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Wir lassen einen Raum oft unordentlicher zurück, als er bei unserem Eintreten war. Wir denken: „Ich kann ja später aufräumen.“ Aber dieses „Später“ kommt dann einfach nicht, bis die Unordnung unerträglich geworden ist und uns so sehr stört, dass wir beginnen, gründlich aufzuräumen. Oder wir sind verärgert über jemand anderen, der seinen Teil der Hausarbeit nicht erledigt. Wie viel leichter ist alles, wenn wir uns sofort um die Dinge kümmern. Dann müssen wir uns gar nicht erst über die zunehmende Unordnung aufregen.
Diese Übung hilft, uns der Neigung bewusst zu werden, uns von der Erledigung bestimmter Dinge abzuwenden, auch wenn es kleine Dinge sind, um die wir uns im Laufe des Tages kümmern könnten, wozu wir aber irgendwie nicht motiviert sind. Wir könnten den Müll auf dem Bürgersteig aufheben, wenn wir daran vorbeigehen; wir könnten das Papiertaschentuch aufheben, das im Badezimmer neben dem Abfalleimer gelandet ist. Wir könnten die Kissen auf der Couch wieder glatt streichen, nachdem wir aufgestanden sind; wir könnten unsere Kaffeetasse ausspülen, statt sie einfach nur in die Spüle zu stellen. Und wir könnten unsere Werkzeuge wegräumen, auch wenn wir sie morgen wieder verwenden möchten.
Eine Übende hat beobachtet, dass sich die Achtsamkeit dann, wenn man in einem Raum keine Spuren zurücklässt, in andere Bereiche ausbreitet. Dass sie ihre schmutzigen Teller sofort nach dem Essen abwusch, führte dazu, dass sie ihr Bett gleich nach dem Aufstehen machte, und dann dazu, dass sie gleich nach dem Duschen die Haare aus dem Sieb über dem Abfluss entfernte. Anfangs müssen wir etwas Energie aufbringen, aber danach scheint diese Energie noch mehr Energie zu erzeugen.
Vertiefung
Diese Übung bringt unsere Neigung zur Faulheit ans Licht. Das Wort „Faulheit“ ist eine Beschreibung, keine Kritik. Wenn wir nicht mit vollem Engagement leben, lassen wir oft eine Unordnung zurück, die andere dann aufräumen können. Es ist so leicht, zwar das Geschirr zu spülen, es dann aber nicht in den Schrank zurückzustellen. Es ist so leicht, die Meditation ausfallen zu lassen, wenn unser Leben hektisch wird.
Diese Übung lenkt unsere Aufmerksamkeit auch wieder auf die vielen kleinen Dinge, die den ganzen Tag lang unser Leben und unsere Arbeit unterstützen – die Gabeln und die Löffel, mit denen wir essen, die Kleidung, die uns warm hält, die Zimmer, die uns Unterschlupf gewähren. Wenn wir unsere Dinge mit Achtsamkeit waschen, trocknen, ausfegen, zusammenfalten und wegräumen, dann wird das zu einem Ausdruck unserer Dankbarkeit für ihren stillen Dienst.
Der Zen-Meister Dogen schrieb spezielle Anweisungen für den Koch in seinem Kloster: „Reinige die Essstäbchen, Kellen und alle anderen Utensilien. Behandle sie alle mit gleicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit und lege alles dorthin zurück, wo es auf natürliche Weise hingehört.“ Es hat etwas sehr Befriedigendes, Dinge, die schmutzig sind, zu waschen und Dinge in Ordnung zu bringen. Es ist ebenso befriedigend, alles, was uns dient, mit Sorgfalt zu behandeln, sei es nun ein Plastikteller oder feinstes Porzellan. Unser Geist fühlt sich „sauberer“ und unser Leben fühlt sich weniger kompliziert an, wenn wir den Raum und die Dinge um uns herum aufgeräumt haben. Eine Freundin erzählte mir, wie sie kiloweise alte Kleidungsstücke, längst abgelaufene Medikamente und allen möglichen Müll aus dem Haus einer älteren Tante ausmistete. „Zuerst schien ihr das gar nicht recht zu sein, aber dann entspannte sie sich, und mit jedem Müllsack, den wir hinaustrugen, schien sie jünger zu werden.“
Dieses Gefühl der Befriedigung, das wir daraus gewinnen, keine Spuren zu hinterlassen, scheint unseren tiefen Wunsch widerzuspiegeln, die Welt zumindest nicht schlechter zurückzulassen, als wir sie vorgefunden haben – wenn irgend möglich sogar ein wenig besser. Die einzigen Spuren, die wir im Idealfall hinterlassen, verraten, wie wir andere Menschen geliebt, inspiriert, gelehrt und ihnen gedient haben. Dies wird die größte positive Wirkung auf Menschen in der Zukunft haben.
SCHLUSSWORTE: Üben Sie zuerst, keine Spuren zu hinterlassen. Üben Sie dann, die Dinge besser zurückzulassen, als Sie sie vorgefunden haben.
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Füllwörter
DIE ÜBUNG: Werden Sie sich der „Füllwörter“ und „Füllsätze“, die Sie verwenden, bewusst und versuchen Sie, diese aus Ihrer Rede zu entfernen. Füllwörter sind Wörter, die nichts Sinnvolles zu dem hinzufügen, was Sie sagen, wie etwa „ähh“, „also“, „na ja“, „irgendwie“, „gewissermaßen“ und so weiter. Von Zeit zu Zeit nehmen Sie neue Füllwörter in Ihr Vokabular auf. Zu den neuen Wörtern könnten „im Grunde“ und „jedenfalls“ gehören.
Über das Vermeiden von Füllwörtern hinaus könnten Sie darauf achten, warum Sie diese gewöhnlich verwenden – in welchen Situationen und zu welchem Zweck.
Gedächtnisstützen
Anfangs ist es unheimlich schwierig, selbst zu bemerken, wann man Füllwörter benutzt. Sie werden sehr wahrscheinlich Freunde oder Familienmitglieder um Hilfe bitten müssen. Kinder werden ihre Eltern mit Wonne beim Benutzen von Füllwörtern erwischen und sie korrigieren. Bitten Sie sie, die Hand zu heben, wenn sie hören, wie Sie ein Füllwort benutzen. Anfangs werden die Hände mit quälender Häufigkeit emporschnellen. Außerdem ist die Gewohnheit, Füllwörter zu benutzen, so unbewusst, dass Sie wahrscheinlich oft nachfragen müssen, welches Füllwort Sie gerade ausgesprochen haben.
Eine andere Methode, auf die Füllwörter, die Sie benutzen, und auf deren Häufigkeit aufmerksam zu werden, besteht darin, sich selbst beim Reden aufzunehmen. Bitten Sie einen Mitbewohner, einen Ehepartner oder eines Ihrer Kinder, Sie während einer Unterhaltung oder während eines Telefongesprächs mit dem Handy oder der Videokamera aufzunehmen. Hören Sie sich das Ergebnis anschließend an, machen Sie eine Liste der Füllwörter und zählen Sie deren Häufigkeit.
Entdeckungen
In unserem Kloster erwies sich diese Achtsamkeitsübung als eine der herausforderndsten, die wir praktizieren. Es ist frustrierend schwierig, die eigenen Füllwörter zu hören und sie einzufangen, noch bevor wir sie ausgesprochen haben – wenn man nicht gerade ein geschulter Redner ist. In den Klubs der Toastmaster [Gruppen, die das Vortragen in der Öffentlichkeit trainieren] fällt einigen Mitgliedern die Aufgabe zu, während eines Vortrags die Füllwörter zu notieren, um den anderen so zu helfen, effektivere Redner zu werden. Hat man erst einmal begonnen, auf Füllwörter zu achten, dann hört man sie überall – im Radio, im Fernsehen und bei alltäglichen Unterhaltungen. Man hat geschätzt, dass ein typischer amerikanischer Teenager das Füllwort „like“ [entspricht dem Deutschen „irgendwie“] etwa 200.000 Mal pro Jahr benutzt! Ihnen wird auch auffallen, welche Redner keine Füllwörter benutzen, und Ihnen wird bewusst werden, dass der Verzicht auf Füllwörter eine Rede effektiver und eindrücklicher macht. Hören Sie sich zum Beispiel die Reden von Martin Luther King, dem Dalai Lama oder Präsident Barack Obama an und achten Sie dabei auf Füllwörter.
Füllwörter scheinen mehrere Funktionen zu haben. Sie sind einerseits Platzhalter, die dem Zuhörer vermitteln, dass Sie anfangen werden zu reden oder dass Sie noch nicht mit dem Reden aufgehört haben. „Also … ich habe ihm gesagt, nicht wahr, was ich von seiner Idee halte, und dann, ähh, habe ich gesagt, nun ja, jedenfalls …“ Füllwörter dienen auch dazu, das, was wir sagen, abzumildern, es weniger definitiv oder selbstbewusst klingen zu lassen. „Na ja, ich denke, wir sollten im Grunde doch vielleicht mit dem Projekt loslegen.“ Befürchten wir, eine Reaktion hervorzurufen, die besagt, dass wir nicht recht haben? Wir wünschen uns sicher keinen Arzt oder kein Staatsoberhaupt, das so wischiwaschi daherredet. Füllwörter können die Zuhörer enorm irritieren, wenn sie den Sinn der Aussage dermaßen verwässern, dass sie sich lächerlich anhört. „Also Jesus, ähh, hat ja doch wohl gesagt, nicht wahr: Liebe, im Grunde, also deinen Nächsten, nun ja, sozusagen genauso wie gewissermaßen dich selbst.“
Vertiefung
Der Gebrauch von Füllwörtern ist erst während der vergangenen 50 Jahre üblich geworden. Liegt das daran, dass man in der Schule weniger Wert auf präzisen Ausdruck, Redegewandtheit und Rhetorik legt? Oder haben wir uns in der heutigen postmodernen, multikulturellen Gesellschaft, in der die Wahrheit oft als relativ gilt, bewusst angewöhnt, auf weniger eindeutige Weise zu reden? Befürchten wir, etwas zu sagen, das nicht politisch korrekt ist oder eine Reaktion unserer Zuhörerschaft auslösen könnte? Versinken wir im Sumpf des moralischen Relativismus? Wenn sich dieser Trend fortsetzt, dann werden wir eines Tages sagen: „Stehlen ist, na ja, also mehr oder weniger nicht ganz richtig.“
Wenn unser Geist klar ist, dann können wir geradeheraus reden und dabei präzise sein, ohne andere zu beleidigen.
Diese Achtsamkeitsübung zeigt, wie tief unbewusstes Verhalten in unserem Geist verwurzelt ist und wie schwierig es ist, es zu verhindern. Unbewusste Gewohnheiten, wie etwa der Gebrauch von Füllwörtern, sind genau das – unbewusst. Solange sie unbewusst bleiben, ist es unmöglich, etwas daran zu ändern. Nur wenn wir ein Verhaltensmuster ins Licht der Bewusstheit rücken, entsteht etwas Raum, um daran zu arbeiten, es zu durchbrechen. Selbst dann ist es noch schwierig genug, ein Verhalten zu ändern, das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Sobald wir aufhören, aktiv daran zu arbeiten, die unerwünschte Gewohnheit zu verhindern, kehrt sie sehr schnell wieder. Wollen wir uns selbst ändern und unser Potenzial verwirklichen, verlangt das Freundlichkeit, Entschlossenheit und ausdauernde sowie fortlaufende Praxis.
SCHLUSSWORTE: „Bis ihr den Mund aufmacht, halte ich euch alle für erleuchtet.“ – Zen-Meister Suzuki Roshi
4
Die eigenen Hände wahrnehmen
DIE ÜBUNG: Beobachten Sie mehrmals am Tag Ihre Hände, als gehörten sie einem Fremden. Betrachten Sie sie sowohl in Aktion als auch im Ruhezustand.
Gedächtnisstützen
Schreiben Sie die Wörter „Sieh her!“ auf Ihren Handrücken.
Macht Ihre Arbeit das nicht möglich, dann tragen Sie einen Ring, den Sie gewöhnlich nicht tragen. (Ist es Ihnen nicht erlaubt, Ringe zu tragen, etwa weil Sie in einem Operationssaal arbeiten, dann können Sie die Zeit des Händewaschens benutzen, um Ihre Hände anzusehen, als gehörten sie zu einem Fremden.)
Wenn Sie üblicherweise keinen Nagellack tragen, könnten Sie sich selbst daran erinnern, Ihre Hände zu betrachten, indem Sie eine Woche lang Nagellack tragen. Lackieren Sie gewöhnlich Ihre Nägel, dann könnten Sie eine ungewöhnliche Farbe wählen.
Entdeckungen
Unsere Hände sind sehr geschickt darin, alle möglichen Aufgaben zu erledigen, und viele von diesen Dingen können sie ganz allein tun, ohne von unserem Geist sonderlich gelenkt zu werden. Es macht Spaß, sie bei ihrer Arbeit zu beobachten, so als führten sie geschäftig ihr eigenes Leben. Hände sind zu erstaunlich vielen Dingen fähig! Beide Hände können zusammenarbeiten oder zur gleichen Zeit Verschiedenes tun.
Beim Praktizieren dieser Übung fällt uns auf, dass jede Person charakteristische Handgesten besitzt. Wenn wir reden, fuchteln unsere Hände fast von selbst herum. Uns fällt auf, dass unsere Hände sich mit der Zeit verändern. Betrachten Sie Ihre Hände und stellen Sie sie sich so vor, wie sie aussahen, als Sie noch ein Baby waren. Stellen Sie sich anschließend vor, sie würden langsam älter, bis sie den gegenwärtigen Zustand erreicht haben. Danach stellen Sie sich vor, wie sie altern und dann, wenn Sie sterben, leblos werden und wieder zu Staub zerfallen.
Selbst während wir schlafen, sorgen unsere Hände für uns: Sie ziehen die Bettdecke herauf, halten den Menschen fest, der neben uns liegt, oder stellen den Wecker ab.
Vertiefung
Wir werden die ganze Zeit umsorgt. Einige Zen-Lehrer sagen, die Art und Weise, wie sich unser Körper um uns kümmere, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, sei ein Beispiel für das wunderbare und durchgängige Funktionieren unseres Wahren Wesens, des uns innewohnenden Gutseins und der Weisheit unseres Daseins. Unsere Hand zieht sich vom Feuer zurück, noch ehe wir die Hitze wahrnehmen, unsere Augen blinzeln, noch bevor wir einen scharfen Knall hören, unsere Hände greifen zu und fangen etwas auf, noch bevor uns bewusst wird, dass es herunterfällt. Die rechte und die linke Hand arbeiten zusammen, wobei jede ihre Hälfte der Aufgabe erledigt. Wenn wir Geschirr abtrocknen, hält eine Hand den Teller und die andere das Handtuch. Wenn wir mit einem Messer schneiden, hält eine Hand das Gemüse, während die andere Hand schneidet. Und sie kooperieren beim Händewaschen.
Es gibt ein Koan (eine Zen-Geschichte als Herausforderung für die Meditation) über den Bodhisattva des Mitgefühls, der auf Japanisch Kanzeon und auf Chinesisch Kuanyin genannt wird. Diese in China und in Japan weibliche Figur wird oft mit tausend Augen dargestellt, die alle Menschen sehen, die der Hilfe bedürfen, sowie mit tausend Händen, die alle ein anderes Werkzeug halten, um diese Hilfe ausführen zu können. Manchmal befindet sich sogar in jeder der Handflächen noch ein Auge. Die Zen-Geschichte geht folgendermaßen:
Eines Tages fragte der Zen-Mönch Ungan den Zen-Meister Dogo: „Wie benutzt der Bodhisattva Kanzeon all die vielen Hände und Augen?“
Dogo antwortete: „Es ist wie bei einem Menschen, der mitten in der Nacht hinter seinem Kopf das Kissen greift.“
Einer meiner Schüler ist Gitarrist, und er kam mit dieser Geschichte zu einer Einsicht. Wenn seine Hände in einem Bereich der Gitarre aktiv waren, die er nicht sehen konnte, dann hatten sie, wie ihm klar wurde, „Augen“. Sie konnten die Fläche, die sie bearbeiteten, ganz genau sehen, selbst wenn es dunkel war. Sein inneres Auge und seine Hand arbeiteten wunderbar zusammen, so, wie ein Schlafender sein Kissen „sieht“ und seine Hände von selbst danach greifen, um es unter seinen Kopf zu ziehen. Im Zen sagen wir, dies zeige, auf welche Weise die uns angeborene Weisheit und das uns innewohnende Mitgefühl zusammenarbeiten, wenn unser Verstand nicht im Weg ist.
Wenn wir deutlich sehen, dass alles Existierende eins ist, dann wird uns klar, dass alle Dinge zusammenarbeiten, so wie die Hände und Augen. Und ebenso wie unsere Hände unsere Augen nicht verletzen würden, ist es ganz natürlich für unsere Natur, uns selbst oder andere Menschen nicht zu verletzen.
SCHLUSSWORTE: Zwei Hände arbeiten mühelos zusammen, um viele wundervolle Dinge zu vollbringen, und sie schaden einander niemals. Könnte dies auch für jegliches Paar von Menschenwesen wahr werden?
5
Beim Essen nur essen
DIE ÜBUNG: Tun Sie in dieser Woche während des Essens oder Trinkens nichts anderes. Setzen Sie sich hin und nehmen Sie sich die Zeit, das zu genießen, was Sie zu sich nehmen. Öffnen Sie beim Essen oder Trinken alle Sinne. Betrachten Sie die Farben, Formen und Oberflächenbeschaffenheiten. Achten Sie auf die Gerüche und auf die Geschmäcker in Ihrem Mund. Hören Sie auf das Geräusch des Essens und Trinkens.
Gedächtnisstützen
Legen Sie auf den Tisch, an dem Sie Ihre Mahlzeiten zu sich nehmen, einen Zettel mit dem Hinweis: „Nur essen!“ Hängen Sie eine solche Notiz auch überall dort auf, wo Sie zwischendurch etwas essen.
Heften Sie solche Notizen auch an Objekte, die Sie oft ablenken, während Sie essen. Kleben Sie zum Beispiel an Ihren Fernsehbildschirm oder Ihren Computer das rot durchgestrichene Wort „Essen“, um sich daran zu erinnern, nicht zu essen, während Sie diese Geräte benutzen.
Entdeckungen
Diese Aufgabe ist für viele Menschen nicht leicht. Wenn Sie gerade viel zu tun haben und unterwegs gern einen Schluck aus Ihrem Kaffeebecher nehmen würden, dann müssen Sie innehalten, sich einen Sitzplatz suchen und das Getränk genießen. Wenn Sie am Computer arbeiten, dann müssen Sie beide Hände von der Tastatur nehmen und die Augen vom Bildschirm abwenden, um Ihren Kaffee zu genießen.
Das Essen ist zu einem Bestandteil unserer heutigen Gewohnheit des ständigen Multitasking geworden. Bei dieser Übung entdecken wir erneut, wie viele andere Dinge wir tun, während wir essen. Wir essen, während wir gehen, während wir Auto fahren, im Kino oder beim Fernsehen, während wir am Computer arbeiten, Videospiele spielen oder Musik hören.
Haben wir diese offensichtlichen Aktivitäten erst einmal ausgeschaltet, dann kommen wir zu einem unterschwelligeren Aspekt der Unaufmerksamkeit – zum Reden während des Essens. Unsere Eltern haben vielleicht geschimpft, wenn wir mit vollem Mund gesprochen haben, aber wie sich zeigt, essen und reden wir immer noch gleichzeitig. Bei dieser Übung lernen wir, zwischen dem Essen und dem Reden abzuwechseln. Mit anderen Worten: Wenn Sie reden wollen, hören Sie auf zu essen. Tun Sie nicht beides gleichzeitig.
Es ist so üblich, beim Essen soziale Kontakte zu pflegen, dass Sie sich vielleicht seltsam vorkommen, wenn Sie allein in einem Restaurant essen, ohne dabei zu reden oder sich anderweitig abzulenken. Möglicherweise stellen Sie sich vor, dass die anderen Menschen denken: „Die Arme, sie hat keine Freunde.“ Sie nehmen ein Buch in die Hand oder öffnen Ihren Computer, um zu zeigen, dass Sie produktiv sind und keine Zeit „damit verschwenden“, nur zu essen. Ein Problem dieser Art des unbewussten Essens ist, dass Sie schnell mehr als genug essen, was sich dann auf Ihrer Taille niederschlägt.
In Japan und in Teilen Europas gilt es als unmanierlich, im Gehen zu essen und zu trinken. Das Einzige, was man in Japan im Stehen oder Gehen zu sich nehmen darf, ist ein Eis, weil es schmelzen könnte. Dort starren die Leute den barbarischen Ausländer an, der sich Fast Food kauft und kauend die Straße entlanggeht. Selbst Fast Food nimmt man dort mit nach Hause, richtet es appetitlich an und serviert es an einem Tisch. Bei den Mahlzeiten schaltet man einen Gang zurück und genießt wirklich das Essen, das Trinken und die Gesellschaft.
Vertiefung
Warum fühlen wir uns verpflichtet, mehrere Dinge zugleich zu tun und keine Zeit damit zu verschwenden, dass wir „nur“ essen? Es sieht so aus, als machten wir unser Selbstwertgefühl davon abhängig, wie viele Dinge wir an einem Tag produzieren und wie viele Punkte wir von unserer langen Aufgabenliste abhaken können. Essen und Trinken sind Aktivitäten, mit denen wir weder Geld noch einen Partner noch einen Nobelpreis bekommen können. Deshalb beginnen wir zu glauben, sie hätten keinen Wert. Auf Workshops zum achtsamen Essen sagen viele Menschen: „Na ja, ich bringe es einfach hinter mich, sodass ich mit meiner Arbeit weitermachen kann.“ Was wäre, wenn die wichtigste Arbeit, die wir jeden Tag erledigen können, darin bestünde, wirklich präsent zu sein – und sei es nur für 30 Minuten? Was, wenn das wichtigste Geschenk, das wir der Welt machen können, nicht aus irgendeinem Produkt oder einem Gegenwert bestünde, sondern aus unserer Gegenwart?
Wenn wir nicht aufmerksam sind, ist es, als gäbe es das Essen gar nicht. Wir können unseren Teller leeren und uns trotzdem noch unzufrieden fühlen. Dann essen wir weiter und hören erst auf, wenn wir übervoll sind und uns nicht mehr wohlfühlen. Essen wir mit achtsamer Aufmerksamkeit, dann wird sogar die Erfahrung eines einzigen Happens zu etwas sehr Befriedigendem und Reichhaltigem. Dann können wir essen, bis wir uns innerlich befriedigt fühlen, statt immer weiter zu essen, bis wir „voll“ sind.
Der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh schreibt:
Es gibt Menschen, die essen eine Orange, ohne sie wirklich zu essen. Sie essen vielmehr ihre Sorgen, ihre Ängste und ihren Zorn, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Sie sind nicht wirklich mit vereintem Körper und Geist präsent. Sie brauchen etwas Übung, sich einfach nur [an ihrem Essen] zu freuen. Es wurde vom gesamten Kosmos nur für unsere Ernährung zur Verfügung gestellt … das ist ein Wunder.
SCHLUSSWORTE: Wenn Sie essen, essen Sie einfach nur. Wenn Sie trinken, trinken Sie einfach nur. Achtsamkeit ist die beste Würze – für Ihr Essen und für Ihr gesamtes Leben. Freuen Sie sich an jedem Bissen, an jedem Augenblick!
6
Wahre Komplimente
DIE ÜBUNG: Denken Sie einmal am Tag an jemanden, der Ihnen nahesteht – ein Familienmitglied, eine Freundin, einen Kollegen –, und machen Sie ihr oder ihm ein echtes Kompliment. Je näher Ihnen diese Person steht, wie etwa ein Kind oder ein Elternteil, desto besser. (Es zählt nicht, wenn Sie einer Fremden auf dem Postamt sagen, dass Ihnen ihr Schal gefällt.) Je spezifischer das Kompliment ist, desto besser. „Es gefällt mir, wie du Anrufe mit einer solchen Fröhlichkeit entgegennimmst.“
Werden Sie sich solcher Komplimente bewusst, die andere Ihnen machen. Erkunden Sie den Zweck von Komplimenten und die Wirkung, die es auf Sie hat, wenn Sie ein Kompliment erhalten.
Gedächtnisstützen
Befestigen Sie eine Notiz mit den Worten „Lob“ oder „Kompliment“ an Stellen, an denen sie Ihnen im Laufe des Tages auffällt.
Entdeckungen
Manche Menschen haben mir berichtet, sie hätten sich zuerst gegen diese Übung gesträubt, weil sie fürchteten, ihre Komplimente wären nicht echt. Allerdings entdeckten sie bald viele Dinge, für die sie dankbar sein konnten, sodass sie die Übung doch praktizieren konnten. Als sie sich dieser Aufgabe widmeten, wurde manchen Menschen bewusst, dass sie gewohnheitsmäßig eine kritische Einstellung haben und nur auf Probleme achten und diese kommentieren. Die Übung half ihnen, diese Geisteshaltung zu erkennen und umzukehren.
Andere bemerkten, dass Personen, denen sie ein Kompliment machten, dieses oft zurückwiesen. „Ach nein, ich glaube mein Kuchen ist diesmal nicht so gut geworden.“ Ein Kompliment zu erhalten, erzeugt Verletzlichkeit. Manche Menschen sind möglicherweise in ihrer Jugend in Hinsicht auf Komplimente vorsichtig geworden, weil sie sich nicht sicher waren, ob ein Kompliment ernst gemeint war oder ob sich jemand über sie lustig machen wollte. Vielleicht haben sie dann ebenfalls angefangen, auf scherzhafte Weise Komplimente zu machen oder ein Kompliment zurückzuweisen, als sei es nur ein Scherz, um sich vor einer möglichen Beschämung zu schützen. Jemand erzählte mir, seine Eltern hätten ihm beigebracht, wie man Komplimente entgegennimmt. Sie rieten ihm: „Sag einfach Danke. Das ist alles, was der andere erwartet.“
Ein anderer Mann beschrieb, wie er die Kunst, Komplimente zu machen, ganz bewusst einstudiert hatte, weil er in einer Familie mit Alkoholproblemen aufgewachsen war, in der er immer nur ein negatives Feedback erhalten hatte. Seiner Meinung nach macht das Geben von Komplimenten „die Dinge leichter und verändert die Energie hin zum Positiven“. Er hatte auch erfahren, dass seine Kinder, seine Ehefrau und seine Angestellten aufzublühen schienen, wenn er ihnen echte Komplimente machte.
Es gibt kulturelle Unterschiede in der Art und Weise, wie Komplimente aufgenommen werden. Bei Studien in China und Japan hat sich gezeigt, dass 95 Prozent der Reaktionen auf Komplimente darin bestanden, das Lob zu leugnen oder ihm auszuweichen. In Asien ist es normal, ein Kompliment abzutun oder ihm auszuweichen, weil es so aussehen könnte, als mangele es einem an Demut, wenn man es annimmt. Ein Mann würde seiner Ehefrau niemals vor anderen Menschen ein Kompliment machen, damit es nicht so aussieht, als wolle er angeben.