpste er lauthals. »Besuch aus Moskau?«, grinste er, auf Miller deutend.
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Duncan. Seine Stimme war hart und klar.
Petersen war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Nach seiner Entlassung 1950 war er in den aktiven Polizeidienst zurückgekehrt. Er hatte ein paar Jahre lang das Dezernat für Einbruch und Diebstahl in Kiel geleitet, bis er bei einer Ermittlung auf einen ehemaligen Kriegskameraden gestoßen war. Wie er selbst Mitglied der Waffen-SS, aber nach dem Krieg auf der anderen Seite tätig, Kopf einer Diebes- und Hehler-Bande. Mertens mit Namen. Er erkannte Petersen und setzte ihn unter Druck. Petersen schaute daraufhin bei seinen Ermittlungen öfter mal weg, dumm nur, dass sein Chef den Deal bemerkte. Es kam zu internen Untersuchungen, bei denen am Ende die unehrenhafte Entlassung aus dem Polizeidienst stand. Petersen hatte Pech gehabt, andere wären befördert worden, es gab genug Seilschaften in der jungen Republik, die aus ehemaligen Nazigrößen bestanden. Danach fristete Petersen sein Leben als Wachmann einer Werft. Nachtschicht, viel Alkohol, eine gescheiterte Ehe und ein Sturz im Suff von der Reling eines aufgedockten Schiffes. Danach war es mit Petersen immer weiter bergab gegangen. Das Ende vom Lied war beginnende Demenz, ein Platz im Altersheim und nach einer Prostataoperation eine ständige Inkontinenz. Ein Sohn aus erster Ehe, inzwischen Chef im »Haus Meerblick«, konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen, die ihm das Altersheim schickte. Als Ausweg bot er Petersen ein Zimmer im Hotel und eine warme Mahlzeit am Tag an. Petersen lebte in der Vergangenheit, eine große Nummer im Krieg, Obersturmbannführer, für die Deportation tausender Russen in Kriegsgefangenenlager zuständig. Nach dem verlorenen Russlandfeldzug hatte man ihn und ein Dutzend anderer Soldaten erwischt und nach Sibirien verfrachtet. Adenauer war es gelungen, mit der russischen Regierung zu verhandeln und die noch lebenden deutschen Soldaten aus dem Lager zurückzuholen. Schon vor dem Krieg war Petersen ein Nazi aus Überzeugung gewesen, aber das Lager hatte ihn endgültig zum Russenhasser gemacht.
Rio de Janeiro, 1934
Das Hotel Imperial, ein dreistöckiges, stuckverziertes Jugendstilgebäude, stand am nordwestlichen Rand des Parks Campo de Santona und war das teuerste Etablissement am Platz. In Zimmer 302 der Nobelherberge starrte Josef Kaltenbrunner in den goldumrahmten Spiegel, der über dem Waschbecken aus Marmor in dem riesigen Badezimmer hing. Was er sah, machte ihn noch kränker als er bereits war. Grobe Poren und tiefe Narben, die eine jugendliche Akne hinterlassen hatte, bedeckten sein erhitztes rosiges Gesicht. Sein massiger Körper dampfte von der heißen Dusche, die er genommen hatte. Er spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihm hochstieg. Für einen kurzen Moment stützte er sich auf das Waschbecken und schloss die Augen. Er hatte seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, trotzdem hatte sein Gehirn nicht genügend Serotonin produziert, um seine tiefe Depression zu überwinden. Er fühlte nichts mehr, weder Wut über die Ablehnung, die er von Hanna erfahren hatte, noch freute er sich auf die Flüge, die ihnen bevorstanden. Er hatte seit 24 Stunden nichts mehr gegessen, trotzdem verspürte er keinen Hunger. Kaltenbrunner drehte sich um, ging ein paar Schritte und hielt sich am Türrahmen des Bades fest, als er merkte, wie seine Knie weich wurden. Er holte tief Luft und taumelte die letzten Meter zu seinem Bett, auf das er sich schwer atmend fallen ließ. Kaltenbrunner begann zu zittern, er rollte sich zusammen wie ein Embryo und zog die Bettdecke über seinen nackten Körper. Er durfte jetzt nicht liegen bleiben und einschlafen. Ihm blieb nur noch eine halbe Stunde, bis ihn der Chauffeur mit dem Horch abholte und zu dem Treffen mit Duncan bringen würde. Kaltenbrunner schloss die Augen, sein Kreislauf begann sich zu stabilisieren. Langsam schob er die Bettdecke beiseite und setzte sich auf. Er öffnete die oberste Schublade des reich mit Intarsien versehenen Nachttisches, fand die braune Arzneimittelflasche mit dem Lithiumcarbonat und entkorkte sie. Er kippte eine Messerspitze des weißen Pulvers auf seine Handfläche und leckte die bitter schmeckende, körnige Substanz ab. Das Zeug würde ihn noch umbringen, dachte Kaltenbrunner, aber es war das einzige Mittel, das er kannte, das gegen seine Depressionen half. Wenig später setzte die Wirkung des Pulvers ein. Er erhob sich mühsam, ging zu dem großen Mahagonischrank, holte die taubenblaue Ausgehuniform eines Leutnants der Reichsluftwaffe hervor und begann sich anzuziehen. Bevor er die Uniformjacke überstreifte, steckte er seine achtschüssige Krieghoff P 08 in das Schulterhalfter. Die Selbstladepistole, Kaliber 7.65 Parabellum mit dem kurzen Lauf, passte perfekt in seine Hand und er hatte auf dem Schießstand seine Treffsicherheit bewiesen. Kaltenbrunner setzte die Schirmmütze mit dem Reichsadler auf und prüfte sein Aussehen ein letztes Mal in dem Badezimmerspiegel. Bis auf die zernarbte rosige Haut und die blutunterlaufenen Augen sehe ich doch ganz passabel aus, dachte Kaltenbrunner grimmig, bevor er die Suite verließ.
* * *
Dokumenteneinschub 2/ Mitschrift/ Bericht des Zimmermädchens Dolores Rosa, Alter 21/ Hotel Imperial/ Polizeistation 433/ Teniente Baptista/ Gestapokarte:
Teniente Baptista, ich habe diese Fliegerin, diese junge Deutsche beobachtet, wie sie sich angezogen hat.
Santo Deus, sie trug einen schwarzen Hosenanzug, mit einem weißen Hemd und einer gestreiften Krawatte. Ich habe diesen Film gesehen, in dem kleinen Kino in der Calle Quatre Septembre, mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle. »Die blonde Venus« hieß der. Dieses Mädchen soll sich schämen, so läuft man nicht rum. Wir sind Frauen, keine Männer. Sie wirkte kalt und arrogant auf mich, ich glaube nicht, dass sich ein Mann für sie begeistern wird. Sie verließ ihre Suite so gegen 19:30 Uhr, ich habe danach noch ihr Zimmer aufgeräumt. Sie hat ihre Fliegermontur einfach auf dem Boden liegen lassen. Außerdem habe ich eine Pistole gefunden, so eine kleine silberne, wie sie Frauen tragen. Ich habe sie nicht berührt, nur das Waschbecken geputzt, noch einmal nach dem Bett geguckt und habe dann schnell das Zimmer verlassen. Das ist alles, Teniente, was ich weiß …
In der Bar Tropical wurde jeden Abend Tango gespielt. Die fünf Mitglieder des Bajofondo Tango Club Ensembles trugen weiße Leinenanzüge und standen auf einer Bühne, die seitlich des Tresens aufgebaut war. Sie spielten »Milonguero viejo« von Carlos Di Sarli und obwohl es noch früh am Abend war, füllte sich die Bar mit Hotelgästen. Die Damen posierten in geschlitzten Kleidern mit hochhackigen Schuhen, die Herren glänzten in schwarzen Anzügen mit weißen Rüschenhemden. Das Tropical war zu einem bevorzugten Treffpunkt der eingefleischten Tangotänzer geworden. Zwischen der Bühne und einer Gruppe von kleinen runden Tischen, an denen jeweils vier Stühle standen, gab es eine Tanzfläche, groß genug, dass vier oder fünf Paare eng umschlungen tanzen konnten. Duncan liebte dieses Etablissement, das für ihn, je länger er in Brasilien lebte, zu einer Art zweitem Wohnzimmer geworden war. Luiz Diaz, der Pianist, und auch Alberto Accina, der Sänger und Bandoneonspieler, setzten sich oft nach ihren Auftritten an seinen Tisch und tranken einen letzten Whiskey mit ihm, bevor sie ihre Instrumente einpackten und in der Morgendämmerung nach Hause gingen. Auf den Tischen standen Kerzen und unter den Decken hingen verstaubte Kristalllüster, die den Raum in ein schummriges Licht tauchten.
Als Hanna Reitsch in ihrem Hosenanzug die Bar betrat, stockten für einen kurzen Moment die Gespräche und es schien, dass die Tänzer für einen Takt lang in ihrer eng umschlungenen Position verharrten. Kaltenbrunner betrat kurz nach Hanna das Tropical und blickte sich mit finsterer Miene suchend um. Als er Duncan und Hanna an einem der Tische in der Nähe der Tanzfläche entdeckte, ging er mit schnellen Schritten auf die beiden zu.
Er setzte sich ungefragt, schnipste mit den Fingern und bestellte einen Kaffee und einen Cognac, als der Kellner herbeigeeilt kam.
»Für mich dasselbe«, sagte Hanna Reitsch und blickte Duncan erwartungsvoll an.
»So, dann sind Sie also schon lange hier und kennen sich mit der Thermik aus«, begann sie und lächelte.
»Wie verdient ein Engländer hier eigentlich sein Geld?«, warf Kaltenbrunner ein. Es klang so, als sei er auf Streit aus.
»Oh, … ich … ähem … beziehe nur das Gehalt eines kleinen Angestellten«, erwiderte Duncan bescheiden und lächelte dabei Hanna zu. War das ein plumper Versuch abzuklären, ob er bestechlich war, wollte er ihn aus der Reserve locken?
»Können Sie mir verraten, wie das Ganze morgen abläuft …«, versuchte Hanna, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Ich habe uns die Winde für 10 Uhr reserviert. Das Gerät ist auf einem alten Dodge Pick-up montiert und wird von Major Fontanelle nur an besonders gute Kunden vermietet. Das ist unser selbst ernannter Platzwart, der ein Auge auf alles hält, was nicht niet- und nagelfest ist. Sie haben ihn ja bereits kennen gelernt«, versuchte Duncan zu scherzen.
»Wie kommt das, dass Ihnen Ihre Arbeit Zeit lässt, mit uns in die Lüfte zu steigen?«, ließ Kaltenbrunner nicht locker.
»Ich bin mit meinem Chef, dem Handelsattaché Sir Donovan übereingekommen, dass ich mir den Tag ein wenig selber einteilen kann. Ich bin dann abends länger im Büro«, entgegnete Duncan und ärgerte sich über sich selbst, dass er begonnen hatte, sein kleines Freizeitvergnügen zu rechtfertigen.
»Und was heißt das?«
»Ach Josef, du bist so langweilig. Kommen Sie Duncan, lassen Sie uns tanzen«, sagte Hanna, stand auf und schritt zur Tanzfläche, ehe er sich wehren konnte.
»Wo haben Sie Tango tanzen gelernt?«, fragte er sie, als sie mit ihm alleine auf der Tanzfläche stand.
»Beim Tanztee«, grinste sie, »meine Freundinnen von der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg haben heimlich Tangoplatten gehört. Wenn die jungen Offiziere mit den feschen Uniformen kamen, haben wir ihnen die ersten Tanzschritte beigebracht«, lachte sie.
»Das hört sich ja sehr deutsch an, ›Koloniale Frauenschule‹«, erwiderte Duncan skeptisch. Seine Hand tastete nach Dingen, die ihn eigentlich nichts angingen.
»Ist es auch, ich bin froh, dass ich da nicht mehr hin muss«, sagte sie, nahm ihn bei der Hand und vollführte eine perfekte Halbdrehung im Takt der Musik. Duncan nahm das Angebot an. Rasch legte er eine Hand auf ihre zierliche Hüfte, bevor sie sich wehren konnte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Kaltenbrunner aufstand und Richtung Toilette marschierte.
»Günstige Gelegenheit«, hauchte sie ihm ins Ohr und ließ danach ihre Zunge um sein Ohrläppchen kreisen. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn von der Tanzfläche. Duncan war verwirrt und gleichzeitig wie elektrisiert. So etwas hatte er noch nie erlebt. Bisher war er über einen flüchtigen Kuss am Ende einer Tanzstunde noch nicht hinausgekommen.
»Peter, ich habe ein Attentat auf dich vor«, grinste sie und zwinkerte ihm zu. Sie eilte in Richtung Ausgang und winkte ihm, ihr zu folgen. War das in Deutschland inzwischen üblich und sprach man so mit den Männern in der ominösen Frauenschule, dachte er irritiert, bevor er ihr mit schnellen Schritten folgte. War das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, um zu erfahren, welchen Auftrag diese Segelflieger in Brasilien zu erfüllen hatten?
Als sie das Foyer des Hotels erreicht hatten, blickte sich Hanna hastig um. Sie eilte zu einer Treppe, die nach oben führte und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Immer noch ratlos, lief er ihr hinterher. Als sie den fünften Stock erreicht hatten, eilte sie den Flur entlang bis zu einer Tür, die einen Spalt weit geöffnet war. Sie hastete hinein, drehte sich um und zwinkerte ihm zu.
»Komm schon«, lachte sie, nahm ihn bei der Hand und begann ihn wild zu küssen.
Duncan ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Dann traf ihn ein Schlag am Hinterkopf, der ihn zu Boden warf. Er verspürte einen rasenden Schmerz, bevor er in Ohnmacht fiel.
Kaltenbrunner öffnete die Tür zum Badezimmer, blieb stehen, die Türklinke in der Hand, und lauschte. Niemand da. Das fahle Licht einer einzigen Glühbirne tauchte den gekachelten Raum in ein schummriges Halbdunkel. Er trat an das Waschbecken und öffnete den Wasserhahn. Schnell wusch er sein Gesicht und rieb es mit einem Uniformärmel trocken. Mit zitternden Händen fahndete er nach seinem Lithiumcarbonat und wurde fündig. Er entkorkte das Fläschchen, und schüttete sich eine Messerspitze des weißen Pulvers auf seinen Handrücken, den er genüsslich ableckte. Die Wirkung setzte sofort ein, er spürte, dass er ruhiger wurde und die Welt nicht mehr wie durch einen Nebel wahrnahm. Die Geräusche waren nun nicht mehr nur ein fernes Meeresrauschen und endlich breitete sich auch der Schmerz aus, den er sich erhofft hatte, als er sah, dass Hanna mit diesem Engländer tanzte. Er war jetzt nicht mehr die gut geölte Maschine, sondern für ein paar Stunden wieder ein Mensch, der die Welt durch ein Vergrößerungsglas wahrnahm, bereit zu neuen Taten.