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Duncan musste einige Stunden so gelegen haben. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, drang das trübe Licht eines regenverhangenen Morgenhimmels durch die kleine Dachluke, die sich über seinem brummenden Schädel befand. Er schüttelte sich und sofort wurde ihm speiübel. Er schloss die Augen und wartete ein paar Sekunden, bevor er sich traute, sie wieder zu öffnen. Mühsam setzte er sich auf und fuhr sich mit seiner rechten Hand über den Hinterkopf. Er spürte eine Beule in der Größe eines Hühnereis. Dann stemmte er sich hoch und öffnete die Tür der Dachkammer. Vorsichtig lugte er nach rechts und links. Trotz seiner Schmerzen musste er lächeln. Er stellte sich vor, dass er der heimliche Liebhaber der Hausherrin sei, der Angst hatte, in flagranti ertappt zu werden.
Niemand nahm Notiz von ihm, als er das Tropical durch den Hintereingang verließ. Er hatte einen Brummschädel wie nach einer durchzechten Nacht. Während er sich an den Hausmauern entlangtastete, wurde ihm immer wieder schwarz vor Augen. Was war er doch für ein dummer Esel, dass er glaubte, dass ihn Hanna verführen wollte, als sie ihn in die Dachkammer lockte. Wer hatte ihn dann niedergeschlagen, und was noch viel wichtiger war, warum? Vielleicht Kaltenbrunner, der eifersüchtig war und selber ein Auge auf das Mädchen geworfen hatte? War das so üblich in Nazideutschland, dass man den Nebenbuhler zusammenschlug, dort, wo man sich bei KdF-Ausflügen traf und nach einem romantischen Abendessen am Lagerfeuer mit dem feschen blonden Offizier anbändelte, um mit ihm rassereine Kinder zu zeugen? Noch vor wenigen Tagen hatte er mit Harry, dem Wetterfrosch vom Flughafen, darüber diskutiert, als er ihm einen Artikel aus der »Times« vorgelesen hatte, der von einem Reporter verfasst worden war, der diese seltsamen Riten bei seinem Aufenthalt in Berlin erforscht hatte. Nach außen hin gab sich das Reich moralisch rein wie eine Jungfrau, aber im Inneren brodelte und gärte es. Er schämte sich jedenfalls zutiefst, dass er sich auf dieses Spiel eingelassen hatte. Er wollte so schnell wie möglich vergessen, was in dieser Dachkammer geschehen war. Eine Dusche und ein Cognac würden ihm dabei helfen, die Dinge wieder ins Lot zu rücken, da war er sich sicher. Und dann musste er ja um 10 Uhr schon am Flugplatz sein, immerhin hatte er noch gut zwei Stunden Zeit bis dahin.
Die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Pfützen, die sich auf der Calle Senhor dos Passos, gebildet hatten, wo er ein Zimmer unter dem Dach einer gemütlichen Pension bewohnte, die Señora Caliente gehörte. Eine resolute Dame im besten Alter, die besonderen Wert darauf legte, dass ihr »keine Klagen kamen«. Gemeint war Polizeibesuch, lautes Grölen im Treppenhaus, wenn man zu viel getrunken hatte oder Damenbesuch, bei dem man nicht nachweisen konnte, dass es sich um die Cousine handelte. Völlig durchnässt und müde öffnete er leise die Haustür und kletterte, um niemanden zu wecken, auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Er vermied die Holzstufen, die knarrten, und hielt sich an dem grellrot gestrichenen Geländer fest, das im ersten Licht der Morgensonne glänzte. Oben angekommen, verharrte er einen Moment und lauschte in die Stille. Nichts, niemand, keiner hatte ihn gehört. Er nestelte den Zimmerschlüssel aus der Tasche seines Leinenjackets und suchte das Schlüsselloch. Was war das, seine Zimmertür stand einen Spalt weit offen? Verwundert trat er ein und suchte nach dem Lichtschalter, als ihn erneut ein harter Schlag in den Nacken zu Boden warf. Wie glühende Lava breitete sich der Schmerz in seinem Körper aus. Er krümmte sich zusammen, als ihn ein Stiefeltritt in die Niere traf. Jemand stülpte ihm eine Mütze über den Kopf und hielt ihm die eiskalte Mündung einer Pistole an die Stirn.
»Und jetzt, mein Freund, wirst du auspacken …«
»Wie meinen Sie das, sind Sie verrückt geworden, ich habe Ihnen nichts getan, Sie müssen mich verwechseln«, röchelte er.
»Shut up«, erwiderte die Stimme mit starkem Akzent. »Zeit zu singen, mein Vögelchen, wie lautet die Verschlüsselung für eure Funksprüche?«
Er hatte keine andere Wahl und tat ihm den Gefallen.
1937
Dokumenteneinschub 3/ Durch die Gestapo abgefangener Brief des Studenten Karl Theodor Heinrich, Mitglied der KPD, an eine Genossin/ Gestapokarte:
Liebe Kathrin,
hier im Odenwald ist es wunderschön und wenn ich nicht wüsste, dass alles, was hier geschieht, der Kriegsvorbereitung dient, könnte ich es genießen. Ich beobachte dieses Mädchen mit Namen Hanna schon eine ganze Weile. Ihr Vater ist ein deutschnationaler Zahnarzt, ihre Mutter eine bayrische Adlige. Beide versessen darauf, Rache für Versailles zu nehmen. Gestern war die Luft warm und der Himmel wölbte sich wolkenlos über der Rhön. Alles war vorbereitet für den Start des Rhönsperbers. Die Motorwinde lief an und das Seil spannte sich. Hanna hob den Daumen und deutete damit an, dass sie startbereit war. Der Rhönsperber hüpfte einige Meter über das Gras, bis er genug Fahrt aufgenommen hatte, um in einem Winkel von 60° in den Himmel zu schießen. Hanna muss wohl Ausschau nach einem Bussard, oder einem anderen Raubvogel gehalten haben, der seine Schwingen ausgebreitet hatte, um sich von der Thermik nach oben tragen zu lassen. Bald hatte sie einen der majestätischen Vögel entdeckt, der über einem felsigen Abhang kreiste. Sie steuerte das Segelflugzeug darauf zu und ich sah, wie die warme Luft das Flugzeug anhob. Sie drehte Runde um Runde in dem Luftstrom, bis sie etwa eine halbe Stunde später die Höhe von sechstausend Metern für ihren Versuch erklommen hatte. Dies alles geht nicht ohne Sauerstoffmaske. Eine Apparatur, die wir Wochen vorher in das Flugzeug eingebaut hatten. Kein Mensch vor ihr hat es gewagt, aus dieser Höhe senkrecht in die Tiefe zu stürzen. Niemand wusste, ob die neuartigen Bremsen in der Lage sein würden, den Sturzflug abzufangen. Was wäre, wenn diese Technik versagen würde? Aber sie wusste, dass dies ihre einzige Chance war, um als Frau in den Olymp der Militärpiloten aufgenommen zu werden. Wir sahen, wie das Flugzeug nach unten stürzte. Jeden Moment rechneten wir damit, dass eine der Tragflächen abreißen würde.
Aber die neuen Sturzflugbremsen funktionierten, zweihundert Meter über dem Boden fing sie den Sperber ab, flog noch eine Runde über dem Flugplatz, bis sie den Vogel butterweich auf die Graspiste aufsetzte. Eine Gruppe von lachenden Menschen kam auf sie zu gerannt. Allen voran Professor Walter Georgii. Ich vermute, dass sie wusste, dass sie den Test bestanden hatte. Ab jetzt konnte ihr niemand mehr den Platz in einer Militärmaschine streitig machen. Alle auf dem Flugplatz ahnten, dass diese Sturzflugbremsen ein wichtiges Detail künftiger Kampfbomber sein würden, die aus großen Höhen wie Raubvögel auf ihre Beute herunterstürzen konnten und dort ihre tödliche Bombenlast abwerfen würden.
Meine Genossen und ich wissen: Während Hanna und andere Piloten für die Wiederaufrüstung der Reichsluftwaffe in Nazideutschland sorgen, zerbombt die deutsche Legion Condor bereits den Widerstand der kommunistischen Internationale in Spanien, die sich in den aussichtslosen Kampf gegen die spanischen Faschisten unter General Franco zusammengefunden haben. Ein Opfer ist die Stadt Guernica geworden, der unser Genosse Pablo Picasso in einem Gemälde ein Denkmal setzte, das noch während der Weltausstellung in diesem Jahr in Paris der Öffentlichkeit präsentiert wird. Nazideutschland hält Bilder wie dieses für »Entartete Kunst« und zeigt das durch eine Wanderausstellung, die in München begann.
Kathrin, du weißt, vor wenigen Wochen trat der gemäßigte deutsche Wirtschaftsminister Schacht zurück, weil er die inflationäre Finanzierung des im Vorjahr beschlossenen Vierjahresplans zur Rüstungsfinanzierung nicht mittragen will. Die Rüstungsausgaben werden nun mit der Geldpresse und durch Regierungsbürgschaften abgesicherte Wechsel der Industrie im Ausland finanziert. Woher ich das weiß? Wir werden von unseren studierten Genossen geschult. Die Währungsreserven Deutschlands sind aufgebraucht. England bereitet sich auf eine Invasion der Deutschen vor, es wird sich nicht kampflos ergeben.
Ich habe Angst,
mit sozialistischen Grüßen: Karl Theodor
Dokumenteneinschub 4/ Brief von Ernst Udet an Hanna Reitsch/ Gestapokarte:
Liebes Fräulein,
Ihnen ist geglückt, was den meisten meiner Piloten nicht gelungen ist. Sie haben bewiesen, dass die Erfindung von Pohlmann, dem leitenden Ingenieur von Junkers, funktioniert. Und nicht nur das: Sie haben das letzte technische Detail so perfektioniert, dass die Sturzflugbremse direkt in unseren neuen Kampfbomber, die Junker JU 87, eingebaut werden kann. Ich lade Sie deshalb recht herzlich zu uns an die Flugerprobungsstelle Rechlin ein, um dort an der Entwicklung der neuesten Kampfmaschinen mitzuwirken. Deutschland braucht Pilotinnen wie Sie, die bereit sind, ihr Leben für das Vaterland zu opfern. In der Hoffnung auf Ihre Zusage verbleibe ich mit deutschem Gruß.
Sieg Heil!
Ernst Udet, Generalflugzeugmeister
Vorspeise
Der schwere Duft nach gedünstetem Fisch, Blumenkohl und Salzkartoffeln hüllte die Gäste des Speisesaals ein und machte sie träge. Mittagszeit, Kantinenzeit, die allermeisten der Anwesenden – Rentner aus dem Westen in Strickjacken, bunten Hemden, mit grauen Haaren und faltigen, müden Gesichtern – kannten die bleierne Schwere der von einer Stechuhr kontrollierten Pause, das kurze Atemholen zwischen den endlosen Stunden eintöniger Arbeit. Vielleicht war es das, was die Gäste so liebten, hier im Osten, wo alles noch bezahlbar und überschaubar war. Wie auch die Ureinwohner, die Ossis, wie sie sie abfällig nannten, die sie wie kleine Könige behandelten, die neidisch auf ihre Autos schielten, immer in der Hoffnung, bald selbst in den Genuss der blühenden Landschaften zu kommen, die ihnen Helmut Kohl versprochen hatte.
Anke hatte sich inzwischen umgezogen. Sie trug ein schwarzes Kellnerinnenkostüm mit einer weißen Schürze. Ihre große Brust hob und senkte sich rhythmisch, während sie den Gästen die Tageskarte brachte. Neben einem Kartoffelsalat gab es einen Müritzer Fischsalat nach Art des Hauses. Hervorragend, fand Duncan, der ihn bereits einmal genossen hatte. Es stand für ihn außer Frage, dass dies die beste Henkersmahlzeit sein würde, falls er den Abend nicht mehr erlebte. Miller schloss sich ihm an, Petersen wählte den Kartoffelsalat. Er bestellte sich einen Underberg als Entré, während Duncan eine Flasche Mineralwasser orderte. Miller entdeckte einen 95er-Kabinett, während er missbilligend auf Petersen starrte, der den Underberg bereits geknackt und das Gesöff in seinem Rachen gurgeln ließ. Schweigen senkte sich über den Tisch, unterbrochen nur von einem gelegentlichen Rülpser, den Petersen ausstieß.
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