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In der Tasse mit dem heißen Wasser hängt der Teebeutel, den ich jetzt herausnehme und ausdrücke. Ich esse zum Müsli einen Apfel und eine Kiwi und danach einige Brotscheiben mit Butter, Käse und Marmelade. Zu meiner Fahrradverpflegung gehören auch Espresso-Sticks und einige Portionen Kaffeesahne. Es fehlt an nichts und das macht mir schon am Morgen gute Laune. Dafür benötigt der ganze Aufbruch einschließlich Frühstück aber auch seine Zeit. Mir fehlt noch die Übung. Obwohl ich schon sechs Uhr aufgestanden bin, ist es schon Viertel nach acht, als ich den Campingplatz Richtung Würzburg verlasse.
Es fährt sich ruhig und gemütlich auf dem Main-Saale-Radweg nach Schweinfurt. Er ist gut ausgeschildert. Ich habe mir vorgenommen, auf dem äußeren Ring der Stadt zu bleiben und das Zentrum auszulassen. Für Würzburg möchte ich mir etwas mehr Zeit nehmen. Es ist unmöglich, jede interessante Stadt am Pilgerweg näher zu erforschen, das habe ich schon bei der Vorbereitung meiner Reise feststellen müssen. Deshalb begnüge ich mich jetzt mit Eindrücken von Schweinfurt, von den Menschen und dem Verkehr. Alles das macht eine Stadt lebendig, verleiht ihr Charme oder lässt sie hektisch erscheinen. Ich versuche, die Momente aufzunehmen, die mich in Schweinfurt berühren und da ist vieles: der fließende Verkehr, die rastlosen Menschen, die über die Straßen und Plätze eilen, zielgerichtet und erfolgsorientiert, nicht nach links oder rechts schauend, und da bin ich, mittendrin auf einem großen Parkplatz im Einkaufszentrum. Ringsum begrüßen mich Geschäfte und Märkte mit vertrauten Namen.
„Bist du nicht auch erfolgsorientiert? Was ist dir denn wichtiger, der Weg oder das Ziel? Nicht Rom, das liegt in weiter Ferne, nein, dein Tagesziel. Vergisst du in deiner Orientiertheit auf das Ziel nicht auch, den Weg wahrzunehmen mit seinen Besonderheiten? Achtest du auf die Stimmung des Wegs, auf seine Energie? Spürst du sie als Tourist, als Weltenbummler oder als Pilger?“
„Im Moment spüre ich da keinen Unterschied. Wenn ich akzeptiere, dass ich unterwegs bin, wird die Stimmung meines Wegs sichtbar in den Bäumen am Weg, den Wiesen und Feldern, den Häusern, dem Himmel, der alles überspannt. Ich fühle sie im Wind, der mich mal hindert und mal vorantreibt, der mir Staubkörner in die Augen weht und den schweißnassen Rücken kühlt. Ich kann die Strahlen der Sonne spüren, die meinen unterkühlten Körper wieder erwärmen, wenn ich aus dem Schatten der Bäume heraus in das helle Licht gelange.“
„Fühlst du deine Verbundenheit mit dem, was dich umgibt? Erkennst du darin auch deinen eigenen Ursprung?“
„Ich kann darauf weder mit einem ‚Ja‘ noch einem ‚Nein‘ antworten. Ich fühle noch große Anteile des Touristen in mir, der eine Leistung zu erbringen, ein Tagesziel zu erreichen hat, um am Ende stolz darauf zu sein. Dabei ist es das gerade nicht ist, was mich auf den Weg gebracht hat. Das sollte alles Nebensache sein. Zur Hauptsache bin ich noch nicht vorgedrungen. Doch danke ich dir für den Hinweis.“
„Versuche nicht, etwas zu erzwingen, was du nicht fühlen kannst. Das, was du jetzt fühlst, ist wichtig und wird dir den Weg weisen. Lass dir dafür die erforderliche Zeit. Es geht nicht darum, das alte Ziel durch ein neues, spirituelleres zu ersetzen. Ein solches Streben führt dich auf den Holzweg, in eine neue Rolle. Hol den Zettel von Moni aus der Tasche. Begreife ihren Hinweis als den Weg, der vor dir liegt. Es ist kein Zufall, dass du ihn bekommen hast. Es geht nicht um das Tun, sondern um das Lassen.“
„Als sie mir dieses Kärtchen gab, habe ich mich darüber als ein Zeichen ihrer Zuwendung gefreut: ‚… das Leben sein lassen!‘. Dass es mehr ist als das, erfahre ich jetzt. Ich ahne auch, dass du dahinter steckst, wie üblich, und glaube mir, ich bin dankbar dafür. Oft vergesse ich dich, bin von dir vollkommen abgeschnitten, doch dann merke ich irgendwie: Du bist da, du bist bei mir, meine Seele.“
„Das bin ich in der Tat und es wird der Moment für dich kommen, in dem du dich von mir nicht mehr unterscheiden musst. Im Augenblick des Eins-Seins, in dem du dich selbst als deine Seele erkennst und fühlst, weißt du, wer du wirklich bist. Unser Dialog ist ein Übergangsstadium, das durch deine Akzeptanz ermöglicht wird, eine Seele zu haben. In der vollkommenen Gewissheit deiner selbst ist dir beschieden, diese Seele zu sein. Du wirst dann in deiner Körperlichkeit, in deinem Dasein zum Ausdruck dieser Seele und bringst Liebe und Licht in die Welt, ohne etwas tun zu müssen. Dann ist die Seele, die du bist, nicht länger ‚deine‘ Seele. Du erfährst dich als untrennbarer Teil des Universums, des göttlichen Geistes hinter allen Formen.
Das ist kein Akt des Verstehens, sondern eine Erfahrung des fühlenden Erkennens jenseits des Verstands. Solange dich dein Verstand beherrscht, kann dieses Erkennen nicht stattfinden. Doch du bist auf einem guten Weg. Überlass dich ihm und sieh, was passiert.“
Ich fühle, wie sich eine dankbare Zustimmung in mir ausbreitet. Rings das lärmende Treiben und in mir der Frieden. Er vermittelt mir, dass jede Eile unnötig, jede Sorge überflüssig ist. Das Leben sein lassen, das ist die Wahrheit. Vielleicht ist es auch das Motto für meinen Weg. Langsam schiebe ich mein vollgepacktes Fahrrad über den Parkplatz. Da ist eine gute Stelle, ein Lampenmast, an dem ich das Rad mit dem Seilschloss sichern kann.
In einem Textilgeschäft kaufe ich noch einen Baumwollpulli, ein Sweatshirt, das ich beim Fahren gegen den Wind anziehen will. Mit dem kurzärmeligen T-Shirt ist es mir trotz meiner Weste zu kalt.
Ein Stück rechts von mir sehe ich eine Bäckerei und ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es bereits Mittagszeit ist. Ein Kaffee tut mir jetzt gut und die Butterbrezel dazu auch. Das heißt, ich habe nur die Brezel gekauft und eine Butterportion aus meinen Vorräten herausgefischt, die ich mit dem Klappmesser auftrage. Die Brezel schmeckt, auch wenn sie ein wenig zäh erscheint. Dass ich bei dieser Aktion mein schönes korsisches Klappmesser auf der Bank liegen lasse, fällt mir erst am Abend auf.
Was mir der Weg bedeutet
Nach Würzburg sind es noch fünfundfünfzig Kilometer laut Wegweiser des Main-Werra-Radwegs, den ich jetzt befahre.
Immerhin versuche ich, mich nicht selbst anzutreiben, sondern gelassen zu bleiben. Das bedeutet, das Fahren zu genießen, mich an meiner Kraft zu freuen, mit der ich mich vorwärts bewege und tief und bewusst zu atmen. Dabei nehme ich die wunderbare Landschaft wahr und in mich auf, durch die mich mein Weg führt.
Ich fahre nicht mehr, ich überlasse mich dem Fahren und bin deshalb frei von jedem Druck, etwas erreichen zu müssen. Das ist schon ein angenehmer Zustand, den ich aber nur eine gewisse Zeit aufrechterhalten und genießen kann. Dann kommt unweigerlich der Moment, in dem ich das Verbunden-Sein durch die Ablenkungen wieder verliere, mit denen mich mein Verstand bombardiert:
„Bist du richtig? Frag doch lieber mal nach! Schau mal in die Karte! Wie weit wird es noch sein? Bist du rechtzeitig in Würzburg?“
„Ja, selbstverständlich bin ich rechtzeitig in Würzburg.“
Ich beginne zu verstehen, dass jede Zeit die rechte Zeit ist, wenn ich sie akzeptiere. Außerdem, heute ist erst Freitag und die Supermärkte haben bis zwanzig Uhr geöffnet, sodass ich sogar noch einkaufen kann. Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Durch das Internet habe ich bereits von dem kleinen Zeltplatz des Würzburger Kanu-Klubs erfahren. Da ich keinen Stadtplan habe, versuche ich, mich an Wegweisern und Übersichtstafeln zu orientieren. Auf dem Fahrradweg werde ich von einem gut bepackten Radwanderer mit Tochter überholt. Ich frage die beiden nach dem Zeltplatz und es stellt sich heraus, dass sie auch dahin wollen. Da hänge ich mich einfach dran und mein Problem ist gelöst. So einfach ist es, mit dem Strom des Lebens zu schwimmen.
Der Zeltplatz ist ein kleiner, aber feiner Platz direkt am Main. Ein Teil des Platzes ist für Dauercamper mit Wohnwagen reserviert. Auf der großen Wiese stehen schon einige Zelte. Ich suche mir einen Platz mit Blick auf den Main. Neben mir kampiert ein Vater mit seinen Kindern, ein Junge und ein Mädchen, sechs und zehn Jahre. Er ist sehr kommunikativ und wir kommen schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es ein verlassener Vater ist, der jetzt seine Kinder für ein paar Urlaubstage von der Mutter abgeholt hat. Er vertraut mir an, dass es ihn noch immer schmerzt, von ihnen getrennt leben zu müssen und wie sehr er das Zusammensein mit ihnen während dieser kurzen Urlaubstage genießt.
Ich stelle mein Zelt auf und zahle meine Übernachtungsgebühr beim Zeltplatzwart. Bei ihm kaufe ich auch noch ein Bier. Er bietet mir eine Abendmahlzeit an, die ich jedoch dankend ablehne. Es gibt einen Supermarkt, der nicht leicht zu finden ist und zu dem ich durch die halbe Stadt fahren muss. Dort kaufe ich ein paar Lebensmittel ein. Ich nehme auch eine Kinderluftmatratze mit, die aber bereits beim Auspacken ein Loch hat. Dummerweise habe ich keinen Kassenzettel mitgenommen. So werde ich also wieder nur auf meiner Schaumgummimatte schlafen.
Als Abendessen gibt es Kartoffeln und Quark mit frischen Kräutern von der Wiese. Eine Weile sitze ich noch draußen und schaue auf den ruhig dahinfließenden Main, schwatze noch ein bisschen mit dem Nachbarn. Ich fühle Zufriedenheit in mir. Es gibt nichts, was ich mir jetzt noch gewünscht hätte. Ich lobe mich dafür, den Daunenschlafsack mitgenommen zu haben, denn ich merke schon, dass auch heute die Nacht wieder ziemlich kalt wird. Die dreiundachtzig Kilometer in den Beinen lassen mich schnell müde werden. Bald nach dem Dunkelwerden krieche ich in mein Zelt, in dem ich wunderbar einschlafe.
Die Sonne steht am nächsten Morgen an einem makellos blauen Himmel. Als erstes nehme ich mir meine Beine vor, die ich mit einem Latschenkiefern-Gel kräftig durch massiere, um die Muskelverhärtungen zu lockern, was ziemlich schmerzt. Dabei komme ich mit Muskelpartien in den Oberschenkeln und sogar im Gesäß in Berührung, die mir sonst nie aufgefallen sind. Ich knete sie weidlich durch und kann spüren, wie sich die Verhärtungen lösen. Das sollte mir helfen, auch die heutige Tagesetappe ohne Konditionsprobleme zu bewältigen.
Nun nehme ich mir die Zeit, mit dem gepäckfreien Rad über den Main zu fahren und ein wenig von der altehrwürdigen Stadt zu sehen. Ich steuere erneut den Supermarkt an mit dem festen Vorsatz, mir endlich eine vernünftige Isomatte zu kaufen, die den noch vor mir liegenden, größten Teil meiner Reise überstehen soll. Die finde ich tatsächlich nach einigem Suchen in dem schwer überschaubaren Angebot dieses Riesenmarktes. Die selbstaufblasende Matte ist in der Länge zusammenlegbar, sodass ich das handlich leichte Paket unter dem Schlafsack in der hinteren Packtasche verstauen kann. Jetzt bin ich perfekt ausgerüstet und kann ziemlich spät am Vormittag meine Weiterreise antreten.
Sie führt zunächst nach Ochsenfurth. Es gibt so viele hübsche Städte mit gut erhaltenen spätmittelalterlichen Stadtkernen, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Ochsenfurth ist so eine Stadt und ich freue mich, dass ich sie kennenlerne. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich bereits in Bayern bin, ist das jetzt unübersehbar. Die Menschen in Trachtenkleidung, das Weißbier auf den Tischen und die frischen Weißwürste im Angebot der kleinen Schänke, an der ich Halt mache, weisen mich darauf hin. Dem verlockenden Angebot kann ich nicht widerstehen und bestelle mir die Weißwürste mit einem Hefeweizen. Sie schmecken mit dem süßen Senf und der Brezel köstlich und das kalte Weißbier vollendet den Genuss. Ich blicke in fröhliche Gesichter in sonntäglicher Kleidung, freue mich über die bunten Trachten. Hier könnte ich durchaus noch eine Weile bleiben, doch ich ermahne mich zur Disziplin und radle durch den Stadtkern weiter in Richtung Aub.
Auch nach Aub führt ein Radweg, der „MTF8“. So jedenfalls steht es auf den Hinweisschildern und in meiner Karte. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das: Main-Tauber-Fränkischer Rad-Achter. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Bezeichnung fantasievoll oder sehr einfältig finden soll. Ich freue mich aber über die guten Orientierungsmöglichkeiten anhand der Beschilderung und bin alsbald in Aub, wo ich nochmal eine kleine Kaffeepause einlege. Die bietet mir die Gelegenheit, über mein heutiges Tagesziel nachzudenken.
Anhand meiner Übersichtskarte erkenne ich die Möglichkeit, bis Rothenburg ob der Tauber zu gelangen. „Ob“ bedeutet in dem Fall oberhalb, und ich muss schon von Weitem gemütlich an Rothenburg heranradeln, um diese Bezeichnung zu verstehen. Nach Creglingen gelange ich über den „ROSTR“, wieder so eine tolle Bezeichnung, diesmal für den Radweg Romantische Straße. Er führt mich durch das Tal der Tauber, von dem ich wahrhaft begeistert bin. Düfte von Gras und Flieder empfangen und begleiten mich. Ein lauer Frühlingswind bringt im Verein mit der milden Frühlingssonne mein Herz zum Singen. Der anschließende Liebliche Taubertal-Radweg, so heißt er wirklich und wird auch so beschildert, verdient seinen Namen in der Tat. Ich genieße die Fahrt durch das sich lang dahinstreckende Tal, ehe ich unversehens in Sichtweite des berühmten Ortes gelange und nun tatsächlich feststelle, dass er auf einem Felsenmassiv „ob“, also oberhalb der Tauber liegt.
Mir bietet sich ein eindrucksvoller Anblick, den zu erleben ich in tiefster DDR-Realität nicht zu hoffen gewagt hätte. Ich bin dankbar für die Wende, die mir heute, fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, dieses Erlebnis erlaubt.
Es ist kurz vor sechs Uhr, als ich mich dem Detwang-Camping nähere, das kurz vor Rothenburg liegt, um dort mein Zelt aufzustellen. Ich frage nach einem Supermarkt und erfahre, dass ein solcher in der Stadt noch bis zwanzig Uhr geöffnet hat. Dorthin fahre ich, so wenig Lust meine Beine auch darauf verspüren, aber ich muss unbedingt noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Im Abendessen sehe ich meine einzige Chance, Kalorien für den nächsten Tag in mir zu bevorraten, wobei mir bewusst wird, dass ich trotzdem von den körpereigenen Reserven zehre. Hoffentlich nehme ich nicht zu viel ab. Bei siebenundsechzig Kilogramm Ausgangsgewicht bliebe da nicht viel von mir übrig.
So besteht mein Abendmenü aus Kartoffelsalat mit Kasseler Koteletts, einem Radler und einem Viertel Riesling. Es schmeckt vorzüglich, ich bin mir schließlich selbst der beste Koch und ich werde ausreichend satt.
Mit Dunkelwerden krieche ich in meinen Schlafsack auf die neue Isomatte. Endlich habe ich gefunden, was ich wirklich brauche und bin begeistert. Von dem harten Grasboden des Platzes spüre ich nicht das Geringste. Diese Matte war ein guter Griff, sie ist handlich und im aufgeblasenen Zustand mit ihren drei Zentimetern Dicke eine geeignete Unterlage. Sie soll mich bis zum Ende meiner Pilgerreise begleiten.
Wie jeden Tag stehe ich auch heute, am Sonntag, zeitig auf, sodass ich gegen sechs Uhr schon mit meinem Frühstück in den Aufenthaltsraum des Campingplatzes gehen kann, in dem sich außer mir verständlicherweise niemand um diese Zeit aufhält. Das erlaubt mir, meinen Gaskocher in Betrieb zu nehmen, mit dem ich das Wasser für meinen Frühstücksbrei und den Tee zum Kochen bringe. Die bitteren Mandelkerne füge ich vorbeugend meinem Müsli bei, gegen ein mögliches Rezidiv meiner Prostata-Krebserkrankung.
Als weitere vorbeugende Maßnahme führe ich zehn Ampullen einer Thymuslösung mit, die ich mir intramuskulär spritze, zweimal die Woche, also über einen Zeitraum von fünf Wochen. Wenn ich wieder Zuhause sein werde, setze ich die ebenfalls vorbeugende Mistelbehandlung fort. Thymus und Mistel sind jeweils Präparate, die die natürliche Immunabwehr des Körpers gegen eine Ausbreitung der im Körper möglicherweise noch vorhandenen Krebszellen aktivieren und verstärken sollen. Ich hoffe, sie tun es.
„Diese Maßnahmen sind der weniger wichtige Teil der Veränderungen, die du als wesentlich erkannt hast, die Not deiner Krankheit zu wenden. Sie hatte für dich eine lebenswichtige Botschaft, die du nicht aus den Augen verlieren darfst.
Es ist wunderbar, all die Dinge zu erleben, die dir auf deiner Fahrradreise begegnen. Sie sollen dich aber etwas erkennen lassen, und zwar nicht nur mit den Augen und dem Verstand, sondern vor allem mit dem Herzen.
Dazu musst du in dir die Stille finden, aus der all das hervorgegangen ist, was du so wunderschön findest. Du musst selber diese Stille sein, um diese tiefere Begegnung zu ermöglichen, die nur auf der Ebene deines Herzens stattfinden kann. Für diese Augenblicke ist es wichtig, dein Tun und Wollen loszulassen, das Leben einfach sein lassen. Das ist dein Auftrag, du hast ihn schriftlich erhalten.“
„Danke für die Erinnerung. Ich versichere dir, ich bin bemüht, ihn umzusetzen. Die Botschaft hat eine große Bedeutung für mich. Aber jetzt ist die Absicherung der äußeren Aspekte meiner Reise wichtig, Essen, Trinken, die geeignete Übernachtung, das touristische Spektakel. Das hat auch seine Berechtigung. Doch ich stimme dir zu, dass sich meine Reise nicht darauf beschränken sollte und gebe dir recht, dass die inneren Aspekte meines Weges, meine Gegenwärtigkeit und das Fühlen meiner Verbundenheit auf diesem Pilgerweg eine Priorität besitzen.“
„Es ist hoffnungsvoll, dass du sehr sensibel und offen auf meine Impulse und Hinweise eingehst, wenn du sie denn erkennst und zulässt. Du weißt tief in dir, dass du mehr bist als dein Körper, mehr als deine Leidenschaften und mehr als deine Ängste. Aber dieses Wissen allein reicht nicht aus. Dein Wille ist erforderlich, diese Einsicht umzusetzen, um sie in dir zu erfahren. Erst deine tiefe Erfahrung wird dich zu dem verändern, der du wirklich bist, und dein Bemühen darum wird vom Universum, vom Heiligen Elterlichen Geist unterstützt. Dessen sei dir gewiss.“
Ich freue mich über den kurzen Dialog. Er erinnert mich an das tiefere Anliegen, das ich mit meiner Pilgerreise verbinde. Dankbarkeit durchströmt mich jetzt, das Gefühl von Geborgenheit und Gewissheit in dem Frieden, jetzt hier zu sein. Ich darf der sein, der ich bin, und es ist nicht erforderlich, dafür etwas zu tun.
Dieser wunderbaren Freiheit bin ich mir jetzt bewusst, fühle mich beschenkt und freue mich darüber. Das taunasse Zelt lasse ich erst mal stehen. Mit dem Rad ohne Gepäck kann ich leicht in die Stadt fahren, um mir wenigstens einen Eindruck von ihr zu verschaffen, schließlich ist sie eine der schönsten Städte in Deutschland und ich darf sie leibhaftig sehen.
Ich fahre langsam und ruhig den Berg hoch, der in Serpentinen bis an die äußere Stadtmauer führt. Durch das Würzburger Tor betrete ich die Stadt und sehe nach wenigen Schritten das innere Stadttor vor mir. Ich erkenne es wieder. Ein Bild davon, das jetzt sehr lebendig in mir aufsteigt, hing in der Wohnstube meiner Großeltern. Ich erinnere mich, meine Großmutter gefragt zu haben, was dieses Bild zeigt, und seit ihrer Antwort hat sich der Name Rothenburg ob der Tauber tief in meinem Gedächtnis eingegraben, als exotische Stadt, in weiter Ferne im Westen liegend, für mich unerreichbar weit.
Als kleiner Junge glaubte ich damals, der Zusatz „ob der Tauber“ müsse so etwas sein wie ein Adelstitel, der diese Stadt nach meinem kindlichen Empfinden vor allen anderen heraushob.
Jetzt ist alles ganz normal. Das Stadttor liegt in seiner einfachen Schönheit vor mir und ich kann es wahrhaftig durchschreiten. Ich dringe tiefer ein in die fast menschleere Stadt, jetzt, am frühen Morgen. Die Zeiger der Kirchturmuhr zeigen auf ein paar Minuten nach sieben Uhr. Die Jakobskirche, die mich als Pilger anzieht und von der ich mir einen Stempel in meinen Pilgerpass erhoffe, ist noch geschlossen. Es ist die einzige Kirche auf meiner Reise, die zwei Euro fünfzig Eintritt verlangt, wie ich aus dem Anschlag im Schaukasten neben der Pforte ersehen kann. Ich fahre langsam kreuz und quer durch Straßen und Gassen, bewundere die alten Fachwerkhäuser und den Fleiß und die Liebe, der diese Stadt ihr Bild verdankt. Durch das Klingentor fahre ich aus Rothenburg heraus und zum Zeltplatz zurück. Ich habe noch eine Stunde damit zu tun, das Zelt und die Taschen einzupacken und verlasse erst gegen halb zehn den Platz.
Nun quäle ich mich auf dem Fahrrad mit vollem Gepäck noch einmal hoch zur Stadt, fahre entlang der Außenmauer eine halbe Runde und entscheide mich, die Reise in Richtung Feuchtwangen fortzusetzen, über Diebach und Schillingsfürst. Weiter geht es über Wörnitz, kleine Landsträßchen über Zumhaus, Ungetsheim und Mosbach in direkter Richtung auf Dinkelsbühl zu.
Auf Höhe Mosbach erinnert mich ein aufsteigendes Hungergefühl daran, dass es schön und sinnvoll wäre, jetzt etwas zu essen. Ich frage im Ort einen Mann mit grünem Trachtenhut nach einem Gasthof und er verweist mich lachend auf den Gebäudekomplex, der etwas abgerückt an der linken Straßenseite steht und den ich glatt übersehen habe.
Mir drängt sich die Erinnerung auf, dass ich als kleiner Junge auch so einen Hut hatte, mit dem mich meine Mutter schmückte und den sie ganz toll fand. Es war der „Seppelhut“ und ich habe ihn noch lange als Erinnerungsstück aufbewahrt. Der Seppelhutmann versichert mir jetzt, dass ich ordentlich was auf die Rippen bräuchte. Dafür wäre dieser Gasthof genau richtig.
„Sehe ich wirklich so hungerleidend aus?“
Egal, ohne mir diese Frage zu beantworten, schwenke ich von der Straße ab und stelle mein Fahrrad an der Seite des Gasthofs an den Zaun. Danach erwartet mich wirklich eine Überraschung. Ich betrete einen großen Speisesaal, in dem an vielen Tischen wenigstens hundert Menschen zu Mittag essen. Ich werde an einen Zweiertisch eingewiesen, der mit einem halben Meter Abstand die Fortsetzung der Stirnseite eines Achtertischs bildet. Für die Größe des Saales ist es erstaunlich ruhig. Ich werde sogleich von einer hübschen jungen Maid im Dirndl nach meinen Wünschen gefragt und bestelle ein Wasser und ein Viertel Weißwein. Mein Instinkt signalisiert mir, dass es hier Spargel geben müsste, was sich als zutreffend erweist. Da ich die Weste ausgezogen und hinter mir auf den trachtenmäßig designten Stuhl gehangen habe, bin ich als Rom-Pilger erkennbar. Von meinem Nachbarn zur Rechten werde ich auch gleich darauf angesprochen, woraus sich ein intensiver Austausch über das Pilgern ergibt. Auf Grund meines unverkennbar sächsischen Dialekts wird auch die West-Ost-Frage erörtert. Ich freue mich, dass die Wartezeit bei diesem anregenden Gespräch so kurzweilig vergeht.
Unsere Unterhaltung wird unterbrochen durch den Riesenteller mit dampfenden Klößen und Sauerbraten, der meinem Gesprächspartner jetzt vorgesetzt wird. Das nötigt ihn, sich seinem Essen zuzuwenden. Lange muss ich auch nicht mehr auf meinen Spargel warten, der wunderbar frisch und zart zu mir kommt. Ich genieße ihn ausgiebig mit den neuen Kartoffeln, der Soße und dem Wein.
Ein Espresso sollte das Ganze abrunden. Er findet aber seinen Weg nicht mehr bis zu mir, sodass ich zahle und gut abgefüllt das Wirtshaus verlasse. Mir wird beim Anblick des vollen Parkplatzes klar, dass die Leute aus einem ziemlichen Umkreis hierher zum Mittagessen fahren und jetzt verstehe ich auch das Lachen und die Bemerkungen des Hutmannes.
Es geht weiter nach Larrieden, wo ich auf einen Radweg treffe, der geradewegs nach Dinkelsbühl führt. Mit einundfünfzig Kilometern habe ich heute nicht gerade eine Rekordstrecke zurückgelegt. Doch denke ich an die Hinweise meines „Höheren Selbst“ und begnüge mich mit der Feststellung, ohne sie weiter zu bewerten. Es gibt einen Zeltplatz „CCH“ am Rand der Stadt. Den suche ich auf und bekomme eine große Wiese oberhalb der wohlgeordneten Reihen von Wohnwagen und Wohnmobilen gezeigt, auf der ich mein Zelt als erstes und bisher einziges aufstelle.
Es ist Nachmittag und ich fahre noch einmal in die Stadt, besuche im Rathaus ein Museum und informiere mich dort über die Vergangenheit der Freien Reichsstadt Dinkelsbühl. Die Freisitzfläche eines kleinen Hotels am Marktplatz nimmt mich gegen Abend auf. Ich koche heut nicht selbst, sondern bestelle mir den angebotenen Obatzter und ein Weißbier. So lasse ich den Sonntag ruhig ausklingen. Zum Zeltplatz zurückgekehrt, treffe ich auf ein zweites kleines Bergzelt mit einem Fahrrad daneben. Es ist ein Holländer, der von Kroatien aus zurück in die Heimat fährt und sich über die Kälte beschwert, die ihn hier nach den warmen Tagen im Süden empfängt. Nach einem kurzen Schwatz mit ihm krieche ich in mein Zelt zur Nachtruhe.
Die Frühstückszeremonie beginnt heute, am achtzehnten Mai, etwas früher als gewöhnlich und nach dem Zusammenpacken kann ich bereits um viertel vor acht vom Zeltplatz starten. Mein Weg führt über Nördlingen. Dort nütze ich die am Weg liegende Poststelle, um überflüssige Gewichte wie Sandalen, Jeans, Campingtisch und den defekten Fahrradcomputer zurück in die Heimat zu schicken. Ich beschränke mich auf eine Hose und meine neuen Schuhe. Wie ich auf die Idee kommen konnte, einen Tisch mitzunehmen, ist mir schleierhaft.