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Strecker rückte, nachdem er ihren Gruß erwidert hatte, mit seinem Stuhl zur Seite, zog einen Stuhl an einen Schreibtisch heran und forderte die Sekretärin mit einer ausladenden Geste auf, neben ihm Platz zu nehmen.
„Na, dann wollen wir Sie mal in die Geheimnisse des BKA einführen“, sagte Frau Köster, als sie die Kaffeetasse auf Streckers Schreibtisch abstellte und auf dem dargebotenen Stuhl Platz nahm.
„Darf ich?“, fragte sie rhetorisch, weil sie die Antwort schon dadurch vorwegnahm, dass sie sich der Tastatur und der Maus seines Rechners bemächtigte.
Eine knappe Stunde später war der Hauptkommissar nicht nur Frau Köster, rein kollegial natürlich, sondern auch der kriminalistischen Arbeit mit elektronischen Hilfsmitteln näher gekommen. Mehr sogar noch. Neben neuem Wissen hatte er auch noch an Überzeugung gewonnen und dafür Vorbehalte verloren. Die noch immer den Großteil seines Schreibtisches verdeckenden Aktenstapel würde er nicht mehr benötigen.
10.
Die Sitzung der Ermittler hatte nicht lange gedauert. Das war zwar gut für Frau Köster, weil das Protokoll entsprechend knapp ausfallen konnte, aber natürlich kein gutes Zeichen für das Fortkommen der Ermittlungen. Es gab weder neue, berichtenswerte Erkenntnisse, noch neue Ansatzpunkte. Die einzelnen Dezernatsmitglieder, mit Ausnahme von Hauptkommissar Strecker, berichteten kurz von ihren Aktivitäten am Vortag und den nächsten, anstehenden Schritten, aber wirklich hilfreich waren die jeweiligen Informationen für die Kollegen nicht. Immerhin war auch Dr. Brick anwesend, sodass Strecker nun alle seine neuen Kollegen kannte. Dr. Brick schien zu dem eher unscheinbaren Teil der Menschheit zu gehören. Klein, schmächtig, die Frisur kurz, braun und unspektakulär, genauso wie sein gesamtes Auftreten. Daran konnte auch die antiquiert erscheinende randlose Brille mit runden Gläsern, die eher an eine misslungene Bastelarbeit eines Oberschülers, denn an ein modisches Accessoire erinnerte, nichts ändern. Hätte Frau Köster Dr. Brick und HK Strecker nicht explizit miteinander bekannt gemacht, hätte letztgenannter ihn wahrscheinlich geflissentlich übersehen.
„Okay“, resümierte Hauptkommissar Faber sichtbar resigniert. „Erkennbare Fortschritte haben wir gestern wohl nicht gemacht. Also weiter wie besprochen. Herr Marten, Sie unterstützen unseren neuen Kollegen Strecker. Ab morgen soll er einsatzfähig sein. Dazu muss er alles wissen, was wir bisher wissen. Fragen?“
Wie gewöhnlich schien Faber keine zu erwarten, denn unmittelbar darauf stand er auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und verließ den Besprechungsraum. Die übrigen Kollegen folgten seinem Beispiel, sodass wieder nur Kommissar Marten und Hauptkommissar Strecker im Raum zurückblieben.
„Gehen wir in Ihr Büro?“, fragte Marten. „Dann können wir für Sie hilfreiche Informationen gleich an Ihrem Arbeitsplatz platzieren.“
„Einverstanden“, antwortete der Hauptkommissar. „Wenn es Ihnen Recht ist, möchte ich vorher noch der Kantine einen kurzen Besuch abstatten. Ich bin noch nicht zum Frühstücken gekommen. Und das soll angeblich ja die wichtigste Mahlzeit des Tages sein. Treffen wir uns doch in 30 Minuten bei mir im Büro.“
Strecker war schon da, als Kommissar Marten gegen 10:00 Uhr an der Bürotür von 1.07 klopfte. Eine Minute später saß Marten dort, wo vor gut einer Stunde noch Frau Köster gesessen hatte.
„Warum ist das überhaupt ein Fall? Und warum ist das ein Fall für uns?“ Mit diesen Fragen begann der Hauptkommissar das Gespräch.
„Gute Fragen“, entgegnete Marten. „Lassen Sie mich zuerst die erste Frage etwas pauschal beantworten. Ob bzw. dass das ein einziger Fall ist, wissen wir noch nicht, vermuten es aber. Wie Sie den Akten vielleicht schon entnommen haben, wurden in den vergangenen Monaten mehrere Taten von unterschiedlichen Behörden verfolgt. Die Erkenntnis oder um genau zu sein, muss ich eigentlich sagen, die Vermutung, dass die Dinge zusammenhängen, ergab sich erst in der letzten Woche. Durch eine Vermisstenmeldung aus Köln. Die Mutter eines 16-jährigen Schülers namens Marc Johann hatte eine Vermisstenanzeige erstattet. Der Junge hatte am späten Nachmittag des 15.11., einem Mittwoch, das Haus verlassen und war abends nicht nach Hause gekommen. Seine Mutter hatte noch am späten Abend damit begonnen in seinem Freundeskreis herumzutelefonieren. Sie konnte seinen Aufenthaltsort aber nicht ermitteln. Dabei erfuhr sie allerdings, dass ihr Sohn bereits seit längerem den Kontakt mit seinen früheren Freunden nahezu eingestellt hatte. Als der Junge am nächsten Morgen immer noch nicht zu Hause war, hat sie im nächsten Revier in der Stolkgasse eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Die Familie wohnt in der Allerheiligenstraße im Kunibertsviertel. Die Gegend kennen Sie ja. Unsere Kollegen haben dann in der Schule angerufen und die Einlieferungen in die Kölner Krankenhäuser gecheckt. Aber keine Spur von dem Jungen gefunden. Am Nachmittag haben dann zwei Kollegen von der Kripo die Eltern aufgesucht. Bei der Gelegenheit hatte die Mutter erwähnt, dass der Junge in der letzten Zeit ständig vor seinem Computer herumgehangen hatte. Daraufhin haben die Kollegen die Eltern gebeten, ihnen den Computer mitzugeben. Und dessen Auswertung hat uns dann in das Spiel gebracht. Denn auf dem Computer hatten die Kollegen von der Kriminaltechnik in Köln Informationen gefunden, hauptsächlich in Form von Screenshots und Chatprotokollen auf denen unsere Theorie fußt. Demnach vermuten wir, dass der Junge Mitglied irgendeiner Sekte oder so etwas war, die sich als sogenannte Gemeinschaft von Assassinen bezeichnet. Wohl in Anlehnung an ein beliebtes Computerspiel namens „Assassin’s Creed“. Davon gibt es schon etliche Fortsetzungen. Dabei geht es darum, dass die Spieler spezielle Missionen erfüllen müssen, häufig geht es sogar darum gezielt Anschläge oder Morde durchzuführen. Natürlich sind die Spieler die Guten und die Anschlagsziele die Bösen. Irgend jemand hat dieses Prinzip mutmaßlich in die Realität transportiert. Offenbar heuert er über das Internet Spieler an, manipuliert sie und stiftet sie an, bestimmte Straftaten zu begehen. Und um die Gemeinschaft zu unterstreichen, tragen sie eine Art Uniform. Graue Kapuzenpullis. Und das brachte uns auf den Zusammenhang, denn es gab eine Vielzahl von Meldungen über in der jüngeren Vergangenheit verübte Straftaten, bei denen die Täter graue Kapuzenpullis getragen hatten. Und damit wurde es unser Fall.“
„Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“, fragte Strecker nach.
„Leider ja. Wir haben mittlerweile mehr als ein Dutzend Straftaten, hinter denen wir diese Gemeinschaft vermuten. Hauptsächlich Überfälle, aber auch Erpressungen und sogar einen Mordanschlag. Unsere Indizienlage ist noch dürftig, eigentlich haben wir nur die Kapuzenpullis als Bindeglied, aber wir sind uns relativ sicher, dass wir es hier mit einer größeren Sache zu tun haben.“
„Und was ist mit dem verschwundenen Jungen?“, wollte Strecker wissen.
„Der ist wie vom Erdboden verschluckt. Soweit wir den auf dem Computer gespeicherten Informationen entnehmen konnten, sollte er an dem Abend, an dem er verschwand, an einer Mission teilnehmen. Worum es sich dabei handelte, haben wir bisher nicht herauskriegen können. Nur, dass er sich um 19:00 Uhr an dem Abend am Ebertplatz einfinden sollte. Und dass er den Kapuzenpulli tragen sollte.“
„Das heißt, irgendjemand rekrutiert Verbrecher über das Internet? Wie soll das denn gehen?“, fragte der Hauptkommissar.
„Nun, Rekrutierung über das Internet ist heutzutage absolut üblich“, erläuterte Kommissar Marten. „Firmen und Bewerber kontaktieren sich über das Internet, tauschen Informationen aus. Entweder über spezielle dafür errichtete Webseiten der Unternehmen oder indem typische Bewerbungsunterlagen per E-Mail versendet werden. Selbst viele Bewerbungsgespräche finden dann online statt. Das spart den Unternehmen viele Kosten ein, die sie sonst für die Reisen der Bewerber bezahlen müssten.“
„Aber das ist doch was ganz anderes. Da stellen Firmen Anzeigen in das Internet und die Bewerber suchen danach und bewerben sich. In unserem Fall hat doch aber wohl niemand eine Anzeige in das Netz gestellt und nach Freiwilligen gesucht, die Straftäter werden wollen?“, protestierte Strecker.
„Nein, aber gegeben hat es auch das schon“, antwortete Marten. „Der IS zum Beispiel betreibt eine Menge von Webseiten auf denen er sich präsentiert, teilweise mit aufwendig gemachten Filmen, und über die er Kontaktmöglichkeiten propagiert. Viele Dschihadisten wurden auf diese Art und Weise angeworben und mobilisiert. Natürlich laufen verstärkende Maßnahmen durch telefonische oder persönliche Kontakte, aber viele Erstkontakte wurden auf diese Art und Weise generiert. Unser Täter hatte noch bessere Gelegenheiten. Viele Onlinespiele werden durch Chatmöglichkeiten unterstützt. Dabei können Spieler während des Spiels miteinander kommunizieren. Das ist teilweise sogar für den Spielablauf nötig. Bei vielen Spielen kann oder muss man Allianzen bilden, um Gegner mit anderen Spielern gemeinsam bekämpfen zu können. Dazu muss man kommunizieren. Idealerweise über Chaträume, die während des Spiels von den Spielern benutzt werden. Die Spieler kennen sich natürlich nicht mit ihren richtigen Namen, sondern sprechen mit oder über ihre Avatare, also die Rollen, die sie im Spiel einnehmen. Wir vermuten, dass der Kopf der Bande so seine Kandidaten gefunden hat. Indem er sie während der Rollenspiele kontaktierte, sie zum Beispiel lobte, auf mehr neugierig machte und in seinen Bann zog.“
„Und was wissen wir bis jetzt über diesen Kopf?“
„Das ist das einzige was wir genau wissen. Nämlich nichts. Wir haben die Aufzeichnungen von dem verschwundenen Jungen. Er nennt ihn Meister. Kommuniziert wurde über Websites oder Chaträume im Darknet. Die Seiten oder Räume existieren längst nicht mehr. Alles was wir haben, sind die Screenshots. Dass wir die haben, weiß der Meister hoffentlich nicht. Und wenn, dürfte er sich mächtig ärgern. Denn ohne die abgespeicherten Bildschirminhalte hätten wir keine Spur, wüssten nichts über seine Existenz und sein, sagen wir mal, Geschäftsmodell.“
„Gibt es beim Hersteller dieses Spiels keine Aufzeichnungen mehr?“, fragte Strecker nach.
„Natürlich haben wir dort angefragt. Eine Antwort steht noch aus. Aber der Junge hat mehrere derartige Spiele gespielt. Das hat die Auswertung der Screenshots ergeben. Die stammen von verschiedenen Herstellern, größtenteils handelt es sich dabei um amerikanische Firmen. Und bei entsprechenden Nachfragen in der Vergangenheit haben wir ja erfahren, wie viel Hoffnungen wir da auf brauchbare Antworten setzen können. ‚Assassin’s Creed‘ habe ich nur als Beispiel aufgeführt, weil es eines der bekannteren Spiele ist und so gut zum Vorgehen des Täters passt.“
„Was hat die Auswertung der früheren Fälle ergeben?“, war Streckers nächste Frage.
„Auch nichts. Unsere Kollegen haben die Fälle tagelang miteinander verglichen. Nach Vorgehen, Zeitabläufen, Zielgruppen, Größe. Was weiß ich nicht alles. Aber nichts. Der einzige Zusammenhang sind die grauen Kapuzenpullis der Täter. Aber vielleicht finden Sie ja etwas. Ich bitte Sie, sich die Fälle im Nachgang zu unserem Gespräch anzusehen. Sie finden die Dokumentationen in der Fallakte. Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich Sie nun gerne allein lassen. Mit der Fallakte. Wir haben um 16:00 Uhr nochmals eine kurze Besprechung. Falls noch Fragen aufkommen, können Sie die dann stellen. Oder einfach vorher bei mir vorbeischauen.“
11.
Die sich öffnende Tür hatte ihn irritiert. Nur einen Augenblick, aber letztlich doch zu lange. Und seine Feinde, die hatten sich nicht ablenken lassen und sein Zögern eiskalt ausgenutzt. Was kurzfristig wie eine Chance schien, entpuppte sich als Gegenteil. Er hatte nicht rechtzeitig auf den Angriff reagiert, die Initiative der Gegner verpasst, das Schwert nicht kommen sehen, den Hieb nicht rechtzeitig pariert.
„Dieter! Das Essen ist fertig. Ich rufe schon die ganze Zeit. Bist Du schon wieder am Daddeln?“, rief seine Mutter durch die geöffnete Tür. Es war das Licht aus dem Flur, welches sein Zimmer geflutet hatte. „Hast Du schon Deine Hausaufgaben gemacht?“, setzte die Mutter nach, ohne eine Antwort auf ihre vorherige Frage abzuwarten.
Jetzt, erst jetzt hatte er verstanden, war er aus der virtuellen Realität zurück im wahren Leben. Tot war er nur im Spiel. Ihretwegen.
Der Junge drehte sich wütend um. Blinzelnd blickte er in das ihn blendende Licht. „Leck mich“, war seine Antwort.
„Das sage ich Deinem Vater“, war ihre.
„Ist mir egal“, erwiderte er. Und das war die Wahrheit. Sie hatten ihm lange genug sein Leben zur Hölle gemacht. Versucht, aus ihm besser funktionierende Kopien ihrer selbst zu machen. Er hatte versucht sie zu ignorieren. Sein eigenes Leben gegen ihren Widerstand zu führen. Doch nun war Schluss. Er würde es Ihnen zeigen, Ihnen und dem Rest der Welt. Sie würden es noch bereuen, dass sie ihm sein Leben versaut hatten. Und sein Spiel. Und er wusste auch schon wie. Er wurde schon lange umworben, hatte bisher gezögert, hatte Skrupel gehabt, vielleicht auch Angst. Aber das war nun vorbei. Er beendete das Spiel, ohne den Score eines Blickes zu würdigen, startete den TOR-Browser und rief die Website auf, deren Adresse er schon so lange im Gedächtnis hatte. Er positionierte den Cursor auf der Zeile „Ich bin bereit“, die sich am rechten Rand oben auf der Seite befand, betätigte die linke Maustaste und trug seinen Codenamen in das Eingabefeld ein. Die Antwort würde er sich gleich nach dem Abendessen ansehen.
12.
„Er weiß wirklich nicht mehr“, resümierte der von seinen Freunden und Feinden nur „Consultant“ genannte Mann.
Er sprach leise, war fast nicht zu verstehen. Weil er die Lippen kaum auseinander bekam. Irgendwie passte das zu seiner Erscheinung. Der schlanken, fast zerbrechlich wirkenden Gestalt. Den grauen, zum kurzen grauen Haar passenden Augen. Und zu seiner Kleidung, ganz in Schwarz. Schuhe, Hose, Rollkragenpullover und dem beinahe knöchellangen Mantel. Wie immer hatte er bei seinen Arbeitsbesuchen alles, auch Hut und Handschuhe, anbehalten
Sie hatten dem Jungen nach seiner Ankunft nochmals einige, sogar noch höher dosierte Stromstöße versetzt. Nicht weil sie daran glaubten, dass sie dadurch Neues erfahren würden, sondern eher, um dem Consultant zu demonstrieren, dass sie das Verhör mit dem gebotenen Nachdruck geführt hatten. Nachdem der Junge sich einigermaßen erholt hatte, hatte er dem Consultant nochmals seine gesamte Geschichte erzählt. Immerhin schien der Consultant zu verstehen worum es ging, wie es wahrscheinlich gelaufen war.
„Wir brauchen den oder die Computer des Jungen“, stellte der Consultant fest. „Wenn der Junge nichts weiß, finden wir vielleicht Spuren von seinem Auftraggeber oder seinen Kumpanen auf den Geräten. Erledigt das so schnell wie möglich und gebt mir Bescheid, wenn Ihr das Zeug habt. Ich organisiere in der Zwischenzeit einen Spezialisten. Einen IT-Spezialisten. Und beeilt Euch. Der Boss ist ungehalten, wie man hört. Kein Wunder. Der Überfall hat ihn eine Menge Geld gekostet. Die Zerstörungen und der Betriebsausfall waren schon teuer genug, aber noch schlimmer ist der Verlust an Renommee.“
Dass man sich in einem Etablissement von Dimitri nicht mehr sicher und ungestört amüsieren konnte, war keine Werbung. Dieser Imageschaden musste so schnell und so konsequent wie möglich behoben werden. Und dazu mussten die Verursacher gefunden und entsprechend behandelt werden. Nur wenn publik wurde, dass es ein Fehler ist, die Geschäfte von Dimitri zu stören, konnte der Vertrauensverlust beseitigt werden. Sollte dies nicht kurzfristig gelingen, bestand die Gefahr eines Flächenbrandes. Weitere Konkurrenten könnten übermütig werden. Daher war Eile geboten.
„Was? Geht zu dem Jungen nach Hause und holt seinen Computer“, herrschte der Consultant sie an.
„Ihr habt ihn noch nicht gefragt, wie er heißt und wo er wohnt?“, ergänzte er irritiert, als er die verstörten Gesichter seiner Kumpanen sah. „Da können wir ja von Glück sagen, dass er bei der Behandlung nicht krepiert ist. Und behandelt ihn von jetzt an pfleglich. Wir werden schneller finden, was wir suchen, wenn er uns unterstützen kann. Und Du wirst uns doch unterstützen, oder?“, fragte er in Richtung des Jungen, dem es trotz seines Zustandes irgendwie gelang noch mit dem Kopf zu nicken.
„Und wie heißt Du?“
„Marc. Marc Johann“, stammelte der Junge.
13.
Strecker holte sich noch einen Kaffee und machte sich dann über die Akten her.
Der erste Fall, den die Ermittler der Bande zurechneten, datierte aus dem Sommer 2017.
Am 27.06.2017, einem Dienstag, wurde in den frühen Abendstunden eine Trinkhalle in Duisburg-Wanheimerort, Ecke Düsseldorfer Str. und Nikolaistraße überfallen. Gestohlen wurden, soweit das überhaupt feststellbar war, außer ein paar Zigarettenschachteln und Schokoriegeln so gut wie nichts. Selbst die Kasse ließen die Täter unangetastet. Umso mehr Mühe verwendeten die Täter darauf, möglichst großen Schaden anzurichten. Die Frontscheibe wurde zertrümmert, zahlreiche Regale umgerissen, nahezu alle Glasbehälter zerstört. Zu guter Letzt hatten sie noch versucht, die Zeitschriften bzw. den Kiosk anzuzünden. Der Kioskbesitzer wurde tätlich angegriffen, konnte aber fliehen, bevor er ernsthaft verletzt wurde.
Von ihm und weiteren Zeugen wurde übereinstimmend ausgesagt, dass die Tat von einer Gruppe mit grauen Kapuzenpullis bekleideten Jugendlichen begangen wurde. Es handelte sich um, hier gingen die Aussagen der Zeugen auseinander, vier bis acht Täter. Einige hatten Knüppel oder Stangen dabei. Die gesamte Tat dauerte weniger als fünf Minuten. Bevor die, von mehreren Zeugen alarmierte Polizei am Tatort eintraf, waren die Täter bereits verschwunden.
Die zweite Tat, aus chronologischer Sicht, wurde am 15. August in Hamburg verübt. In der Straße „Lange Reihe“ wurde ein vor einem italienischen Restaurant geparkter Lamborghini abgefackelt. Laut den, auch hier zahlreich vorhandenen, Zeugenaussagen hatte ein mit einem grauen Kapuzenpulli bekleideter Mann einen Molotowcocktail auf den Wagen geschleudert. Der Täter entkam zu Fuß in Richtung Danziger Straße. Das Kraftfahrzeug brannte vollständig aus. Personen kamen nicht zu Schaden.
Der nächste Vorfall ereignete sich bereits am Folgetag, dem 16. August, einem Donnerstag. Tatort war ein Club in der Koblenzer Ernst-Abbe-Straße. Auch hier handelte es sich um einen Brandanschlag. Zwei Täter, wieder mit grauen Kapuzenpullis bekleidet, hatten Molotowcocktails in den Club geworfen. Glücklicherweise wurde der Brand von den Gästen schnell gelöscht, sodass es zu keinerlei Personenschäden kam. Auch der Sachschaden blieb gering.
Dann wurde am Montag, dem 11. September, in Frankfurt in der Holbeinstraße, ein Rentner im Flur eines Mietshauses überfallen und zusammengeschlagen. Der Rentner selbst hatte den Täter nicht gesehen, aber auch hier gab es wieder Zeugen, die ausgesagt hatten, dass ein mit einem grauen Kapuzenpulli bekleideter Mann vom Tatort weggelaufen war.
Die Akte enthielt ein halbes Dutzend weitere, ähnlich gelagerte Fälle, verteilt über die ganze Bundesrepublik.
Neben den grauen Kapuzenpullis war den Fällen gemein, dass die meisten Opfer, wenn auch in unterschiedlicher Weise und aus verschiedenen Motiven, vermutlich vorher unter Druck gesetzt oder bedroht wurden. Und dass es in keinem der Fälle brauchbare Ermittlungsergebnisse gab. Nicht einer der Täter hatte ermittelt, geschweige denn festgenommen werden können.
Das traf auch auf den bisher gravierendsten Fall zu, der auch der letzte in der Akte war. Die Tat war am 7.12. in Essen begangen worden. Auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Kennedyplatz war ein Mann erstochen worden. Der Täter hatte ihm gegen 20:00 Uhr abends mit einem Messer in den Rücken gestochen. Mehrere Besucher hatten ausgesagt, dass sich ein junger Mann, bekleidet mit einem Kapuzenpulli, zum Tatzeitpunkt und in der Nähe des Tatorts auffällig aggressiv einen Weg durch die Menge gebahnt hatte. Er war nicht aufgehalten worden, da offenbar bis dahin niemand die Straftat bemerkt hatte. Bei dem Mordopfer handelte es sich um einen Essener Geschäftsmann, der unter anderem mehrere Restaurants und Bars betrieb. Neben Essen auch an anderen Orten im Ruhrgebiet, wie Bochum oder Dortmund. Er war für die Polizei kein Unbekannter, wurde er doch seit längerem mit Drogengeschäften und Geldwäschedelikten in Verbindung gebracht. Bisher konnte ihm aber nichts nachgewiesen werden.
Strecker war sich sicher, dass die Kollegen alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatten und darüber hinaus eventuell übersehene Spuren mittlerweile erkaltet waren.
Daher und nicht nur aus einem Heimatgefühl heraus, beschloss er, sich auf den aktuellen Kölner Fall zu konzentrieren.
14.
Das Essen hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt. Während der ganzen Mahlzeit hatte seine Mutter ihn genervt, mit ständigen Vorwürfen, vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen und blödsinnigen Appellen an seine Vernunft. Ja, früher mag es anders gewesen sein, aber da gab es die heutigen Möglichkeiten ja noch nicht. Da musste man ständig beieinander hocken oder miteinander telefonieren. Dass man heute nicht zwangsläufig vereinsamte, wenn man nicht ständig miteinander quatschte, das bekam seine Mutter nicht in ihren Schädel. Dazu fehlte es ihr an Verstand und Verständnis. Im Gegenteil, er war bereits seit langem Mitglied einer großen Gemeinschaft. Auch wenn er seine Brüder nicht persönlich kannte, ihre Namen nicht wusste, war er doch mit ihnen verbunden, enger als mit dem, was seine Mutter ständig als Familie bezeichnete. Denn was waren sie schon? Seine sich im Haushalt langweilende Mutter, die ihm ständig auf die Nerven ging. Sein meist abwesender Vater, der, wenn er nicht gerade am Steuerknüppel eines Flugzeuges saß, irgendwo in der Weltgeschichte auf seinen nächsten Flug wartete. Oder sein schwachsinniger kleiner Bruder Thomas, der ständig vor dem Fernseher hockte und sich Zeichentrickfilme reinzog und dessen größter Spaß darin bestand zuzusehen, wie ihre Mutter ihm, seinem größeren Bruder, das Leben zur Hölle machte. Aber schon bald würde er selbst zum Mitgestalter der Hölle werden.
Neugierig, der Teller war noch nicht einmal halb leer, verzog er sich, die Drohungen und Beschimpfungen seiner Mutter einfach ignorierend, in sein Zimmer. Hatte er schon eine Antwort oder sogar einen Auftrag? Schon bevor er sich überhaupt hinsetzte, hatte er stehend über die Tastatur gebeugt, den Rechner entsperrt und die Webseite, über die er seine Bereitschaft erklärt hatte, wieder aufgerufen und nach einer Antwort geschaut. Und tatsächlich. Es gab eine Antwort. Aber noch keinen Auftrag. Jedenfalls keinen Auftrag, wie er ihn sich vorgestellt, wie er ihn sich gewünscht hatte. Stattdessen forderte der Meister ihn auf, ihm Informationen über ihn zu geben. Namen, Geburtsdatum, Namen von Familienmitgliedern und Freunden bzw. Schulkameraden, Schulnoten, eine Aufzählung der Orte, an denen er bereits gewesen war. Und aktuelle Fotos, von sich und anderen Familienmitgliedern wollte er auch noch. Wozu der Meister all das brauchte? Das hatte man ihm nicht offenbart und zu fragen getraute er sich nicht. Er musste Vertrauen haben, sollte keine Fragen stellen, sondern die Anweisungen befolgen. Das hatten sie ihm schon mitgeteilt, als sie ihn instruiert hatten, sich und seinen Rechner vorzubereiten. Auf die Kommunikation mit der Gemeinschaft.
Zuerst hatte er ein UNIX-System auf einem USB-Stick installieren müssen. Dann hatte er ein VPN aufgebaut, um die initiale eigene IP-Adresse zu verschleiern. Anschließend wurde der TOR-Browser installiert und um sich besser orientieren zu können nach dem „Hidden Wiki“ gesucht. Dann war er stundenlang auf den dunklen Seiten des viralen Universums herumgeirrt, hatte sich informiert, noch ziellos, nur von Neugierde getrieben, Link für Link ausprobiert. Mit der Zeit war er sicherer geworden, die Orientierungslosigkeit nahm ab, seine Kenntnisse nahmen zu. Sogar für die Dunkelheit gab es Suchmaschinen, zum Beispiel „Not Evil“ oder „Torch“, die einem halfen zu finden, was man finden wollte. Nur schauen, nichts kaufen, keine Daten preisgeben. Das Darknet ist voller Fallen. Voller Betrüger, die Waren anbieten, aber nach der Bezahlung nie zu liefern gedenken. Auch dafür gibt es Listen, die die Betrüger benennen, doch bevor ein Name auf die Liste kommt, hat es immer mindestens schon ein Opfer gegeben. Deshalb muss man vorsichtig sein. Wo Strafverfolgung nicht möglich ist, wo sich die Kommunikationspartner nicht persönlich oder auch nur namentlich kennen, ist Vertrauen umso wichtiger.