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Das alles hatte man ihm bereits beigebracht. Deshalb zögerte er, als man ihn aufforderte, die Daten über sich selbst preiszugeben. Aber wenn er seinem Meister nicht vertrauen konnte, was hatte er dann im Darknet verloren.
15.
„Sie?“, fragte Hauptkommissar Strecker verdutzt nach. Ihren Anruf hatte er wahrlich nicht erwartet. „Sie werden doch keine Sehnsucht nach mir haben? Oder vielleicht doch?“
„Nicht direkt, aber sehen würde ich Sie trotzdem gerne“, war ihre Antwort. „Bitte kommen Sie umgehend nach Köln. In die Allerheiligenstraße, in die Wohnung der Familie Johann. Dort ist eingebrochen worden. Und ich dachte, das würde Sie interessieren. Auch, wenn das ja nun nicht mehr Ihr Revier ist.“
„Aber Ihres oder was?“, war seine schnippische Antwort.
„Das erkläre ich Ihnen besser hier vor Ort. Kann ich mit Ihnen rechnen?“, fragte sie nach.
„Ich bin so gut wie unterwegs. Bis gleich.“ Er beendete das Gespräch, erhob sich, griff sich seinen Mantel und verließ beinahe fluchtartig das Büro. Er war eigentlich schon an der Tür des Sekretariats vorbei, als er nochmals kehrtmachte, anklopfte und den Kopf zur Tür hindurch streckte. „Ich bin zu einem Außentermin nach Köln. In die Wohnung Johann. Ich denke nicht, dass ich heute nochmals in die Zentrale zurückkomme. Wenn was sein sollte, ich bin telefonisch erreichbar. Bitte entschuldigen Sie mich bei den Kollegen in der Nachmittagskonferenz.“
Bevor Frau Köster eine Chance zu antworten hatte, war die Tür wieder zu.
Eine knappe Stunde später kutschierte Strecker seinen Dienstwagen durch das Kunibertsviertel. Er hatte den Stadtverkehr vermieden, war rechtsrheinisch über die Flughafenautobahn nach Köln gefahren und den Rhein über die Severinsbrücke überquert. Dann war er über die Nord-Süd-Fahrt Richtung Ebertplatz gefahren und kurz vorher in das Viertel abgebogen. Hoffnung auf einen dem Ziel nahen Parkplatz hatte er nicht, aber er hatte noch nie ein Problem damit gehabt, in der zweiten Reihe zu parken. Das war in der Allerheiligenstraße aber auch wirklich kein Problem, denn es war eine Sackgasse. Und die war durch zahlreiche Einsatzfahrzeuge ohnehin schon verstopft. Der Hauptkommissar parkte seinen Wagen hinter dem Pulk, stieg aus, hielt einem ihm eifrig entgegeneilenden Schutzpolizisten seinen Dienstausweis vor das Gesicht und betrat durch die geöffnete Tür den Hausflur. Sie stand in der Wohnungstür im 1. Stock, zwar mit dem Gesicht in Richtung Wohnung, aber er erkannte sie auch von hinten. „Frau Garber. Was treibt eine Düsseldorferin nach Köln?“, fragte der Neuankömmling.
„Gehen wir kurz nach oben. Da können wir uns in Ruhe unterhalten. Ich würde Ihnen gerne einige Informationen geben, bevor wir uns mit dem Einbruch beschäftigen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Ihr Chef Sie informiert, aber …“
„Machen Sie es nicht so spannend“, unterbrach sie der Hauptkommissar. „Kommen Sie auf den Punkt.“
„Ich bin Ihre Nachfolgerin.“
Das kam unerwartet. Ganz genau erinnerte sie sich noch an ihre erste Begegnung, an ihren Disput, wie sie ihn vor versammelter Mannschaft, vor seinen Kollegen, zurechtgewiesen hatte. Damals in Bonn. Zwar hatte sich ihr Verhältnis danach entspannt, aber eine echte Partnerschaft hatte sich nicht entwickelt. Und nun hatte sie seinen Posten übernommen. Sie gab ihm einige Sekunden die Nachricht zu verdauen, bevor sie versuchte, ihm mit einer Erklärung zu helfen.
„Sie wissen ja, wie schwierig es für uns ist, neben dem Beruf ein privates Umfeld zu behalten. Und für Bundes- oder Landesbeamte ist das noch schwieriger, weil sie auch noch ständig unterwegs sind. Deshalb trug ich mich schon länger mit dem Gedanken, mir eine Stelle zu suchen, die mit weniger Reisetätigkeit verbunden ist. Als ich gehört habe, dass Ihre Stelle frei wird, habe ich Kriminalrat Brandt angerufen. Er kannte mich ja bereits vom Fatebug-Fall. Und jetzt bin ich hier.“
„Da hat der Kollege Brandt aber wirklich einen guten Griff getan“, returnierte Strecker. „Nein wirklich“, setzte er nach, als er ihren fragenden Blick sah. „Dass ich wegmusste, hat mir der Brandt ja klargemacht. Und im Nachhinein bin ich ihm dankbar. Ich war unzufrieden, mit der Situation und mit mir. Die Veränderung sehe ich als echte Chance. Und wenn eine …“, fuhr er mit einem Augenzwinkern fort, „die Lücke schließen kann, die ich hinterlassen habe, dann Sie. Und außerdem: Köln ist …“ Er stockte einen Moment. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir jetzt an die Arbeit.“
„Ja. Köln ist gerade für mich die richtige Stadt. Jedenfalls musst Du das denken“, dachte sie sich, drehte sich um und ging die Treppe herunter in den ersten Stock. Der Strecker, den sie von früher kannte, hätte den Rest des Satzes nicht verschluckt.
Die Wohnung bot das übliche Bild der Verwüstung. Typisch für einen Einbruch, bei dem die Täter etwas suchten, aber nicht oder zumindest nicht gleich fanden. Sie hatten sich nicht damit zufriedengegeben, die Wohnung zu durchsuchen, sondern sie hatten sie völlig zerlegt. Schränke waren umgerissen, Schubladen und Wände zertrümmert, Polster aufgeschlitzt und ausgeweidet, selbst Herd und Kühlschrank hatten sie nicht verschont.
„Was haben die wohl gesucht?“, fragte Hauptkommissarin Garber.
„Etwas, was sie nicht finden konnten. Weil wir es haben“, antwortete Strecker. „Einen Laptop.“
„Wer hat den Einbruch gemeldet?“, wollte der Hauptkommissar wissen.
„Der Vater des vermissten Jungen. Werner Johann. Er ist gegen 11:00 Uhr von einer Dienstreise zurückgekommen. Er musste außerplanmäßig die Nacht in München verbringen, weil er seinen Flug verpasst hatte. Dienstreisen nach München sind nichts Außergewöhnliches, sein Arbeitgeber hat dort seine Zentrale. Herr Johann wollte eigentlich nur schnell seine Sachen wechseln, um dann in der Kölner Geschäftsstelle seines Arbeitgebers weiterzuarbeiten. Die ist ganz hier in der Nähe, in der Domstraße.
Als er zu seiner Wohnung kam, fand er dieses Chaos vor und hat die Polizei alarmiert.“
„Kann ich ihn sprechen?“, fragte der Hauptkommissar.
„Das ist im Moment schlecht. Er steht unter Schock. Wir mussten ihn ins Krankenhaus einliefern lassen, da er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“
„Dann fahre ich in das Krankenhaus. Wohin hat man ihn gebracht?“
„Ich begleite Sie gleich. Aber erst einmal muss ich mich hier kurz umsehen“, antwortete Frau Garber.
„Was wollen wir noch hier? Ist das hier nicht eher ein Platz für die Spurensicherung?“
„Schon, aber ich versuche noch Anhaltspunkte und Erklärungen für eine andere Sache zu finden. Wahrscheinlich die eigentliche Ursache für den Zusammenbruch von Herrn Johann. Seine Frau ist unauffindbar. Sie hätte zu Hause sein müssen. Er war schon den ganzen Morgen in Sorge, da seine Frau nicht auf seine Anrufe reagiert hatte. Deshalb ist er vom Flughafen auch gleich in die Wohnung gefahren. Als er das Chaos dort sah, hat er die 110 angerufen. Er hat dann die Wohnung durchsucht, aber keine Spur von seiner Frau gefunden. Die Streife war gerade eingetroffen, als er versuchte seine Frau auf ihrem Handy anzurufen. Und als es plötzlich in der Wohnung klingelte, ist er zusammengeklappt. Die Kollegen haben dann den Notarzt alarmiert, sich um den Mann gekümmert und uns alarmiert.“
„Sie vermuten, die Einbrecher haben die Frau mitgenommen?“, fragte der Hauptkommissar.
„Eine andere Erklärung habe ich im Moment nicht. Sie hätte zu Hause sein müssen und soweit wir bis dato wissen, hätte sie auch gestern Abend bzw. in der Nacht hier sein müssen. Und wenn sie bei dem Einbruch zu Hause war und jetzt unauffindbar ist, ist eine Entführung die wahrscheinlichste Erklärung“, sagte die Hauptkommissarin Garber.
„Das klingt nicht gut“, resümierte Strecker.
„Und deshalb müssen wir schleunigst ein Foto von ihr finden. Und sie zur Fahndung ausschreiben. Kommen Sie, helfen Sie mir suchen. Hier brauchen wir kaum Angst zu haben, dass wir Spuren verwischen könnten.“
Ein Foto hatten sie schnell gefunden. Aber sonst fanden sie nichts. Zumindest nichts Brauchbares.
„Fahren wir in das Krankenhaus. Vielleicht kann uns der Ehemann noch einige Hinweise geben. Oder zumindest uns die Aktualität des Fotos bestätigen“, schlug Strecker vor.
„Er liegt im Elisabethkrankenhaus. Das ist gleich …“
„Ich kenne mich hier aus“, unterbrach Strecker die Hauptkommissarin. „Wir treffen uns dort im Foyer.“ Dann war er auch schon weg.
Der Besuch war nicht ganz ergebnislos. Zumindest konnte Herr Johann bestätigen, dass das Foto seiner Frau einigermaßen aktuell war. Für diese magere Information hatten sie viel kämpfen müssen, denn die Ärzte wollten ihren Patienten völlig abschirmen, wollten absolut keinen Kontakt zulassen. Doch letztlich hatte Hauptkommissarin Garber den Stationsarzt überzeugen können, dass es für die Fahndung und wahrscheinlich das Überleben der Frau wichtig war, dass sie ihm zumindest das Foto zeigen konnten. Leider sollte der Arzt Recht behalten. Herr Johann schaffte es zwar noch, sich das Foto anzusehen, doch unmittelbar nach seinem auf die Frage der Hauptkommissarin folgenden Nicken, begannen die Monitore, mit denen sein Gesundheitszustand überwacht wurde, beinahe verrückt zu spielen. Noch während er eine Beruhigungsspritze aufzog, komplimentierte der Arzt sie aus dem Krankenzimmer.
„Ich fahre nochmals zurück zum Tatort“, sagte Frau Garber. „Vielleicht haben die Kollegen von der Spurensicherung ja noch etwas gefunden.“
„Kommen Sie doch morgen früh nach Meckenheim. Zum BKA“, schlug Strecker vor. „Dann können Sie uns gleich auf den aktuellen Stand bringen. Und wir können die Fahndungsmaßnahmen koordinieren.“
„Zum BKA?“, fragte die Hauptkommissarin unsicher zurück.
„Ja. Nach Meckenheim. Das kennen Sie doch. Bis morgen“, schloss Strecker, drehte sich um und ging, ohne zu ahnen, was er angerichtet hatte.
16.
Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Zwei Tage hatte er gebraucht um seinen Rechner zu konfigurieren, die ganzen Sachen über sich aufzuschreiben und an der vereinbarten Stelle im Darknet zu hinterlegen. Und jetzt das. Sein erster Auftrag. So hatte er sich seine ruhmreiche Zukunft nicht vorgestellt. Aber es könnte ja auch ein Test sein, eine Art Aufnahmeprüfung. Außerdem dürfte es kaum schwer werden, den Auftrag zu erledigen. Und eins muss man dem Meister lassen. Er hat ihn unter Beobachtung, hat unmittelbar auf seine Nachricht reagiert und ihm diesen ersten Auftrag erteilt. Ganz präzise hatte der Meister beschrieben, was er tun sollte, wo er es tun sollte, bis wann er den Job erledigen sollte und ihm zudem noch Tipps gegeben. Dass er vorher einen Fluchtweg auskundschaften sollte, dass er vorsichtig sein und die Tat nur ausführen sollte, wenn er sicher war, nicht beobachtet zu werden und natürlich, dass er sich nicht erwischen lassen sollte. Und wenn man ihn erwischen sollte, sollte er sagen, dass es eine Dummheit war, dass er sauer war, frustriert und sich irgendwie abreagieren musste. Dass er den Laden zufällig ausgewählt hatte. Dass es ihm leidtäte, er so etwas nie wieder tun würde.
Außerdem musste er noch einige Regeln lernen. Die erste bestand darin, zu beachten, dass er nie etwas aufschrieb, dass er keine Kopien oder Fotos machte, dass er alles auswendig lernte. Und dann natürlich auch noch, dass er mit niemandem, wirklich niemandem über die Bruderschaft, seine Mitgliedschaft und über seine Aufträge sprechen durfte. Aufmerksam sollte er sein, keine Fragen stellen und generell nichts infrage stellen. Gehorsam und Zuverlässigkeit waren die Säulen der Bruderschaft. Es gab keine zweite Chance. Beim leisesten Anzeichen von Ungehorsam oder Unzuverlässigkeit würde er sofort ausgeschlossen. Oder sogar ausgeschaltet. Zudem galt, dass er alles anziehen dürfte, außer einem grauen Kapuzenpulli. Denn das Recht den zu tragen, musste er sich erst verdienen.
Die Instruktionen fand er in einem Dokument, dass der Meister an einer speziellen Stelle im Darknet positioniert hatte. Er hatte ihm nur wenig Zeit gegeben, die Instruktionen zu lesen. Denn als er nach zwei Stunden nochmals nachsah, nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern weil es ihn irgendwie stolz machte, weil er einfach den Auftrag noch einmal sehen wollte, da war schon alles weg. Die Nachricht, die er erhalten hatte, führte nun ins Nichts.
17.
Nun war es also passiert. Natürlich hätte sie dem ausweichen können. Aber das hätte die Spekulationen nur angeheizt und wäre auch nur ein Aufschieben gewesen. Dieser Fall hätte nicht passieren dürfen. Wie konnte sie auch nur so naiv gewesen sein? Wie konnte sie geglaubt haben, einer erneuten Begegnung aus dem Weg zu gehen? Um eine wirkliche Chance zu haben, hätte sie ganz woanders hingehen müssen. Nicht nach Köln. Gerade mal 20 Kilometer Luftlinie von Meckenheim entfernt. „Aber auch im hintersten Winkel der Republik“, tröstete sie sich, „wäre sie nicht sicher gewesen. Der Zuständigkeitsbereich des BKA war groß, so groß wie die Republik. Es hätte überall passieren können.“
Die Rückkehr in die Wohnung der Johanns hätte sie sich sparen können. Selbst, wenn ihre Kollegen noch eine Spur gefunden hätten. Sie wäre nicht in der Lage gewesen zuzuhören, Schlüsse zu ziehen und Anweisungen zu erteilen. Doch Gott sei Dank blieb ihr das erspart.
Das andere konnte sie sich nicht ersparen. Sie konnte auch nicht bis zum Morgen warten, durfte nicht riskieren, dass es zu einem überraschenden Wiedersehen kommen würde. Also musste sie ihn anrufen.
Die Nummer kannte sie noch auswendig. Sie musste es lange klingeln lassen. Eigentlich hatte sie sich schon mit der Mailbox abgefunden, als er sich doch noch meldete. War er beschäftigt oder nicht in der Nähe des Handys gewesen? Hatte er ihre Nummer oder gar ihren Namen im Display gesehen und sich nicht getraut das Gespräch anzunehmen? Egal, letztlich hatte er das Gespräch angenommen.
„Faber“, meldete er sich kurz.
„Ich komme morgen zur Frühbesprechung nach Meckenheim. Dienstlich. Strecker hat mich eingeladen. Ich konnte nicht absagen. Das ist alles“, antwortete sie. Dann legte sie auf. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Sie war sich sicher, dass Faber wusste, wie er sich zu verhalten hatte.
Das hatte sie auch von sich gedacht. Aber nun war sie sich nicht mehr so sicher. Wie sie in ihrem Bett lag, seit Stunden nicht einschlafen konnte. Schon als Strecker sie eingeladen hatte, fing sie an zu zweifeln. Und der Anruf hatte alles schlimmer gemacht.
Sie hatten gewusst, worauf sie sich einließen. Hatten gewusst, was sie riskierten. Es hatte seit dem ersten Treffen, damals in Meckenheim geknistert. Trotzdem hatten sie widerstanden. Den ganzen Fall hindurch. Hatten schon gedacht, sie hätten es überstanden. Dann waren sie sich unvermutet in Karlsruhe begegnet. Die Bundesanwaltschaft wollte sie wegen der Fahndung nach Fatebug sprechen, hatte sie eingeladen. Unabhängig voneinander, am selben Tag. Ohne sie gegenseitig zu informieren. Wozu auch? Und dann waren sie sich in der Hotelhalle über den Weg gelaufen, vollkommen unvorbereitet, ungeschützt, ohne ihre emotionalen Rüstungen.
Zwei Blicke trafen sich. Die Verabredung stand. Ohne ein Wort gingen sie zum Lift. Die Tür glitt auf, beim Einsteigen streiften sich zwei Körper. Nur ganz leicht. Faber drückte auf die „Zwei“. Sie standen nebeneinander. Den Rücken zum Spiegel, der die hintere Wand des Aufzugs bildete, die Gesichter zur Tür. Zwei Hände berührten sich, Finger verschränkten sich. Hand in Hand schlüpften sie aus dem Lift, rempelten fast gegeneinander, weil sie es nicht erwarten konnten, bis die Tür sich vollständig geöffnet hatte. Er zog sie nach links, nur zwei oder drei Meter den Gang hinunter. Dann blieb er vor einer Tür stehen, nestelte mit seiner freien, rechten Hand in seiner Hosentasche, holte die Schlüsselkarte heraus und zog sie durch den Schlitz der Türschließanlage. Das Licht am Türschloss flackerte kurz auf. Zweimal. Gemeinsam drängten sie sich durch die Tür. Wieder prallten ihre zwei Körper gegeneinander. Zwei Schritte bis zum Bett, jeweils zwei Hände, die Bluse und Hemd über die Köpfe streiften. Zwei Paar Schuhe fielen auf den Boden. Zwei Gürtel wurden geöffnet, zwei Hosen abgestreift, zwei Körper fielen auf das Bett. Zwei Augenpaare, die sich anblickten, die sich schlossen, als sich zwei Lippenpaare trafen, vier Hände, die über zwei Körper glitten, gierig, zu gierig für Zärtlichkeit. Dafür hatten sie zu lange gewartet. Zwei Finger glitten zwischen zwei Schenkel. Zwei Körper rieben sich aneinander, glitten aufeinander, prallten gegeneinander. Küsse, Speichel floss. Dann, unmöglich zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, rollten sie auseinander. Lagen jeder auf einer Seite jeweils am Rande des Doppelbettes. Zwei nackte Körper, voneinander abgewandt. Sie wussten, dass sie zwei Beziehungen ruiniert hatten. Und ahnten, dass sie keine Zukunft hatten. Zumindest keine gemeinsame Zukunft. Mit schlechtem Gewissen, aber immer noch gierig, rollten sie aufeinander zu. Da es keine Zukunft gab, war der Augenblick umso kostbarer.
Doch sie hatten den Augenblick verlängert. Die Begierde hatte über den Verstand gesiegt. Fast drei Monate mit verstohlenen Treffen in gestohlenen Momenten. Dann war Schluss. Nicht, dass die Begierde verloren gegangen wäre, aber die Vernunft gewann an zusätzlichen Argumenten. Das Leben in der Zeit ohne den anderen wurde immer unerträglicher, weil sie selbst immer unerträglicher wurden, gegenüber Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen. Und irgendwann neigte sich die Waage, konnten die wenigen Momente des gemeinsamen Glücks die Unerträglichkeit des Alltags nicht mehr aufwiegen. Sie beendeten die Affäre.
Danach hatten sie sich nicht wiedergesehen. Hatten nicht einmal miteinander telefoniert, waren sich bewusst aus dem Weg gegangen. Natürlich hatte er gehofft, dass sie sich auf die Stelle in der neuen Einheit bewerben würde und hatte gewusst, dass sie es nicht tun würde. Und er wusste, dass das richtig gewesen war. Wie hätte das gehen sollen, nach der Nacht in Karlsruhe? Nach den Nächten danach.
Die Tage waren vergangen, sie versuchten einander zu vergessen. Nun wusste sie, dass das nicht gelungen war, in dieser Nacht vor dem Wiedersehen, als sie keine Ruhe, keinen Schlaf finden konnte.
18.
„Das ist nicht euer Ernst?“ Er konnte es nicht fassen, als er wieder in die Werkstatt kam. Eigentlich war er guter Dinge gewesen, war zufrieden, als ihn die Nachricht seiner Kunden schon am Folgetag erreicht hatte. Sie hatten den Einbruch im Zuhause des Jungen bereits in derselben Nacht erledigt, ihn am frühen Morgen angerufen und ihn in die Werkstatt bestellt. Er war nicht darauf eingerichtet, hatte sich aber gleich auf den Weg gemacht. Denn er wusste, wie wichtig es war den Auftraggeber des Jungen zu finden und zur Strecke zu bringen. Er hatte das am Vortag nicht einfach so erzählt, er hatte aus tiefster Überzeugung gesprochen. Und es war gut gewesen, sich gleich auf den Weg zu machen. Wenn auch aus einem anderen Grund, denn es gab nun ein Problem, das er sich nicht hatte ausmalen können.
„Was sollten wir machen?“, fragte der Anführer der Gruppe. „Sie hat uns überrascht. Wir waren nicht maskiert, weil wir dachten, es wäre niemand in der Wohnung. Wir haben die Wohnung den ganzen Tag beobachtet, keiner ging rein, keiner ging raus und den ganzen Abend hatte kein Licht gebrannt. Aber kaum waren wir drin, da stand sie in der Tür.“
„Und dann nehmt ihr sie einfach mit?“, fragte der Consultant.
„Was sollten wir sonst tun? Wenn wir sie umgebracht hätten, wären die Bullen gleich aufgeschreckt worden, sobald sie ihre Leiche gefunden hätten. So haben wir zumindest das Timing in der Hand.“ Dass aus dem unvermeidbaren Mord nun ein Doppelmord werden müsste, war auch dem Consultant klar.
„Und was ist mit dem Computer des Jungen? Habt ihr den wenigstens?“
„Leider nein. Den haben wir nicht gefunden. Den konnten wir gar nicht mehr finden, weil er nicht mehr in der Wohnung war. Seine Mutter hat uns mittlerweile erzählt, dass die Polizei alle Geräte mitgenommen hatte, nachdem sie ihren Sohn vermisst gemeldet hatte.“
Dass dies die Wahrheit war, bezweifelte der Consultant keine Sekunde. Er brauchte sich die Frau nur anzusehen, wie sie dasaß. Zusammengesunken und festgebunden auf einem Stuhl, der Vis-a-vis gegenüber dem Stuhl stand, auf dem ihr Sohn fixiert war. Sie hatten ihm die Elektroden abgenommen und sie stattdessen an den Brustwarzen der Frau befestigt. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht ihre Bluse aufzuknöpfen, sondern sie ihr einfach, ebenso wie den BH heruntergerissen, sodass beide Kleidungsstücke nun knapp über ihrem Schoß hingen.
„Wisst ihr, auf welchem Revier sie die Anzeige erstattet hatte?“, fragte der Consultant.
„Ja. Auf dem Revier nicht weit von ihrer Wohnung. In der Stolkgasse. Warum?“
„Wir brauchen den Scheiß Computer trotzdem“, erklärte ihm der Consultant. „Ich habe keine Idee, wie wir den Auftraggeber sonst finden können.“
„Du willst bei der Polizei einbrechen?“, fragte sein Kumpan und schaffte es dabei zu grinsen. „Das kannst Du vergessen. Die Bullen, die das Zeug abgeholt haben, waren vom BKA. Das finden wir nie.“
Das war ihm nun auch klar. Die Geräte könnten in jedem Labor oder jeder Asservatenkammer des BKA sein. Selbst wenn sie den Ort finden würden, kämen sie dort nicht hinein. Diese Option war nicht mehr gegeben. Die einzige Spur, die sie noch hatten, waren die Ermittlungen der Polizei. Er musste mit Dimitri sprechen, ob er sich damit zufriedengeben würde, auf die Polizei zu vertrauen und den Fall, sprich den Auftraggeber nach seiner Festnahme zu erledigen. Das sollte in jedem Gefängnis klappen und würde sicher drastisch genug sein. Wenn da der Faktor Zeit nicht wäre. Denn er und Dimitri wussten, dass der Fall schnell erledigt werden musste. Und konnten sie sich da auf die Beamten verlassen? Aber sei´s drum. Er musste zu Dimitri, auch mit diesen schlechten Nachrichten.
„Was sollen wir mit den beiden machen?“ Die Frage seines Kumpans riss ihn aus seinen Gedanken.
„Na, was wohl. Wenn wir den Rechner nicht bekommen können, hat der Junge seinen Wert für uns verloren. Das Password oder sonstige Hilfe brauchen wir nicht mehr. Beide haben uns gesehen. Nehmt Plastiktüten und seht zu, dass sie eine ganze Weile nicht gefunden werden. Aber macht es so, dass es überraschend für sie kommt. Und so, dass sie sich nicht dabei ansehen können. Wir sind ja keine Unmenschen.“ Und deshalb hatte er auch darauf geachtet, dass die beiden Opfer ihre Unterhaltung und insbesondere seine letzten Anweisungen nicht hören konnten.
19.
„Frau Garber. Lydia. Schön Dich wiederzusehen.“ Hauptkommissar Faber begrüßte ihren Gast beinahe überschwänglich. Er erhob sich, als sie den Raum betrat, ging auf sie zu und gab ihr die Hand. Dann lotste er die Kölner Ermittlerin zu einem freien Platz, zog den Stuhl ein wenig zurück und bot ihr mit einer ausladenden Geste der rechten Hand den Platz an.
„Guten Morgen, liebe Kollegen“, eröffnete Hauptkommissar Faber die Sitzung. „Wir begrüßen heute hier unsere Kollegin, Frau Lydia Garber, bis vor kurzem noch Mitarbeiterin beim LKA, jetzt bei der Kripo in Köln und zuständig für den Fall Johann. Viele von uns kennen sie ja noch von gemeinsamen Ermittlungen aus der jüngeren Vergangenheit, deshalb und aus Zeitgründen, möchte ich auf eine förmliche Vorstellungsrunde verzichten und Frau Garber direkt bitten, uns über den Stand der Kölner Ermittlungen zu informieren.“
Die Hauptkommissarin bedankte sich, begrüßte ihrerseits die Runde und gab einen kurzen Bericht über den Stand ihrer Erkenntnisse.
Nachdem Hauptkommissar Strecker und sie sich am Vortag getrennt hatten, war sie sowohl nochmals am Tatort, als auch im Krankenhaus bei Herrn Johann gewesen. Wie sie befürchtet hatte, konnte Werner Johann ihr nicht viele hilfreiche Informationen geben. Lediglich seine Aussagen, dass seine Frau niemals ohne Handy aus dem Haus gehen würde und dass sie üblicherweise zuverlässig und regelmäßig auf Nachrichten reagierte, halfen, ihre Vermutung, dass die Frau die Wohnung nicht freiwillig verlassen hatte, zu bekräftigten. Zudem bestätigte er nochmals, dass das von den Ermittlern aus der Wohnung mitgenommene Foto seine Frau zeigte und ziemlich aktuell war. Die Fahndung nach Frau Johann war mittlerweile offiziell eingeleitet. Hinweise dazu waren bis dato nicht eingegangen. Auch die Befragung der Nachbarschaft hatte keine nennenswerten Ermittlungsansätze ergeben. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen.