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Die Nachsuche der Eltern verlief ergebnislos und sie konnten sich nicht erklären, wo das Mädchen stecken könnte. Der Naturpark war riesig mit Vögeln, freilaufenden Stieren und Pferden, aber auch mit unberechenbaren Sümpfen. Endlich alarmierten die Eltern die Polizei. Bernard war sofort zur Stelle und er organisierte in Abwesenheit seines Chefs das Notwendigste. Vor allem musste es darum gehen, unverzüglich und mit dem grösstmöglichen Aufgebot die Suche nach dem Mädchen einzuleiten. Hilfreich für diese Zwecke waren jeweils die «Sapeurs-Pompiers», die Feuerwehr im Zuständigkeitsbereich. Sie half stets unkompliziert und war sich gewohnt, in unwegsamem Gelände zu wirken.
So zum Glück auch heute. Nach nur kurzer Zeit konnte das Mädchen bei einem Flussbett gefunden werden. Sie wollte einige Fische beobachten und ist dabei ins Straucheln geraten. Der verknackte Fuss erlaubte es ihr nun aber nicht mehr zu laufen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Hilfe zu hoffen. – Überglücklich nahmen die Eltern ihr Mädchen gegen Abend in die Arme und sie dankten den Hilfskräften für die Unterstützung. Der Tag war ein voller Erfolg für Bernard, und er ging zufrieden und mit einem Wohlgefühl nach Hause, schloss im Bett die Augen und sah Isabelle vor sich. Wow, welch schöne Frau! Hoffentlich werden wir eins!
Isabelle war die ältere Tochter von Fabienne, der Ehefrau von Paul Bertrand. Fabienne führte das Restaurant «La Cigale», welches für seine Muschelspezialitäten bekannt war. Fabienne war eine gewiefte Geschäftsfrau, welcher man so schnell nichts vormachen konnte. Sie hatte den Laden im Griff. Ab und zu wurde sie von ihren beiden Töchtern, Isabelle und Désirée, unterstützt. Die beiden jungen Frau lebten jedoch zumeist ihr eigenes Leben und so kam es nicht oft vor, beide im Restaurant anzutreffen. Désirée war von Beruf Kunstschmiedin, Isabelle Photographin. Beide hatten ihr künstlerisches Talent wahrscheinlich von ihrem Vater mit auf den Weg bekommen. Paul war von Beruf Künstler, der naiven Malerei zugetan. Leben konnte die Familie Bertrand kaum von den Einkünften des Mannes, womit es mehr als willkommen war, dass Fabienne ein solch glückliches Händchen im Umgang mit Geld hatte.
Bernard konnte es kaum erwarten, bis wieder Wochenende war. Er sehnte sich nach Isabelle, obwohl er sie kaum kannte. Sie hatte ihn einfach verzückt, ihm den Verstand geraubt. Am Sonntag, kurz nach dem Mittagessen, wollte er sich auf den Weg machen. Sein Döschwo zeigte ihm die Schnauze und signalisierte: Ich bin bereit. – Aber weit gefehlt. Die erste Zündung fiel ins Leere, ebenfalls die zweite und bei der dritten klang die Batterie schon erstaunlich müde. Was tun? Glücklicherweise konnte man einen 2 CV auch mittels Kurbel im Motorraum zum Starten bringen, sofern das Vehikel denn wollte. Also setzte Bernard den Hebel an und er bekam prompt den Rückschlag der Kurbel ins Handgelenk zu spüren. Du verfluchtes «Mistding», ging Bernard durch den Kopf, aber er äusserte es nicht, da er wusste, dass seine «Ente» pfleglich behandelt werden wollte. Also sprach er ihr gut zu und siehe da, beim zweiten Mal sprang die Karre an.
Angekommen in Arles platzierte er sein Entchen so, dass er es leicht anschieben konnte, sollte es wieder bocken. Zum Glück gab es in der Nähe des Restaurants «La Cigale» eine Seitenstrasse, die leicht abwärts zum Rhone Ufer führte. Hoffentlich hielt die Handbremse und löste sich der eingelegte Rückwärtsgang nicht. Mit dieser Hoffnung begab sich Bernard ins Restaurant. Dort angekommen hätte seine Enttäuschung nicht grösser sein können. Anstelle von Isabelle begrüsste ihn ein junger Mann, gutaussehend, etwa in seinem Alter und sehr adrett gekleidet. Er erkundigte sich nach seinen Wünschen und wies ihm einen Tisch zu. Bernard bestellte wie beim letzten Mal ein «demi».
Nach etwa einer halben Stunde und einem zweiten «demi» wollte Bernard bereits aufbrechen, als zwei junge, hübsche Damen das Restaurant betraten. Die eine von den beiden war Isabelle, die andere kannte er nicht. Sofort erkannte Isabelle Bernard und sie trat zu seinem Tisch. «Darf ich dir vorstellen? Dies ist meine Schwester Désirée. Wir helfen unserer Mutter ab und zu hier im Restaurant. Der gutgekleidete Kellner ist übrigens unser Bruder Claude. Auch er hilft hier ab und zu aus; so wie heute.»
«Hast du schon etwas gegessen, Bernard? Wie wäre es mit ‘moules et frites’? Eine Spezialität des Hauses. Meine Mutter versteht es hervorragend Muscheln zu kochen und diese sind heute Morgen frisch reingekommen.»
«Liebend gern, wenn du oder ihr auch mitesst», gab Bernard zur Antwort. Natürlich würde er am liebsten nur mit Isabelle alleine essen. Aber, sei es wie es soll, er genoss auf jeden Fall die Nähe zu seiner Angebeteten. Kurz darauf servierte Isabelle zwei Teller; wohlgefüllt und unglaublich fein riechend nach Knoblauch, Kräutern und frisch geschlagenem Rahm. Beide fingen an zu essen und nach kurzer Zeit sagte Isabelle: «Ja, ich will! Ja, ich will dich heiraten.»
Bernard wäre fast vom Stuhl gefallen, verschluckte sich an einem Pommes frites und konnte sich erst wieder langsam fassen, als ihm Isabelle liebevoll auf den Rücken klopfte. «Aber du kennst mich ja noch gar nicht richtig. Du weisst auch nicht wo und was ich arbeite», stammelte Bernard unbeholfen. «Doch», erwidert Isabelle. «Ich denke sehr wohl, dass ich dich kenne, so wie du bist, und dass ich dich richtig einschätzen kann. Ich liebe dich, und der Rest ist mir egal.» Zärtlich legte sie die Hand auf die seine, und der weitere Verlauf des Tages und des Abends soll ihr Geheimnis bleiben.
So kam es, wie es kommen musste. Wenige Wochen später wurde aus Mademoiselle Bertrand Madame Picard. Isabelle und Bernard heiraten in Arles, natürlich im Restaurant ihrer Mutter. Es war ein wunderschönes Fest, und wie auf wundersame Art und Weise verstanden sich die beiden Familien, Picard und Bertrand, auf Anhieb bestens.
Das Ehepaar Bernard und Isabelle musste schon bald wieder weiterziehen: Bernard wurde in die Aquitaine in der Nähe von Bordeaux versetzt. Dort sollte das Ehepaar auch eine Weile bleiben. Schon im Verlauf des ersten Jahres kam zusätzliches Leben in den Ehealltag: Michelle, die ältere Tochter der beiden erblickte das Licht der Welt. Zwei Jahre später gesellte sich Danielle dazu. – Von nun weg war klar, wer das Sagen hatte. Die beiden Mädchen verstanden es von Kindsbeinen an, ihre Eltern um den Finger zu wickeln und sich in der Familie durchzusetzen. Heute sind beide, Michelle und Danielle, erwachsen und wunderschön anzusehen: die eine gross und blond, die andere etwas kleiner und brünett, beide mit vollem langem Haar, ihrer Mutter Isabelle wie aus dem Gesicht geschnitten.
Aber nicht nur die äussere Erscheinung der beiden lässt keinen Zweifel offen, wer die Mutter ist. Auch im Charakter sind sie ihrer Mutter sehr ähnlich: offen, natürlich, spontan und äusserst herzlich. Bernard könnte sich keine liebevollere Familie wünschen.
Menschenhandel, Drogenhandel …
«Sie haben recht, Herr Baumann, ich muss offen mit Ihnen reden. Unseren Informationen zufolge geht es in diesem Fall um grossangelegten Menschenschmuggel, ja gar um Menschenhandel. Aber nicht nur das, auch Drogenschmuggel und Drogenhandel spielen hier mit, letztlich steht aber der Handel mit Organen im Vordergrund. Das Ganze spielt sich nach unseren Informationen über die Balkanroute ab, und wie sie sicher wissen, ist in Albanien alles machbar, was Gott verboten hat, wenn man nur genügend dafür bezahlt. Das Geschäft ist äusserst lukrativ und hat deshalb schon so manchen in seinen Bann gezogen. Doch jetzt scheint das Ganze eine neue Dimension anzunehmen, von der nur zu erahnen ist, welchen Umfang sie noch annehmen könnte. Wir haben nämlich konkrete Hinweise, dass nicht nur Polizeifunktionäre in die Sache verwickelt sind, sondern auch deren politische Vorgesetzte.»
Jetzt wurde Philippe doch etwas hellhöriger. «Und wie sehen denn diese Hinweise aus?», wollte Philippe wissen. – «Ich muss sie darauf aufmerksam machen, Herr Baumann, dass das Ganze streng vertraulich ist und ich nicht – oder vielleicht noch nicht – befugt bin, Ihnen nähere Angaben anzuvertrauen.»
«Also gut, liebe Frau Sütterli, dann ist für mich das Gespräch hiermit beendet. Eigentlich interessiert es mich auch gar nicht richtig, was Politiker und Funktionäre so alles treiben. Ich will mein Rentendasein geniessen und meinen Frieden haben.»
Mit diesen Worten erhob sich Philippe, legte 5 Franken auf den Tisch und verabschiedete sich von Frau Sütterli mit einem kühlen «à Dieu». – Zurück blieb die EDA-Mitarbeiterin, abermals die Welt oder zumindest Philippe nicht richtig verstehend, zumal diesem so schnell nichts vorzumachen war.
Zuhause angekommen erzählte Philippe die Geschichte seiner Frau Deborah. Diese beglückwünschte ihn zu seinem Verhalten, gab dann allerdings doch zu bedenken, dass sollten die Informationen stimmen, ernsthaft dagegen angetreten werden müsste. Selbstverständlich hatte Deborah recht, aber dann musste man auch offen und ehrlich mit einem reden und nicht mit wesentlichen Informationen zurückhalten. Schliesslich hatte Philippe überhaupt keine Lust, sich mit der Sache näher zu befassen. Zum einen glaubte er, dafür nicht die richtige Person zu sein, zum andern hatte er auch den Glauben daran verloren, die Welt oder zumindest einen kleinen Teil davon verändern zu können. In all seinen Jahren als Kriminalpolizist war es ihm vielleicht ein- oder zweimal gelungen, nachhaltig zu wirken, um Schlimmeres zu verhindern. Natürlich brauchte es die Polizei, und natürlich sollen Straftäter ins Recht gefasst werden, aber hier wie dort sollte mit Augenmass gearbeitet und den Umständen entsprechend geurteilt werden. Diese Einstellung vermisste Philippe zuweilen in seinem Berufsleben und so machte Ernüchterung oftmals der Realität Platz.
Auch in diesem Fall konnte Philippe sich nicht vorstellen, wie er in der Sache weiterhelfen könnte. Auf sein ursprüngliches Beziehungsnetz konnte er nicht mehr zurückgreifen, da all seine ehemaligen Kollegen dem Amts- oder Berufsgeheimnis unterstanden. Auch hatte er keinen Zugriff mehr auf Datenbanken, die Recherchen doch einiges erleichtern würden. Schliesslich, und das war der Hauptpunkt, fehlte ihm auch die Erfahrung in nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Quellen zu führen und mit diesen zusammenzuarbeiten war nie sein Metier, und Ermittlungen im Ausland fielen zumeist ebenfalls nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.
In diesem Fall wäre es aber höchstwahrscheinlich und unabdingbar, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen. Namentlich wäre von Interesse zu erfahren, um welchen Polizeichef es sich hier handelte und was ihm konkret vorgeworfen wird.
Philippe wendete sich lieber wieder seinem Hund zu, zumal dieser ihm mit freundlichem Blickkontakt den anstehenden Abendspaziergang signalisierte. Viel lieber kam er dieser Einladung nach, als noch länger der anderen Sache gedanklich nachzuhängen.
Es war dunkel geworden, und Philippe und Enrico machten sich für den Spaziergang bereit. Bei Enrico bestand dies darin, dass er sich nochmals kräftig streckte und einen tollen Schluck Wasser nahm, bei Philippe, indem er sich möglichst warm anzog und Enrico das Leuchtband über den Kopf zog. Jedes Mal in dieser kalten Jahreszeit bewunderte er seinen Hund, wie dieser mit dem gleichen «Kleid» locker 20 Grad Temperaturunterschied aushalten konnte; mehr noch, dass es ihm gefiel, wenn es draussen stürmte und regnete oder gar schneite, und die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt lagen. – Aber eben, Tiere sind keine Weicheier, und er selber wollte auch keines sein, womit er sich zusammenriss und der Kälte trotzte.
Auf dem Weg zum nahen gelegenen Wald hielt plötzlich ein Fahrzeug neben ihnen still. Dies war an und für sich nichts Ungewöhnliches, da es oftmals vorkam, dass Ortsunkundige sich bei ihm nach dem Weg erkundigten. Diesmal war es allerdings anders. Die Scheibe wurde elektronisch geöffnet und im Innern des Wagens sassen drei Personen. Auf dem Beifahrersitz erkannte Philippe Frau Sütterli. Der Mann am Steuer stellte sich als Michael Pulvermacher vor und er sprach in Hochdeutscher Sprache. Selbstverständlich entging Philippe nicht, dass er unter dem rechten Oberarm eine Waffe trug, vermutlich eine Walther P99. Die Walther P99 verfügt über keinen sogenannten Anti-Stress-Abzug, womit die Waffe im geladenen Zustand jederzeit schussbereit ist. Die Tragart liess darauf schliessen, dass Pulvermacher Linkshänder war. Im Fond des Wagens sass ein gewisser Tom Smith.
Frau Sütterli entschuldigte sich für den «Überfall» und sie bat Philippe, kurz im Wagen Platz zu nehmen. Dieser verneinte selbstverständlich, wollte er seinen Hund schliesslich nicht allein auf der Strasse zurücklassen. Folglich bat Frau Sütterli Philippe, er möge doch bitte morgen um 1000 Uhr ins Bundeshaus West kommen, dort werde er von der Generalsekretärin des Bundesrates erwartet. Zähneknirschend, und um nicht noch länger in der Kälte stehen zu müssen, nahm Philippe die Einladung an und setzte seinen Spaziergang mit Enrico fort.
Also wussten sie, wo er und Deborah wohnten. Das war zwar nicht allzu schwierig ausfindig zu machen und trotzdem kam ihm der Besuch in Dreierbesetzung merkwürdig vor.
Der Wagen entfernte sich in gleicher Weise, wie er gekommen war, und Philippe merkte sich das Kontrollschild. Eine AT Nummer, was auf eine Botschaft schliessen liess. Das konnte viel bedeuten, aber auch nichts. Frau Sütterli arbeitete schliesslich im Auswärtigen Amt und da waren Kontakte mit ausländischen Stellen an der Tagesordnung. Interessant war höchstens die Tatsache, dass sie ihn mit einem Diplomatenfahrzeug aufsuchten und dies doch schon recht spät am Abend. Überdies liess sich Frau Sütterli von einem hochdeutsch sprechenden Mann chauffieren, und der Mann auf dem Rücksitz des Wagens war wahrscheinlich amerikanischer Staatsbürger.
Philippe und Enrico setzten ihren Spaziergang fort und für den Moment war Philippe sich nicht mehr ganz sicher, ob es schlau war, den nahen gelegenen Wald zu durchqueren. Ach was, dachte er: mach dich nicht konfus und schritt weiter. Nachdem nun aber Enrico, was er sonst nie tat, sich von ihm löste und wie von einer Tarantel gestochen durch den Wald rannte, hinterfragte Philippe seinen Entscheid, und es war ihm schon ein wenig mulmig zu Mute; erst recht, als Enrico auch noch für eine kurze Zeit aus seinem Blickfeld verschwand. Philippe beruhigte sich in der Annahme, dass Enrico wohl eine Katze aufgescheucht hatte und dieser hinterhergejagt war. – Aber hatte es so spät am Abend überhaupt noch Katzen im Wald?
Auf jeden Fall kehrten Philippe und Enrico nach einer guten halben Stunde wieder nach Hause zurück und Philippe erzählte Deborah auch von diesem Vorkommnis. Sie machte sich natürlich so ihre Gedanken und hoffte nur, dass Philippe da nicht in etwas hineingeraten war, aus dem er schwerlich – wenn überhaupt – wieder herauskam. Natürlich sagte sie ihm dies nicht so direkt.
Nachdem die beiden das Abendessen eher schweigsam eingenommen hatten, verabschiedete sich Philippe damit, dass er im Bett noch ein wenig lesen wolle. Er machte dies oft, und so war es für Deborah auch nicht ungewöhnlich, wenn er sich bereits um 2100 Uhr von ihr verabschiedete. Sie selber wollte noch den Film im Fernseher zu Ende schauen.
Die Nacht verlief für Philippe unruhig, und er musste immer wieder an das Vorgefallene denken. Es war schon eigenartig, dass Frau Sütterli ihn in Begleitung von zwei Ausländern aufsuchte und ihn fast ultimativ ins Generalsekretariat des EDA aufbot. So etwas hatte er noch nie erlebt und auch nicht gehört, dass dies einer anderen Person widerfahren wäre. Irgendetwas stimmte hier nicht, und Philippe sagte sich innerlich: Bleib auf der Hut!
Am nächsten Morgen stand also das Treffen mit der Generalsekretärin im Bundeshaus West an. Was sollte er bloss anziehen? Früher war es für ihn klar, mit Hemd und Krawatte, Bundfaltenhose und Jackett zur Arbeit zu gehen. Jedoch seit seiner Pensionierung hatte er nie wieder eine Krawatte getragen oder sich sonst irgendwie bemüht, möglichst herausgeputzt daherzukommen. Und so sollte es auch heute sein. Er entschloss sich weiterhin seine Jeans zu tragen, dazu ein T-Shirt, Pullover und eine dem Wetter entsprechend passende Jacke.
Abermals nahm er den ÖV um nach Bern zu gelangen. Beim Eingang zum Bundeshaus West musste er sich der Security stellen und er unterstrich, dass er um 1000 Uhr von der Generalsekretärin erwartet werde. Der Sicherheitsmitarbeiter checkte seine Angaben und gab ihm kurze Zeit später zur Antwort, dass er im Wartezimmer abgeholt werde.
Wie nicht anders zu erwarten, war die Person, die Philippe abholte, Frau Sütterli. Sie schien wirklich eine zentrale Rolle zu spielen und sich in nächster Nähe zur Generalsekretärin zu befinden. Die Generalsekretärin hiess Vögtli, wie Philippe in seiner Unwissenheit dem Staatskalender der Bundesverwaltung entnommen hatte. Frau Irène Vögtli sollte hier also das Sagen haben.
«Guten Tag Herr Baumann, mein Name ist Irène Vögtli. Ich bin die Generalsekretärin von Bundesrat … ja sie wissen schon von wem. Ich danke Ihnen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und möchte sogleich in ‘medias res’ gehen, wenn ihnen das recht ist.»
Frau Vögtli wusste sich auszudrücken und signalisierte dadurch, ihren Willen durchzusetzen. Offensichtlich war sie es auch gewohnt, Befehle zu erteilen und deren Umsetzung zu kontrollieren. Sie schien die Sache im Griff zu haben, auch wenn das Ganze nicht nur sympathisch herüberkam. Überdies liess sich Frau Vögtli gerne als ‘Madame’ ansprechen. Dies hängt mit ihrer Kindheit zusammen, denn sie wuchs mit ihren Eltern unter französischem Namen in der Westschweiz auf. Den Namen Vögtli hatte sie behalten, wenngleich sie sich von ihrem Mann vor ein paar Jahren hatte scheiden lassen. Wie es schien und so wird es auch portiert, hatte in der Ehe Vögtli Madame die Hosen an.
«Die beiden Herren an meinem Tisch haben Sie ja bereits kennengelernt. Herr Pulvermacher ist Mitarbeiter des deutschen Bundesnachrichtendienstes und Herr Smith ist Mitarbeiter beim CIA. Beide Herren geniessen mein volles Vertrauen, ebenso wie Frau Sütterli, die sie ja auch schon kennengelernt haben.» «Aber nehmen sie doch bitte Platz, Herr Baumann.»
Vom Tonfall her klang dies mehr wie ein Befehl als eine Einladung, und Philippe wusste eigentlich gar nicht, was er hier sollte. Am liebsten wäre er auch jetzt wieder aufgestanden und hätte Frau Vögtli die kalte Schulter gezeigt, so unfreundlich wollte er dann aber doch wieder nicht sein und er harrte er der Dinge, die da kommen mochten.
Frau Vögtli wurde nun einiges direkter als Frau Sütterli. Sie stellte vorweg fest, dass der Bundesrat voll im Bild sei und sie das ‘Pleinpouvoir’ erhalten habe.
Philippe hielt sich nicht dafür nachzufragen, ob dieses ein Entscheid des Gesamtbundesrates war oder «nur» von ihrem Departements Vorsteher. Damit hätte er den Bogen wohl überspannt und das wollte er nun auch wieder nicht. Also beschloss er, sich einmal anzuhören, was Madame Vögtli zu sagen hatte.
«Wie Sie wissen, und es würde uns dann schon noch interessieren, woher Sie Ihr Wissen haben, sitzt seit gut einer Woche ein hochrangiger Polizeichef in Tirana in Untersuchungshaft. Ein übereifriger, neugewählter Minister hatte dies veranlasst, wahrscheinlich um sich gegenüber der EU zu profilieren. Sie wissen ja, dass Albanien EU- Kandidat ist, und da gilt es zu markieren, wo man nur kann. Leider kam uns der «liebe» Minister in die Quere; wir hatten den Polizeichef nämlich schon seit längerem im Auge, und so mussten wir neu disponieren. Für die hiesigen Stellen ist der Polizeichef erkrankt und liegt in einem Spital in Tirana. Besuche sind vordergründig aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht möglich.»
Philippe interessierte sich natürlich vorweg, um wen es sich bei diesem Polizeichef denn handelte und er erkundigte sich danach. Frau Vögtli schrieb den Namen auf einen Zettel und sie zeigte ihn ihm. Der Name war Philippe nicht unbekannt, er vermied es allerdings, sich anmerken zu lassen, wie gut er diese Person kannte.
«Nennen wir die Person einfach Zielperson Nr. 101», befand Frau Vögtli. – Also gut, warum nicht, dachte Philippe. Aber wer sind dann Zielperson 100 und Zielperson 102, und wer waren die Zielpersonen 1 – 99? – Philippe stellte diese Frage nicht.
Nun wurden von Seiten von Frau Vögtli die Spielregeln bekannt gegeben. Sie hielt fest, dass dieser Besuch bei ihr einmalig bleiben müsse und weitere Kontakte nur über ihren Mittelsmann, allenfalls über Frau Sütterli erfolgen sollten. Sie nannte ihm als Mittelsmann einen ihm vertrauten Journalisten namens Fred Würgler.
Fred oder Freddy Würgler – niemand nannte ihn Alfred – war jahrelang Auslandkorrespondent für das Radio SRF und zuständig für den Balkan und den Nahen Osten. Er gilt als profunder Kenner dieser Regionen, wobei es historisch betrachtet und mit Blick auf die Entwicklung des «Osmanischen Reiches» Sinn macht, hier aus einer Hand zu berichten. In der Zwischenzeit war Fred allerdings ins Mutterhaus zurückberufen worden und moderiert dort nun Sendungen mit Auslandbezug, vornehmlich zu den eben erwähnten Regionen.
Philippe hatte Fred zuletzt vor etwas mehr als einem Jahr getroffen und sie tauschten sich über ihre Zukunft aus. Fred war allerdings einiges jünger als Philippe und so war es für ihn noch nicht richtig an der Zeit, darüber nachzudenken, was er einmal machen würde, wenn er pensioniert wäre. Dies muss auch nicht verwundern, gibt es doch kaum einen Journalisten, wenn dieser seinen Beruf mit Herzblut ausübt, dass er zwischen Berufsleben und Rentendasein unterscheiden kann. Die ihnen angeborene Neugierde begleitet sie zeitlebens und hält sie dadurch auch wach an Geist. – So wird es mit Sicherheit auch einmal bei Fred sein.
«Was wird denn nun aber der Zielperson 101 konkret vorgeworfen?» So die Erkundigung von Philippe. «Unseren Informationen zufolge soll die betreffende Person im grossen Stil mit Drogen handeln.» Was, das konnte Philippe sich nun ganz und gar nicht vorstellen. «Und wie kommen Sie darauf?» «Unsere Vertrauensperson in Athen, respektive seine Vertrauensperson in Tirana hat uns folgendes berichtet»:
Sie hätten Zielperson 101 schon seit Längerem auf dem Radar gehabt. Er sei dadurch aufgefallen, dass er immer wieder Kontakt zu einflussreichen Personen in Tirana gesucht habe. Seine Frau sei zwar Kroatin, spreche aber aufgrund ihrer ursprünglichen Abstammung fliessend Albanisch und besitze grössere Ländereien in der Umgebung von Tirana. Die Ferien verbrächten die beiden deshalb oft in dieser Gegend.
Nun sei den Behörden aufgefallen, dass Zielperson 101 sehr oft den Eigenkonsum übersteigende Mengen an Olivenöl eingekauft habe und dieses in Eichenfässer zu 5 Litern habe abfüllen lassen. Das Olivenöl sei von hervorragender Qualität, sei kalt gepresst und stamme von Bäumen, die teilweise weit mehr als hundert Jahre alt seien. Die Erstehungskosten für Olivenöl in dieser Qualität sei in Albanien sehr gering und betrage pro Liter gerade mal wenige 100 Lek. Der Handelspreis für Olivenöl dieser Qualität lasse sich im Ausland fast nach Belieben nach oben schrauben.
Nun wollte es aber der Zufall, dass eines dieser Fässer beim Verlad in die Brüche gegangen sei. Das Öl habe sich auf den Platz ergossen, aber nicht nur das, auch ein bräunliches Pulver habe sich daruntergemischt. Die diskrete Untersuchung habe ergeben, dass es sich dabei um Heroin von bester Qualität handelte. Das Heroin sei feinsäuberlich verpackt und im Innern des Eichenfasses versteckt, und das Fass selber mit Olivenöl aufgefüllt worden. Für Drogenspürhunde sei es unmöglich, das Heroin so ausfindig zu machen. Das Heroin stamme vermutlich aus Afghanistan und werde über die Balkanroute nach Albanien gebracht.
«Und warum haben all die Informationen das EDA und nicht das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) oder zumindest das Verteidigungsdepartement (VBS), wo der Schweizer Nachrichtendienst angesiedelt ist?», wollte Philippe nun wissen. – «Ja, die Geschichte geht weiter und lässt sich wie folgt zusammenfassen»:
Zielperson 101 sei mit dem Vorfall konfrontiert worden. Er sei zwar aus allen Wolken gefallen und wollte von Drogen nichts wissen, trotzdem liess er sich dem Anschein nach mit einem Schweigegeld und der Zusicherung, dass den Ländereien seiner Frau nichts geschehen werde, dazu überreden, Stillschweigen zur Sache zu halten. Mehr noch, es wurde ihm angedroht, sollte er nicht kooperieren, so würden er und seine Frau alles verlieren, was sie hätten. Ob dieser Drohung sah sich Nummer 101 veranlasst, wohl oder übel einzulenken. Damit war er natürlich erpressbar und für die Drahtzieher des Verbrechens ein gefundenes Fressen.