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Da vorne, wo der Wald endet, steht das bescheidene Bauernhaus, in das sein Vater ihn mit seiner Mutter und seinen Geschwistern wegen der Luftangriffe in der Stadt einquartiert hat. Aber es liegt etwas zurück, nicht gleich an der Straße. Für einen Erstklässler ist sogar die Hofauffahrt bis zum Haus ein langes Stück Weg. Und auch auf diesem letzten Teil des Schulweges passiert nie etwas. Hier gibt es keinen Hund, der ihn hätte begrüßen können, keine Kuh, kein Pferd, nur stumme, unverrückbare Birken und trostloses Grün entlang der ungepflasterten, weichsandigen Einfahrt zum Haus.
Von Tante Beuße, der das Haus gehört und deren Mann im Krieg ist, ist auch nichts zu sehen. Die ist vormittags meist auf dem Feld. Oder sie arbeitet in dem großen Garten, der hinter dem Haus liegt. Aber da ist sie auch nicht.
Das Einzige, das ihn an diesem heißen, späten Frühlingsmorgen noch interessieren kann, ist die Pumpe. Direkt gegenüber dem Hauseingang, aber abseits, an der Grundstücksgrenze, steht die Schwengelpumpe, betagt, etwas schief, wackelig und rostig. Sie schreit beim Pumpen immer nach Farbe, die es in der Zeit nicht gibt. Trotzdem liefert sie das ganze Wasser für das Essen, die Wäsche und das Plumpsklosett. Und für das Schwein, dessen Stall direkt am Haus ist.
Aber bevor Hans zur Pumpe geht, sieht er erst zum Himmel. Das macht er jetzt immer, seit letzter Woche, als, während er Wasser pumpte, der Tiefflieger, dieses hässliche, dunkelgrüne Ungeheuer, auf ihn zuraste und sein Maschinengewehr abfeuerte. Ganz plötzlich ist er da gewesen, lautlos, und dann hat er die Lokomotive beschossen und seine Munitionsspur nur wenige Meter neben der Pumpe entlanggezogen. Hans hatte ihn vorher nicht gehört. Es ist schon schwer genug, den Schwengel mehrmals hoch- und runterzuziehen, bevor dann endlich der ungleichmäßige Schwall kommt, etwas bräunliches, nach Eisen schmeckendes Wasser, kalt und frisch, das er mit der Hand in den Mund schöpft.
Auch das Quietschen der Pumpe hat keine Bewegung in das Haus gebracht. Also ist seine Mutter auch nicht da, obwohl die Tür geöffnet ist. Aber die war eigentlich immer offen. Noch nicht einmal der Hahn nimmt Notiz von ihm, sondern kratzt am Rand des Misthaufens weiter. Hans kann also nur das Schwein begrüßen und reißt dazu einen Büschel Löwenzahn neben der Pumpe als Begrüßungsgeschenk raus. Das stinkt hier, denkt er. Die Johannisbeerbüsche haben eine Gießrinne bekommen, die frisch mit Jauche gefüllt worden ist. Aus dem Schuppen hinter dem Haus meldet eine Henne ihren Erfolg. Wenigstens einer sagt hier was, stellt Hans fest.
Fast das ganze Bein hatte der dem Heizer abgeschossen. Die Lok hatte noch versucht den Zug in das Waldstück zu ziehen. Aber der Tiefflieger war schneller gewesen. Mit ungeheuerlichem Lärm war er über den Kopf des Jungen hinweggedonnert, hatte schon lange vorher sein MG spucken lassen, die Munition erst in die Erde gerammt und dann in der Lok versenkt, war hochgezogen und hatte, um ganz sicher zu sein, nach einem scharfen, kurzen Kreis das Ganze noch einmal gemacht. Aber da war Hans schon ins Haus gelaufen. Zitternd hatte er gesehen, wie der Flieger wieder angerast kam, aufheulend vor Hass und Wut. Mit aufgerissenem Mund hatte er in der Haustür gestanden, geglaubt, dass der Angriff des Fliegers ihm galt, noch einmal kam, weil er ihn eben nicht getroffen hatte. Erst später haben die Leute von dem Zug erzählt. Aber es war ein Personenzug gewesen, ohne Güterwagen dran. Sonst hätte der Flieger sicher auf die Güterwagen geschossen, wegen der Munition, die damit transportiert wurde, und nicht auf die Lok, meinten die Leute. Dann hätte der Heizer noch gelebt und wäre nicht verblutet. Aber vielleicht wäre dann das ganze Haus mit Hans in die Luft geflogen und der ganze Zug.
Hans legt sein Ränzel auf den Tisch und geht wieder raus. Hinten im Garten ist auch keiner. Er geht bis ganz an das Ende, wo eigentlich ein Zaun sein sollte, aber, weil es keinen Draht gibt, keiner ist. Er schlendert über die Brache dahinter, bis weit hinaus zu den Weiden, wo der Bach seinen Weg zum Moor sucht. Er folgt ihm, sucht immer mal wieder, ob irgendetwas Lebendes zu sehen ist, was man fangen könnte oder wenigstens beobachten. Hier sind keine Gleise, keine Straße, kein Weg. Hier gibt es keine Gefahr. Nur vor den halbhohen Pflanzen muss er sich in Acht nehmen. Er hat die übliche kurze Hose an, eine Lederhose mit der praktischen Klappe vorn, und seine nackten Beine sind empfindlich ungeschützt.
Hans folgt dem Bach in den Laubwald. Ganz hinten sieht er es heller werden. Irgendwo dort müsste das Sumpfgebiet mit der Pfefferminze liegen. Da könnte er einen Arm voll pflücken und mit nach Hause bringen. Aber als er ins Freie tritt, ist er an eine endlos weite Wiese gekommen, die abschüssig irgendwohin geht. Aber wohin? Er geht am Waldrand entlang, sieht dabei dem kreisenden Bussard nach, pflückt im Gehen eine dünne Gerte und versucht mit ihr die Löwenzahnblüten zu köpfen.
Warum hat der den Heizer erschossen? Der hat ihm doch gar nichts getan. Fuhr da nur die Leute nach Norden, nach Buchholz. Alle sagten, dass der Krieg bald zu Ende sei. Die Tommys seien nicht mehr weit weg.
Da, plötzlich, stürmen zwei Jungen hinter zwei Büschen raus, sind mit zwei, drei Sprüngen bei ihm, drehen ihm die Hände auf den Rücken und schieben ihn auf eine kleine, geschützte Lichtung im Wald. Er will sich noch wehren, aber da drehen sie ihm die Arme so weit um, dass er nur noch gebückt gehen kann. Einer schwingt einen Stock vor seiner Nase.
„Schön friedlich, mein Lieber, oder willst du den mal schmecken? Und wehe du schreist! Dann brennt dir der Arsch!“
Am Rand der Lichtung steht ein kleines Zweimannzelt, zu dem sie ihn hindrängen.
„Rein da!“, herrschen sie ihn an. Er kriecht in sein Gefängnis. Seine Wärter bleiben draußen. Er wartet, ihm scheint es, als wäre schon lange Zeit vergangen, als sich der Zelteingang etwas bewegt.
„Bleib schön ruhig da liegen“, sagt einer der beiden, „du bist unser Gefangener. Wenn du nicht friedlich bist, fesseln wir dich mit Brennnesseln.“
Hans sagt nichts. Er lauscht und wartet. Er hat ihnen nichts getan. Er kennt sie auch nicht. Sie müssen von einem anderen Dorf sein. Ist er in ihr Revier gegangen? Immer wieder lauscht er, ob sich etwas bewegt. Holen die vielleicht noch ihre Freunde? Ganz weit in der Ferne hört er ein Rummeln und Motorbrummen. Das muss das Militär sein. Schließlich traut er sich, vorsichtig durch den Eingangsschlitz des Zeltes zu spähen. Von seinen Häschern ist nichts zu sehen. Immer mehr biegt er die Zeltwand auseinander, steckt den Kopf raus, schiebt den Oberkörper raus. Nichts passiert. Und dann spannt er sich. Mit einem Satz springt er ins Freie und rennt wie wild davon. Als ihm die Luft ausgeht, bleibt er stehen und dreht sich um. Keiner folgt ihm. Er ist allein. Jetzt hat er Zeit und beruhigt sich. Auch sein Atem wird ruhiger. Schade, jetzt geht der Junge aus dem Bild. Aber immer noch nicht in Richtung Heimweg. Wohin will er denn nun noch? Hat er noch nicht genug erlebt?
Also, bei mir blieb es immer, dieses Gefühl von Atemnot, es blieb alle Jahre mein Begleiter. Immer war sie der Bremser. Die Leistungsgrenze als Marathonläufer zum Beispiel. Und später habe ich dieses Gefühl eines Sauerstoffmangels schwächer, aber viel öfter bemerkt. Immer häufiger waren die Anfälle mit der Zeit geworden. Schon lange weiß ich, dass das die Extrasystolen sind, Herzrhythmusstörungen. Kenne ich nun wirklich lange genug. Habe mich schon daran gewöhnt. Dr. Freitag, mein Internist, hat mir bei den regelmäßigen Untersuchungen immer gesagt, man müsse nichts unternehmen. Mein Befinden sei maßgebend. Das ging so lange, bis er eine Verengung in der Halsschlagader entdeckte. Aber auch dann war nur eine tägliche Pille zur Blutverdünnung erforderlich, ein Aggregationshemmer, sagte er. Er war Herzspezialist und hatte natürlich recht, dass mein Befinden mein Maßstab sein müsse. Das kann ich auch heute noch bestätigen. Jetzt, wo ich mich da immer noch liegen sehe. Ich empfinde jetzt eigentlich nichts mehr, außer dieser herrlich wohltuenden Ruhe, dem angenehmen hellen Licht um mich herum, dem klaren, kein bisschen diffusen Bild. Nur die Freiheit fehlt mir, das Glück, unabhängig vom Willen der Menschen zu sein.
Na klar. Bei dem Wort Freiheit drängt sich sofort der Hans wieder auf meinen Bildschirm. Er ist ein Synonym für Freiheit. Natürlich kenne ich auch den Grund dafür. Er war nicht besonders ängstlich, im Gegenteil, meistens auf Abenteuer und Wettkampf aus. Nehmen wir zum Beispiel seine Zeit in den Trümmern. Sein Häuserblock war der erste, der wieder aufgebaut worden war. Das war nach dem Umzug nach Hamburg. Warum waren sie denn schon wieder umgezogen?
Ach ja, der Chef seines Vaters. Der Zweigstellenleiter der Reichsbank. Ein richtiger Widerling. Er ärgerte und schikanierte seinen Vater, so oft es ging. Heute würde man das Mobbing nennen. Es ärgerte ihn wohl, dass sein Vater einen guten Ruf in der Zentrale hatte. Er war nach bestandener Prüfung der damals jüngste Angestellte im gehobenen Dienst der ganzen Deutschen Reichsbank. Aber er war sensibel und nicht besonders ehrgeizig, hatte schon früh ein Herzleiden bekommen und versäumte deshalb, den nächsthöheren beruflichen Abschluss zu machen, der Grund dafür, dass ihm nun ein Vorgesetzter aus dem Rheinland das Leben schwer machen konnte. Seine Frau sorgte sich um ihn. Er war zu defensiv, um zu kämpfen. Schließlich fuhr sie, ohne ihn zu informieren, in die Zentrale nach Hamburg und bat den damaligen Direktor, Dr. Clasen hieß der, um ein Gespräch. Sie liebte ihren Mann und ihre Kinder, und sie war mutig. Vielleicht hatte Hans einiges davon geerbt. Dr. Clasen hörte sich ihre Sorgen an und versprach ihr, ihren Mann nach Hamburg zu versetzen. So kam der Umzug.
Aber woher kam mein Umzug? Der aus meinem Bett in dieses hier? Das ist mir immer noch nicht eingefallen. Bis in die Kriegszeit kann ich sehen, aber nicht die wenigen Minuten vor dem Krankenhaus. Ärgerlich ist das! Vielleicht muss ich mich noch mehr anstrengen, mehr suchen, mehr nachdenken!
Da ist der Junge wieder, kommt aus der anderen Seite des Waldes raus und geht quer über die Wiese. Dort muss der Bach sein. Ist ja gut zu erkennen an den Pappeln, Erlen und anderen durstigen Seelen. Hans geht an ihm entlang und steigt in ein niedriges Gehölz aus Büschen und Laubhölzern. Ganz schön schwierig mit den kurzen Hosen. Aber irgendetwas treibt ihn. Immer weiter stapft er, dem Bach folgend, manchmal wie ein Storch im Salat, um den Brennnesseln zu entgehen, bis er sein Ziel, den kleinen Tümpel mit der Pfefferminze, erreicht hat. Er braucht sich die Pflanzen gar nicht näher anzusehen. Schon der Geruch dort macht ihn sicher. Na klar, das riecht sogar bis zu mir hier her! Von da aus kennt er den Weg genau. Da war er schon einmal. Ein paar Büschel reißt er aus, nimmt sie unter dem Arm mit, dann geht er in Richtung seines Hauses. Es wird auch Zeit. Man wird ihn schon vermissen. Er lässt das Bummeln, seine Schritte werden schneller. Er versucht zu laufen. Die Pfefferminze unter dem Arm stört ihn, muss aber mit. Sie ist ja die Begründung für sein Ausbleiben.
Eine Viertelstunde später hat er die drängende Zeit schon wieder vergessen. Ein Seitenweg lockt ihn vom Weg ab. Wo mag der hingehen? Erst ein paar Kurven, dann sieht er ein kleines, weiß gestrichenes Haus. Sieht aus wie ein Hexenhaus. Aber das schreckt ihn nicht. Leise geht er darauf zu, schaut nach rechts, erkennt eine kleine, grün angestrichene Holzhütte und als er auf die zugeht, bleibt er plötzlich stehen. Was stört ihn? Er müsste doch an die Zeit denken, die verrinnt, während er dort rumspökert!
Jetzt geht er zögerlich einige Schritte auf etwas zu, das ihn magisch anzieht. Da liegt vor ihm ein Bombentrichter. Aber nicht leer wie die meisten! Hans kennt die Bombentrichter. Er weiß, die sind dort gar nicht so selten. Im weiteren Umkreis der Stadt werfen die Tommys immer mal wieder ihre gefährliche Fracht vorzeitig ab, wenn sie merken, dass sie nicht zu ihrem Ziel kommen. Vielleicht weil die Flak zu gefährlich wird oder weil das Wetter schlecht oder der Treibstoff knapp wird. Hans weiß auch, dass man an den Bomben nicht spielen darf, einen weiten Bogen um sie machen muss. Sie könnten noch scharf sein. Und jetzt geht er doch in den Trichter! Steigt hinab in die Gefahr!
Was ist das? Ein Bombentrichter aus Papier? Hans setzt sich mitten hinein in diese bedruckte und unbedruckte Welt. Er bestaunt einen gewaltigen Papierhaufen, mit dem er als Erstklässler noch nicht viel anfangen kann. Aber spannend ist es, sich die Blätter anzusehen, sie hochzuwerfen in den Wind, sich von ihnen beregnen zu lassen. Natürlich denkt er nicht daran, dass unter ihnen vielleicht noch eine Bombe liegen könnte. Er springt vom Kraterrand hinein in die Papierwelt, mal im Schlusssprung, dann mit Anlauf und lässt sich von den Blättern, den Druckwerken und sogar von jungfräulichem Papier auffangen.
Hans, denk an die Zeit! Die warten doch schon auf dich! Das könnte Backpfeifen geben!
Da liegt er in den papiergewordenen Gedanken, wühlt sich hinein, bedeckt sich mit ihnen und träumt in die Sonne. Ein unbeschriebenes Blatt! Jetzt versinkt er ganz in dem Papier. Sein Gesicht ist von einem großen, aufgefalteten Bogen DIN A3 verdeckt.
Ich kann mich noch so sehr anstrengen, aber zu lesen, was da drauf steht, gelingt mir nicht. Doch, jetzt, in diesem Augenblick, in dem die Sonne darauf scheint, erkenne ich es – das ist ja meine Patientenverfügung! Die Freiheit! Die Urkunde zur Loslösung aus der Macht der weißen Götter hier, auf die ich sehnsüchtig gewartet habe. Meine Dokumentation vom Nachtschrank, in der die Patientenverfügung lag, deckt den Kopf des Jungen zu.
Eigentlich kann das gar nicht sein. Das bilde ich mir bestimmt nur ein. Die Papiere können nicht zugleich hier und da sein. Das wäre ja wie in der Quantentheorie. Aber warum sehe ich das dann?
„Habe ich dir schon einmal erklärt. Weil du das willst.“
Ist mir früher doch nicht passiert! Da habe ich auch nur das gesehen, was tatsächlich war!
„Glaubst du. Und früher! Früher hast du gelebt.“
Und jetzt? Sag mal, bin ich tot?
„Vielleicht. Das kommt drauf an. Herr Dr. Mohr zum Beispiel war eben der Meinung, dass du noch lebst. Angela aber glaubt, du seiest tot. Es gibt keine einheitliche Definition dafür. Es gibt viele Tode. Hirntod, Herztod, den Zelltod, den Tod durch die Desorganisation der Organe oder des Nervensystems. Das Sterben ist ein Prozess.“
Aha. Das dauert also. Und obwohl ich da in dem Bett wie tot aussehe, bin ich hier und sehe. Vielleicht bin ich da im Bett nur teiltot. Aber das müssten doch die Ärzte wissen.
„Auch sie glauben nur zu wissen. Und sie sind sich uneinig, je nach Land, Kultur, Religion und anderen Mythologien. Die Majorität der Menschheit glaubt an ein Weiterleben, wirkmächtig, bemerkbar oder unsichtbar.“
So wie du. Oder bist du auch teiltot?
„Ich habe nie gelebt.“
Weißt aber immer alles besser, nicht?
4. Die Tommys
Mal sehen, wie es weitergeht. Komm da raus! Da verkriecht sich so ein Bild hinter einem anderen. Komm raus da! Warum versteckst du dich? Wenn du nicht willst, ziehe ich dich eben raus. Na klar, konnte man sich denken. Das Bild schämt sich. Es ist ein schlechtes Beispiel, passt nicht so ganz in das QS. Das ist das Qualitätsmanagement hier. Bei der Zertifizierung ist der Raum zunächst durchgefallen, hat die Reinmachefrau mir erzählt. Da wusste sie noch nicht, dass ich ihr nicht antworten kann. Danach hat man die Fußbodenleisten rausgerissen, den ganzen Boden mit Linoleum verklebt und dieses an den Rändern hochgezogen. Zu einem Viertelbogen. Etwa zehn Zentimeter, ähnlich einer Hohlkehle. Ich habe mir das genau angesehen, weil es mich an die Nasszellen an den Autobahnen erinnerte. Und Zeit genug hatte ich ja.
Sie haben mich da reingefahren, in die Zelle, weil sonst kein Platz war. Gefallen hat es mir nicht. Es roch nicht gut dort. Mir wird jetzt noch ganz elend davon, wenn ich das rieche. Als die Reinigungskraft dort ihren Dienst tat, beeilte sie sich, den Raum schnell wieder zu verlassen. Sie kippte in ihren Wassereimer einen reichlichen Schuss aus der Flasche, die ein Gefahrenzeichen auf dem Etikett hatte. Eine scharf riechende Flüssigkeit. Der Duft hing auch nach ihrer Wischarbeit in dem Raum wie ein Moskitonetz über den Betten. Zwei standen dort schon. Meines war das dritte. Eines war leer bei meiner Ankunft. In dem anderen lag ein unrasierter Typ, der laut schnarchte. Ab und zu wurde er, wohl aus seinem Inneren heraus, angestoßen. Dann kam sein Körper ins Schütteln, bis er sich schließlich aufrichtete. Ein Grunzen oder Knurren, dann fiel er wieder in sich zusammen und schnarchte weiter. Davon abgesehen, war mein Nachbar ganz verträglich.
Zunächst wusste ich nicht, dass man ihn erst in der Nacht hier abgelegt hatte. Nach einigen Stunden regte er sich wieder, stand sogar auf und ging schwankend ein paar Schritte zur Tür. Das war wohl zu weit für das, was ihn antrieb. Die nächstgelegene Ecke empfand er als rechten Ort, um seine Blase zu entleeren. Es müssen einige Biere gewesen sein, die ihn bedrückt haben. Nur gut, dass es diese Hohlkehle gab. Danach ging er zufrieden wieder zu seinem Bett und legte sich, ohne seine Kleider zu ordnen, wieder hin. Schon bald zeugte das Schnarchen von seiner Zufriedenheit.
Mir ging es dort nicht so. Schließlich hatte ich seit mehr als drei Jahrzehnten Privatversicherung für Einbettzimmer und Chefarztbehandlung bezahlt. Aber das wusste die Aufnahme des Krankenhauses natürlich nicht. Ohne die Papiere von meinem Nachtschrank mit der Patientenverfügung konnte sie darauf keine Rücksicht nehmen.
Hans macht das auch nicht. Jetzt drängelt er sich aus dem Papier! Schiebt das wichtige Dokument auf seinem Kopf achtlos beiseite. Dabei wäre es so dringend gewesen! Er stapft aus dem Sumpf von Druckerzeugnissen heraus, klettert am Rand des Kraters hoch und vergisst immer noch, dass die Zeit vergeht. Wenn er sich jetzt wenigstens beeilen würde! Da geht er erst noch zu dem grünen Holzschuppen. Das Fenster steht auf Kipp. Natürlich ist er neugierig, will wissen, was da drin ist, stellt sich auf die Zehenspitzen. Mein Gott! Er kriegt vor Staunen den Mund nicht wieder zu. Da liegen Berge von neuen Schulheften, Zeichenblöcke in Stapeln, Notizblöcke, Rollen von Packpapier und vieles mehr! Alles neu!
Jetzt hat er es plötzlich eilig. Jetzt läuft er den langen gebogenen Weg nach Holm hinunter. Von da aus ist es immerhin noch eine gute halbe Stunde. Jetzt will er schnell nach Haus und von dem Schatz berichten, den er gefunden hat.
Na klar, der Empfang ist nicht gerade freundlich. Er kann von Glück sagen, dass sein Vater nicht da ist. Der ist immer die ganze Woche im Dienst. Muss montagsfrüh um halb drei schon losgehen, um zu Fuß gegen neun in Harburg zu sein. Eine Bahnverbindung gibt es nicht mehr. Freitags kommt er zurück. Also ist er werktags nicht da.
Hans’ Mutter ist mal wieder gnädig mit ihm. Es gibt nur Schimpfe. Von seinem Schatz erzählt er ihr lieber nichts. Aber Joachim, dem Sohn von Frau Beuße, der Bäuerin, bei der sie wohnen. Gleich am nächsten Tag gehen die beiden mit einem leeren Kartoffelsack hin, um den Fund zu bergen. Das Fenster brauchen sie gar nicht einzuschlagen, hätte vielleicht auch zu viel Lärm gemacht. Die Schuppentür ist unverschlossen! Hans passt auf und Joachim packt die Ware ein. Ganz sorgfältig, so viel sie tragen können.
Aber wartet mal, Freunde, das dicke Ende kommt noch.
Vorher muss ich jedoch noch bei der Ankunft der Tommys zusehen. Wie gesagt, so wurden damals die Engländer genannt. Das rattert und quietscht die Dorfstraße hoch. Das Kopfsteinpflaster schreit, der Sand fliegt hoch, will fliehen, wird aber von den Panzern zurückgehalten und platt gedrückt oder setzt sich auf das grünbraune Blech. Vorweg aber fährt ein Jeep! Er hält vor dem Haus, zwei Soldaten kommen mit ihren Gewehren in der Hand die sandige Hofeinfahrt runter. Sie sind gar nicht besonders vorsichtig. Wahrscheinlich kommt das von der weißen Fahne, die Tante Beuße an einem Stock an die Straße gehängt hat.
Die beiden Frauen sehen die Männer schon kommen, ängstlich sehen sie ihnen entgegen. Aber da fällt Frau Beuße noch etwas ein, etwas ganz Wichtiges. Der Wecker! Es ist die einzige Uhr, die man noch im Haus hat. Wirklich die einzige, die noch funktioniert! Wenn sie die nun wegnähmen, mitgehen ließen! In aller Eile überlegen die Frauen, wo man sie schnell verstecken könnte. Im Küchenschrank, ja, aber wenn die die Tür aufmachen? Da hebt Frau Beuße den Deckel eines Topfes hoch und steckt den Wecker hinein. Das war auch höchste Zeit. Die Soldaten sind schon an der Tür. Jetzt ist der Wecker versteckt, aber er meldet sich! Sein Ticken hallt viel deutlicher aus seinem Topfgefängnis heraus als vorher. Aber nun ist das nicht mehr zu ändern. Die Soldaten kommen in die Küche. Beide haben ihre Knarre in der Hand.
„Männer hier?“
„Nein, im Krieg.“
„Frauen alleine?“
Die Frauen nicken. Ein Soldat sieht in die Wohnstube, der andere sieht zum Herd und zum Küchentisch. Von dort sehen ihn fünf Kinder mit großen Augen ängstlich an. „Alle Kinder von hier?“
„Ja.“
„Keine Männer?“
Die Frauen schütteln den Kopf.
„Okay, good bye.“
Sie gehen und lassen den Wecker im Kochtopf weiterticken.
Was ist denn nun mit dem Papierschatz der Jungen? Richtig. Ihr Schatz ist zu Hause gar nicht richtig bestaunt worden, wurde nicht würdig befunden. Im Gegenteil! Wieder gab es ein Donnerwetter. Und dann mussten die beiden mit dem Blockwagen den Weg noch einmal machen und alles wieder hinbringen. Nichts durfte zu Hause bleiben. Unverständlich! All die schönen neuen Hefte, liniert und kariert, in Deckeln mit roten und blauen Rändern, die es nirgendwo zu kaufen gab! Die sollten nun wieder in dem Schuppen rumliegen. Und entschuldigen sollten sie sich auch noch.
Da sehe ich die beiden, wie sie lustlos und deshalb ziemlich langsam die holperige Dorfstraße langschleichen. Oder, nein, das ist ja schon auf dem Heimweg! Der Blockwagen ist schon leer. Holm liegt bereits hinter ihnen. Aus dem Mittelweg kommt gerade Siggi raus mit seinem kleinen Bruder Gerold an der Hand.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragt Siggi.
„Jahh“, sagt Joachim, schlagfertig wie immer, „wir wollten Pfefferminze holen.“
„Und?“
„Jahh, steht nicht gut dies Jahr.“
„Gerold, weg da!“, sagt Siggi zu seinem kleinen Bruder.
Gerold betrachtet sehr interessiert, was in der Sandspur liegt. Da ist wohl kurz vorher ein Pferdefuhrwerk langgefahren. Die Pferdeäpfel interessieren den Kleinen brennend.
„Weg da!“
Gerold kann mal wieder nicht hören. Jetzt puhlt er mit den Fingern darin rum.
„Musst mal probieren“, sagt Joachim, „schmeckt wie Schokolade.“
Gerold sieht ihn groß an. Sieht zu seinem Bruder, der grinst. „Wirklich. Schokolade.“
Gerold probiert, verzieht das Gesicht und fängt an zu heulen. Siggi grinst, Hans grinst, Joachim grinst. Gerold dreht sich um und läuft heulend nach Haus.
Als Joachim und Hans nachher im Hof spielen, haben sie Gerold lange vergessen, ahnen noch nichts Böses. Sie spielen Stuka. Gerade fliegt Hans wieder einen Angriff. Auf der Erde hat jeder den Umriss eines Sturzkampfbombers aus groben Linien gezeichnet, so groß, dass sie in der Kanzel Platz nehmen können. Als Steuerknüppel dient der Stock, mit dem sie die Umrisse in den Sand geritzt haben. Joachims Motor heult gerade mächtig auf, als seine Mutter ihn ruft. Und gleich darauf wird auch Hans ins Haus gerufen. Da ist doch was im Busch? Genau! Diesmal geht es nicht mit einem Donnerwetter ab. Gerade sieht Hans, als er am Küchenfenster vorbeigeht, wie Frau Beuße den Joachim ohrfeigt. Aber dabei belässt es seine Mutter nicht. Sie entscheidet sich für ein sorgfältigeres Vorgehen.
Erst schimpft sie und dann sagt sie, er solle sich ausziehen und ins Bett legen. Das findet Hans nicht sehr schlimm. Nun liegt er da, im Pyjama, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, das helle Tageslicht scheint durch das Fenster und er denkt an seinen Stuka. Aber dann kommt ein ganz anderer Angriff. Seine Mutter rauscht rein, den Ausklopfer in der Hand, reißt ihm ohne ein Wort die Bettdecke weg, dreht ihn an den Beinen um auf den Bauch und dann gibt es Dresche.