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Frau Zimken legte den Stock auf den Schrank an der Tür. Dann ging sie zum Kirchner und sagte: „So, und nun leg dein Brot weg oder willst noch mal welche haben?“
Kirchner konnte nicht sprechen, aber er schüttelte heftig seinen Kopf.
Hans sah ihn noch in der Pause ganz hinten alleine am Rand des Schulhofes von ein paar Tannen versteckt am Zaun stehen, wo er heftig weinte. Aber Hans hatte nicht den Mut, den Jungen anzusprechen. Alle ließen ihn allein, nicht nur mit der brennenden Haut, sondern auch mit der ihm von der Pädagogin eingebläuten Überzeugung, ein Übeltäter zu sein.
Abends, als sie im Phönixsaal waren, der gleich gegenüber dem Bahnhof Hamburg-Harburg lag, mochte Hans nicht gerne neben Frau Zimken sitzen, sich auch nicht mit ihr unterhalten. Auf ihre Fragen antwortete er nur kurz und knapp. Die Angst vor der Frau saß ihm im Hals, machte ihn einsilbig. Schon vor der Pause stand er auf und ging nach Hause.
Ich weiß, dass sie ihn am nächsten Tag in der Schule fragte, warum er gegangen sei. Ihm sei übel geworden, hat er gesagt, und so ganz verkehrt war das auch nicht. Dieses Erlebnis ist ihm fest im Gedächtnis verankert, es macht ihm überhaupt keine Mühe, sich zu erinnern. Es genügt schon, sich die Backsteinfront eines Schulgebäudes vorzustellen.
Es blieb auch nicht das einzige Mal dort in der Schule Benningsenstraße, dass der Rohrstock geholt wurde. Bei einer anderen Bestrafung verzichtete Frau Zimken auf die Bank. Eigentlich hatte sie verlangt, dass der Delinquent die Hose runterlasse. Seine war aus so etwas wie Sackleinen genäht, also einem sehr derben, dicken Stoff. Es war Nachkriegszeit. Als der sagte, er möge das nicht, überprüfte sie mit einem festen, entschlossenen Griff in den Bund der Hose und einem Blick in sie hinein, was unter dem Kleidungsstück verborgen war, und stellte fest, dass er keine Unterhose trug. Er durfte die Hose anbehalten. Das war dann wie auf dem Dom, erinnere ich mich. Das Karussell hatte auch eine Kutscherfigur, die die Peitsche schwingend ein Pferd antrieb, das Hans bei jeder Karusselldrehung bedauerte. Der Junge, der sich zu bücken hatte, schrie laut und wollte vor den Schlägen immer weglaufen, konnte aber nicht, weil die Lehrerin ihn im Nacken gepackt hatte und nach unten drückte. Und so fuhren er und Frau Zimken vor der Klasse Karussell. Hans hat das noch gut vor Augen. Aber das sind die einzigen Erinnerungen an seine Zeit in der Schule Benningsenstraße, die sich ihm dauerhaft eingeprägt haben.
Außer – war da nicht die Sache mit der Vertretung? Ja, einmal fehlte eine Lehrerin, vielleicht erkrankt oder so. Deshalb stand der Biologielehrer vor der Klasse, als Vertreter. Herr Meiners war ein magerer, kleiner Mann, nicht sehr eindrucksvoll. Seine strähnigen Haare hatte er durch einen Mittelscheitel geordnet und straff nach hinten gekämmt. Und seine Stimme war so dünn wie er selbst. Die Klasse war unruhig. Es wurde geschwatzt. Herrn Meiners gefiel das wohl nicht.
„Hört bitte mal zu. Ich mag es nicht so gerne, wenn ihr schwatzt, während ich euch was erzähle. Ruhe jetzt! Der Nächste, den ich beim Schwatzen erwische, kommt mit mir nach nebenan in den Biologieraum.“
In das Gesicht von Herrn Meiners schlich sich ein Lächeln, so als würde ihm gerade eine süße Nachspeise serviert. Die Jungs sahen ihn interessiert an.
„Da steht ein kleiner, schmaler Tisch in der Mitte. Vielleicht erinnert ihr euch. Und einen kleinen, dünnen Stock habe ich auch, mit dem ich immer auf etwas hinweise.“
Jetzt wurde seine Stimme etwas lauter, wohl weil einige wieder zu tuscheln anfingen: „Dann wird sich auf den Tisch gelegt! Aber nicht einfach so. Vorher werden die Hosen runtergezogen.“
Jetzt tuschelte keiner mehr. Herr Meiners grinste wieder.
„Ganz! Alle Hosen! Und dann zeigt der Stock, wie gut er es meint.“
Herr Meiners machte eine Pause und lächelte. Die Jungen sahen ihn mit großen Augen an. Es war mucksmäuschenstill.
„Während der Stock spricht, schreien die meisten nach ihrer Mutter. Selbst die Stärksten.“
Er machte wieder eine Pause, so lange, als müsste er sich erst noch einmal einer Vision hingeben. Dann fragte er leise, fast vorsichtig in die Klasse hinein: „Möchte das vielleicht einmal jemand probieren?“
Ein eisiges Schweigen begegnete seinem Angebot und das Lächeln auf dem Gesicht von Herrn Meiners gefror. Danach hatte er keine Schwierigkeiten mehr mit Schwätzern während der Vertretungsstunde in der Benningsenstraße.
Und in den anderen Schulen? Ja, ich weiß, auch in der Schule, in der er vorher gewesen ist, in Neugraben, gab es den Rohrstock. Aber Hans erinnerte sich später nur noch an einen einzigen Fall. Eigentlich hat er seine Zeit dort in guter Erinnerung behalten. Besonders die mit Monika.
Das war in der dritten oder vierten Klasse und rückblickend bin ich mir gar nicht ganz sicher, in welchem Jahr Herr Ebeling damals nach der Pause mit dem Stock in die Klasse kam. Herrn Ebeling mochten sie eigentlich alle. Er war ernst, aber freundlich, schrie nie rum und alle hatten Respekt vor ihm.
Es war direkt nach Kriegsende. Die Tommys, die englischen Besatzer, hatten in der Nähe der Schule die Fischbeker Kaserne besetzt. Die Militärlaster fuhren immer die Buxtehuder Straße rauf und runter und der Schulhof lag direkt zwischen dem Schulgebäude und der Straße. Laut waren sie, die Laster. Und der Schulweg war lang, gute zwei Kilometer immer an der Straße entlang von Fischbek nach Neugraben.
Gut zu erkennen sind die Baracken, in denen Hans damals wohnte, direkt am Bahnhof, vier Stück, außen grün angestrichen, in zwei Reihen hintereinander an der Bahnhofstraße. Eigenartig, jetzt, da man sie sieht, kommt es mir so vor, als wenn genau dort, an der Straße zum Bahnhof, das Mädchen mit den Schwefelhölzern kauert und friert und versucht diese zu verkaufen. Gefroren haben alle damals, auch dort in der Baracke, in der sein Vater sie einquartiert hatte, weil es nichts anderes an Wohnungen gab, und er als Bankbeamter zwei Haltestellen davor, nahe der Station Unterelbe, in der Landeszentralbank seinen Arbeitsplatz hatte. Zum Heizen gab es wenig und noch weniger zu essen. Dem Mädchen mit den Schwefelhölzern ist Hans dort, glaube ich, nie begegnet. Aber ich weiß, dass seine Mutter häufig mit dem Zug in das Alte Land fahren musste, zum Hamstern, und er dann an der Bahnstation stand und wartete, dass sie wiederkam. Manchmal fuhren dort dann auch die Waggons mit der Kohle für die Kaserne durch. Die verloren bei dem Wechseln der Gleise immer mal ein paar Stücke. Manchmal mussten sie auch halten und warten. Dann kletterten die größeren Jungen rauf und warfen schnell welche runter. Wenn Hans dann ein Stück ergriff, musste er die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Vielleicht hatte er da das Laufen gelernt. Wenn die Größeren ihn zu fassen gekriegt hätten, hätten sie ihn verdroschen.
Warum drängelt sich denn nun wieder das Bild mit dem Polizisten dazwischen? Eben war ich noch bei Herrn Ebeling und dem Rohrstock. Jetzt sehe ich den eklig dicken Dorfgendarm mit den ausgestellten Hosenbeinen, den hochschäftigen Stiefeln und der Revolvertasche am Koppel den Bahnhof entlanggehen. Aber das ist nicht in Neugraben! Hier sind nur Wiesen ringsherum zu sehen. Die Männer und Frauen, die auf dem Land das Glück hatten, etwas Gehamstertes in der Tasche zu haben, etwas, das eine Bauersfrau ihnen auf ihr Bitten hin gegeben hatte, oder etwas, das sie gegen einen Wertgegenstand, den sie notgedrungen opfern mussten, eingetauscht hatten, stehen noch auf dem offenen Bahnsteig. Der Zug ist noch nicht eingefahren, mit dem sie ihre Ration gegen den Hunger ihrer Familie nach Hause bringen wollen.
Aber der Zug steht schon vor dem Bahnhof vor einem Haltesignal. Alle hoffen, dass er gleich einlaufen wird. Und dann kommt der dicke Polizist. Er geht von oben her den Bahnsteig entlang und lässt die Leute das bisschen Essen, die Kartoffeln, die Äpfel oder was sie sonst ergattert haben, auf einen Haufen auf den Bahnsteig kippen. Wenn etwas Gutes dabei ist, tut er es in seinen Rucksack, den er lässig mit einem Riemen über der Schulter trägt. Alle hoffen, dass der Zug kommt, bevor sie an der Reihe sind. Aber der läuft immer noch nicht ein. So geht der vollgefressene Kerl von einem zum anderen. Einige nehmen ihre Taschen und rennen über die Gleise davon, ohne Rücksicht darauf, dass nun der Zug einläuft. Die Letzte, die der Dicke zu fassen bekommt, ist Hans’ Mutter, gerade noch bevor der Zug hält. Auch sie muss ihre Kartoffeln auf den Haufen kippen.
„So, das reicht heute für die Schweine“, sagt der Polizist.
Ich erinnere mich, Hans hatte später oft eine Abneigung gegen dicke Menschen. Aber das kann kaum von diesem einzelnen Erlebnis kommen.
Einmal ging er mit seiner Schwester und seinem kleineren Bruder alleine auf Hamstertour. Nicht weil sie es sollten. Sie fanden es spannend. Da erfuhren sie, wie schwer es war, von den Bauern ein paar Kartoffeln zu bekommen. Als sie dann vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof waren, setzten sie sich an die Böschung des Bahndammes, um lieber dort auf die Zugeinfahrt zu warten. Wegen des Polizisten, denke ich. Ein gewichtiger Bauer kam mit seinem Pferdefuhrwerk, einem Einspänner, vorbei, neben ihm auf der Sitzbank sein pausbäckiger Sohn, der die Pferdepeitsche in der Hand hatte. Als sie auf gleicher Höhe waren, schlug der vom Kutschbock aus auf Hans’ nackten Oberschenkel. Ohne ein Wort. Nur so. Er drehte sich nicht einmal mehr um, während er lachte. Und dann kam der Zug.
Wie hieß nur noch der Schulkamerad, der damals den Stock von Herrn Ebeling zu spüren bekam? Die Klassenfenster gingen nach hinten raus, nicht zur Straße. Stimmt, es war gleich nach der Pause. Hans hatte von dem Vorfall gar nichts mitbekommen.
Ebeling kam rein, mit dem Rohrstock in der Hand, und legte ihn auf seinen Tisch, der auf der Fensterseite stand. Es war damals eine Selbstverständlichkeit, dass sie aufstanden, wenn der Lehrer hereinkam.
Als sie sich wieder gesetzt hatten, sagte Ebeling: „Ewald“, ja, ich glaube, er hieß Ewald, „Ewald, komm her.“
Ewald ging nach vorn zum Ebeling.
„Was hast du gemacht?“, fragte der.
„Der Gernot hat gesagt, dass Meier da in dem Klo war. Deshalb hab ich es zugeschlossen. Aber da war Frau Bellrau drin.“ Ewald redete also gar nicht lange an seiner Sünde vorbei. Das war auch sicherlich gut so. Ebeling war ein großer, kräftiger Mann, der Typ eines an harte Arbeit gewohnten Bauern.
„Bück dich!“
Hans hat das Bild noch genau vor sich. Ewald hat wohl Erfahrung, bückt sich zunächst nur vorsichtig, seine rechte Seite zur Klasse gewandt, den Kopf zur Tür.
Ebeling nimmt den Rohrstock vom Tisch und hebt die Hand weit nach hinten. „Richtig bücken!“, herrscht er den Jungen an. „Hände an die Fußspitzen!“
Und dann, als die Hose richtig gespannt ist, saust der Stock los. Hans kann es ganz deutlich hören, wie er vibriert, durch die Luft pfeift. Ein gellender Aufschrei des Jungen folgt. Wie ein Flitzbogen schnellt er hoch, biegt den Körper weit nach hinten durch. Fast auf den Zehenspitzen steht er da und krallte die Fingerspitzen in sein Sitzfleisch.
Schon will er jammernd wieder zu seinem Platz gehen. Aber da kommt die Stimme von Herrn Ebeling dazwischen: „Nein, nein, einen gibt’s noch.“
Er lässt dem Jungen noch einen Augenblick Zeit. Ewald wimmert. Dann wieder: „Bück dich!“
Ewald mag sich nicht bücken. Es ist kein Ungehorsam. Seine Erfahrung hindert ihn. Er schafft es einfach nicht, sich nach vorne zu beugen, auch wenn er es will, die Notwendigkeit einsieht. Seine Willenskraft reicht nicht gegen das Widerstreben, gegen die Angst vor dem Stock.
„Bück dich!“
Ewald wimmert.
„Bück dich! Oder willst du dich lieber über die Bank legen?“
Ewald schüttelt den Kopf und jammert.
„Willst du dich lieber über die Bank legen?“ Ebelings Stimme wird lauter.
Ewald schüttelt wieder den Kopf. Ganz langsam und vorsichtig beugt er den Rücken.
„Tiefer!“
Ein kleines Stück schafft Ewald. Die Hose spannt sich schon etwas.
„Tiefer!“ Mit dem Stock schlägt Ebeling leicht in Ewalds Nacken. „Tiefer! Hände an die Fußspitzen!“
Ebeling hat schon weit ausgeholt. Genau in dem Augenblick, als die Fingerspitzen die Stiefelspitzen berühren, hörte man wieder das Pfeifen. Noch bevor Ewald darauf mit einer Ausgleichbewegung reagieren kann, prallt der Rohrstock erneut auf sein Gesäß. Ewald schreit auf, so laut er kann. Aber das ändert nichts an dem widerlichen, beißenden Schmerz, der sich hineinbohrt und seine Bewegungen bestimmt, das unbestimmte, ungewollte Hin und Her, von einem Bein auf das andere. Aber nun darf er an seinen Platz gehen.
Am Tag darauf gingen Ewald und Hans gemeinsam den Weg von der Schule zurück. Hans fragte ihn, wie es denn sei.
„Schlimm“, sagte der, „ganz schlimm, auch noch zu Hause.“
„Wieso? Hast du es erzählt?“
„Natürlich nicht. Aber meine Mutter hat es gesehen, beim Baden. Da hat sie mich meinem Vater gezeigt. Und dann hab ich noch mal was gekriegt.“
Ich weiß, Hans hat das damals ganz schön gemein gefunden.
Viel deutlicher aber bleibt ihm das Bild von Monika im Gedächtnis, seiner ersten Erfahrung mit dem anderen Geschlecht und dem tragischen Ende dieser Freundschaft.
Monika war etwa gleichaltrig, neun Jahre. Sie lebte als einziges Kind mit ihren Eltern in einer der anderen Baracken und besuchte auch die Schule in Fischbek. Mädchenklasse natürlich. Und nach der Schule spielte sie mit Hans und den anderen Kindern dort. Zur direkten Umgebung gehörte ein ehemaliger Luftschutzbunker, den man gesprengt hatte, aber nicht kleinteilig. Er war so stabil, dass er als schiefwinkliger Klumpen liegen gelassen worden war. Hans hat das Bild noch vor sich, von dem grauschwarzen Ungetüm, das zusammengebrochen in großen Platten dalag. Zu nichts mehr zu gebrauchen als für die Kinder, zum Spielen und zum Klettern. Besonders die Jungen turnten darauf herum, sprangen von Platte zu Platte, bis sie ganz oben waren. Es war ihr Berg, den zu bezwingen sie sich auf immer wieder anderem Weg vornahmen, an dem sie ihre Kraft auslassen und den sie besiegen konnten.
Wie war es aber zu der entscheidenden Szene gekommen? Das Bild, das ich jetzt wieder vor Augen habe, der Anblick, den zu erleben in mir jetzt, kaum möglich, aber es ist so, ein Gefühl wie Freude auslöst. Ich sehe den Jungen, wie er flink immer höher klettert, und Monika, die es nachzumachen versucht. Als sie es geschafft hat, auch da oben ankommt, muss er sie natürlich besiegen. Er mag das niedliche Mädchen mit den langen braunen Haaren und rangelt oben auf der Dachplatte mit ihr. Schließlich bringt er sie in seine Gewalt. Sie liegt auf dem Rücken, die Arme angewinkelt, die Hände nach oben, und er kniet über ihr. Mit seinen Händen hält er ihre gefangen. Sie kann sich nicht mehr wehren, vielleicht will sie es auch gar nicht. Es ist nicht seine Absicht, aber sein Siegergefühl zwingt ihn dazu. Spontan gibt er ihr einen Kuss auf den Mund. Und weil er das lustig findet, oder weil es die richtige Strafe der Unterwerfung ist, wer weiß das schon so genau, kriegt sie noch einen und noch einen und noch einen und so weiter.
Seitdem waren sie dicke Freunde. So lange, bis der Tommy-Laster sie überfahren hat, auf der Straße vor der Schule. Nein, eigentlich noch länger. Auch bei der Beerdigung auf dem kleinen Friedhof in Fischbek war sie für ihn noch seine Freundin. Noch viele Monate. Er hat sie noch an ihrem Grab besucht, als er schon in Harburg und nicht mehr in Neugraben wohnte. Und ein Stück seines Brotes hat er dann stets aufbewahrt und in ihr Grab gebuddelt.
„Da siehst du es. Der Hans hat sich schon im zarten Alter eines Viertklässlers nicht im Griff. Ein Träumer, dessen Dominanz bereits jetzt nicht zu übersehen ist.“
Wieso redet hier jemand dazwischen? Wer sind Sie denn überhaupt? Und wo sind Sie? Und von wegen dominant! Das sind Übertreibungen. Das sind Kinderspiele. Welches Kind will schon gern besiegt werden? Der ist vielleicht frühreif!
„Kein bisschen. Im Gegenteil. Das wird man noch sehen. Der ist neugierig. Und vor allem ist er zu spontan. Der überlegt nicht lange genug.“
Noch! Das ändert sich. Ich weiß, wie sorgfältig, ja geradezu pingelig er später ist.
„Im Alter vielleicht.“
Und woher wollen Sie das wissen? Vor allem ist er verantwortungsvoll.
„Woran siehst du das denn nun? Jetzt jedenfalls noch nicht, im Alter wird er das vielleicht.“
Na, pass mal auf, gleich kommt die Szene. Sagen Sie, eh, seit wann duzen wir uns eigentlich? Und wo sind Sie denn? Ich sehe Sie nicht.
„Da siehst du es mal wieder. Auf deine Imagination ist kein Verlass. Ich bin da, ohne dass du mich siehst. Deine Bilder täuschen. Du siehst, was du sehen willst. Ich bin der Geist, der stets …“
Hör auf, das ist nicht von dir! Du plagiierst! Außerdem störst du mich beim Nachdenken. Gerade suchte ich den Anfang. Ich klick mal das erste Fenster an. Ja, das kenne ich, das war gleich nach der Einlieferung hier. Aber was war davor? Zurück! Geht nicht. Warum gibt es keinen Zurückbutton? Was war davor? Das habe ich vergessen. Na ja, passiert mir in letzter Zeit ja oft. Aber meistens fällt es mir dann später doch wieder ein. Ich mach erst einmal weiter. Der kommt dann später wieder hoch, der Anfang, wird mir schon noch wieder einfallen.
3. In der Heide
Zugegeben, die Begrüßung in diesem sorgfältigen Haus ist professionell gewesen, da konnte man nicht meckern. Man hatte mich auf der Trage in die Notaufnahme geschoben und zunächst auf dem Flur abgestellt. Die Mitarbeiter dort hatten viel zu tun, wie immer am Samstag, nachts, wenn die Penner kommen. Aber schon bald kam eine Pflegerin zu mir, um die Ersteinschätzung vorzunehmen. Schließlich musste man zunächst feststellen, ob ich ein dringender oder ein unwichtiger Fall war. Und das war schwierig. Ich war ein Problemfall, da man nicht mit mir reden konnte. Ich hörte zwar die mehrfach wiederholten Fragen, aber leider war ich nicht in der Verfassung, sie zu beantworten. Der junge Mann von der Administration, der normalerweise den Empfang tätigt, fand das auch problematisch. Wichtige Fragen zur Person, wie etwa die nach dem Kostenträger oder Adressen von Kontaktpersonen, blieben unbeantwortet. Aber immerhin konnten die Rettungsassistenten ihm meinen Namen und meine Anschrift mitteilen. Damit musste er nun weitersuchen. Der Pflegerin hatten sie auch keine Hilfestellung geben können. Nur, dass ich nicht mehr ansprechbar gewesen sei, hatten sie ihr gesagt. Als sie der Rettungsleitstelle mein baldiges Eintreffen in der Notaufnahme anmeldeten, konnten sie nur „unklare Bewusstseinslage“ angeben. Dabei hatte ich für solchen Fall doch vorher schriftlich das Wichtigste festgehalten. Dass man im Ernstfall die Mappe vom Nachttisch mitnehmen soll zum Beispiel. Und meinen Haustürschlüssel? Den hatten sie wohl vom Pflegedienst, denke ich.
Wie schon gesagt, in dem Krankenhaus gingen sie professionell vor. Die Pflegerin maß Blutdruck, Temperatur und Puls, Sauerstoffsättigung auch, obwohl ich ruhig atmete. Auch den Blutzuckerspiegel wollte sie wissen. Von daher hätte meine Ohnmacht rühren können, meinte sie. Und einen Port oder eine Braunüle legten sie an, aus der auch gleich Blut für Untersuchungen im Labor abgezapft wurde. Wenn sie mir da wenigstens ein Schmerzmittel reingetropft hätten.
Da keine auffälligen äußeren Verletzungen erkennbar waren, entschieden sie sich für den internistischen Bereich. Ich wurde in ein Behandlungszimmer geschoben und durfte warten. Ihre Messungen hatten keinen Anlass für eine akute Lebensgefahr ergeben. Die kleine Beule an meinem Hinterkopf wurde verständlicherweise übersehen. Meine füllige Künstlerfrisur verdeckt eben nicht nur innere, sondern auch äußere Unebenheiten. Die Behandlungspause tat gut. Die Bilder und Geräusche in meiner Umgebung hatten mich in der letzten Stunde geängstigt, die drängenden Fragen waren mir unangenehm gewesen. Mit aller Kraft wollte ich sie beantworten, aber es kam kein Ton heraus. Immer wieder fragten sie. Immer wieder sollte ich mich anstrengen. Umsonst. Nun war endlich Ruhe, da hätte ich abschalten können, wenn die Schmerzen im Kopf nicht gewesen wären.
Die sehr tüchtigen Angestellten in der Notaufnahme vermuteten schon bald, dass mir ein Gehirnschlag zu schaffen machen könnte, die Folge eines Schlaganfalles oder so. Obwohl sie gar nicht dabei gewesen waren, erkannten sie es an meinem ungewollten Schweigen. Und daran, dass ich ihre Anweisungen nicht befolgte, ihnen nicht behilflich war bei meiner Rettung. Natürlich hätte ich die Wünsche des Arztes gern erfüllt, der immer wollte, dass ich seinen Übungen folge, Hand heben, Bein heben und so weiter, und dass ich ihm erzähle, was passiert sei. Ich hätte ihm gern berichtet. Davon, dass ich sehr oft nachts zur Toilette gehe, wegen des Blasendrangs, schon lange, aber zuletzt immer öfter, dass es mir deshalb unangenehm sei, außer Haus zu schlafen. Auf meine Augentrübung sei nachts auch Verlass. Und mein rechtes Bein schmerze bei Belastung fast immer. Aber ich schaffte es nicht, ihnen behilflich zu sein. Sie waren mir auch nicht böse deswegen. Sie ließen mir Zeit. Hier im Krankenhaus hatte ich viel Zeit. Zu viel Zeit.
In dem Zimmer, das kleine Bild oben rechts meine ich, ging es mir ganz gut. Moment, ich zoom das mal raus, sieht aus wie Intensivstation. War ich dort nicht erst später? Ist ja egal. Viele Erinnerungen habe ich dazu nicht. Ziemlich hell war es da. Die Deckenlampe blendete und ich konnte leider den Kopf nicht zur Seite drehen. Ich konnte überhaupt nichts drehen. Für meine Augen mit Milchglasblick war das nicht gut. Und dann die Geräusche! Da nervte mich anfangs ein penetrantes, regelmäßiges Knacken. Ein immer wiederkehrendes Geräusch, das mir vorkam, als würde es immer lauter. Später, nachdem die weißen Damen mich besichtigt hatten, zur Kontrolle, wie sie sagten, als hätten sie befürchtet, ich könnte weggelaufen sein, und meine Kurven mitgenommen hatten, später hatte ich es als einigermaßen akzeptabel empfunden, das Knacken. Da wusste ich, dass es von dem nervösen Datenschreiber mit der penetrant schleichenden Papierrolle kam. Der mickrige kleine Stift, der die Linien zeichnen sollte, flitzte dauernd hektisch rauf und runter. Aber in meine tiefe innere Ruhe passte das Geräusch nicht. Es wurde auch immer lauter. Ich empfand es als lästig, schließlich störend, immer lauter, selbstverstärkend, ja, beängstigend. Tack, tack, tack, tack, tack, tack!
Ach, da kommt wieder der Junge ins Bild. Da war er noch kleiner, gerade sechsjährig, denke ich, wie er in das Haus rennt. Ein kleines, einfaches Haus aus roten Ziegeln mit Spitzdach. Das Maschinengewehr eines Tieffliegers knattert mit kurzen Unterbrechungen, immer lauter knallt es, wirbelt Dreck auf. Da steht der Hans, zitternd vor Angst, in der Haustür. Was ist es damals gewesen, das mit dem Jungen geschah?
Und wo war das noch, das neue Bild da mit den krummen Birken, die vor dem Jungen buckeln? Das muss die Landstraße sein. Na klar, der wäre da schon gern mal mit einem Auto gefahren. Aber wie das? Nein, Hans kann sich noch nicht einmal erinnern, dass ihn dort auf seinem Rückweg von der Schule jemals ein Auto auch nur überholt hätte. Wer hatte schon ein Auto? Die waren alle im Krieg. Aber ein Pferdefuhrwerk schon. Lange bevor es bei ihm wäre oder er sehen könnte, ob es vielleicht ein Bekannter ist, der ihm den Fußweg abkürzen könnte, würde er es hören. Das Geratter der stahlbereiften Holzräder auf dem Kopfsteinpflaster ist viel lauter als die Hufe der Pferde. Auch wenn das Gespann in dem Fahrstreifen mit dem losen Sand neben der Straße fährt, ist es noch laut. Irgendetwas quietscht oder klappert immer an den Leiterwagen.
Sein Weg von der zwei Kilometer entfernten Schule in Seppensen ist endlos und langweilig. So langweilig wie die Schule. Er hat seinen Platz dort in der ersten Reihe, wie alle Erstklässler. In der Reihe dahinter sitzt die zweite Klasse. Acht Reihen gibt es in dem Klassenraum der Dorfschule. Sein Platz ist ganz links, direkt vor dem Katheder. Der Lehrer ist hoch über ihm und sieht immer über ihn hinweg. Die Tafel kann er nur halb sehen. Und wenn es dann endlich vorbei ist, kommt wieder dieser lange Weg zurück. Es ist langweilig, stinklangweilig. Meistens jedenfalls. Immer auf dem Sandweg neben der Straße. Es sei denn, es gibt Fliegeralarm. Dann muss er den Umweg durch den Wald nehmen. Die Tiefflieger haben es immer auf die Munitionszüge abgesehen, die auf der Bahnstrecke nach Norden fahren, parallel zur Straße, nur eine schmale Tannenwaldfläche an der Seite seines Weges liegt dazwischen.