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„Also“, kam Frau Garber zum Fazit ihres Berichtes, „keine Spur. Nicht von Ilse Johann und auch nicht von ihrem Sohn Marc.“
„Irgendetwas von den anderen Fällen?“, fragte Hauptkommissar Faber in die Runde. Keine Wortmeldungen. Sie traten auf der Stelle. „Wie sieht es mit den Anfragen an die Spieleanbieter aus?“
„Bisher nichts“, antwortete Kommissar Marten. „Keine Reaktion, nicht einmal negative Antworten.“
„Unser erster Fall. Die Bewährungsprobe für unser Dezernat und wir kommen keinen Schritt voran“, dachte Faber. „Zwei Menschen sind verschwunden und wir haben keinerlei Spur, noch nicht einmal eine Idee, wie wir sie finden könnten“, sinnierte er weiter.
Fast hätte er die Frage von Hauptkommissar Strecker überhört.
„Was hat der Junge denn vor seinem Verschwinden in Köln angestellt?“, wollte der neue Kollege wissen.
„Das wissen wir bis heute nicht genau. Es hat keinen Alarm oder eine Anzeige gegeben, die wir mit dem Treffen der Bande in Zusammenhang bringen konnten.“ Es war Franz Sehlmann, der Fallanalyst, der die Frage beantwortet hatte.
„Ist denn diese Versammlung der Bande am Ebertplatz von irgendwelchen Zeugen bestätigt worden?“, hakte Strecker nach.
„Ja.“ Wieder war es Kommissar Sehlmann, der das Antworten übernahm. „Zwei Streifenbeamte, die eigentlich gegen den am Ebertplatz grassierenden Rauschgifthandel vorgehen sollten, ist eine Gruppe von mit grauen Kapuzenpullis bekleideter Jugendlicher aufgefallen. Anlass zum Einschreiten oder die Gruppe genauer zu betrachten, gab es seinerzeit nicht, weshalb die Beamten auch keine detaillierten Beobachtungen machten. Die Gruppe schätzten sie auf sechs bis acht Personen.“
„Ist die Gruppe weiteren Passanten aufgefallen?“, fragte Hauptkommissar Strecker.
„Nein“, antwortete wiederum der Fallanalyst. „Auch die Auswertung der Kameras aus den U-Bahnen und Bussen, die zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe des Ebertplatzes eingesetzt wurden, hat nichts gebracht. Die Gruppe hat kein öffentliches Verkehrsmittel benutzt. Wenn der Anlass für das Treffen nicht in der Nähe lag, müssen sie zu Fuß zu ihrem Ziel gegangen sein.“
„Das klingt nach einem Anlass für einen ausgedehnten Stadtspaziergang“, dachte sich Strecker und verzichtete auf weitere Nachfragen zu dem Vorgang. Ein weiterer Aspekt beschäftigte ihn allerdings noch.
„Ich würde gerne noch besser verstehen, was es mit dieser Gemeinschaft auf sich hat, dieser ‚Assassin’s Breed‘. Ich denke, dass dies ein legitimes Interesse ist und auch für Frau Garber interessant sein dürfte“, hob er verteidigend an, als er die Reaktionen seiner Kollegen registrierte.
„Nein, absolut“, beschwichtigte Hauptkommissar Faber. „Die Kollegen schauen nur so ent- oder besser begeistert, weil Sie mit einem kleinen Versprecher den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Das Computerspiel, das wir als Muster für das Vorgehen der Bande betrachtet haben, heißt eigentlich ‚Assassin’s Creed‘. Aber Sie haben natürlich recht, in Anbetracht des Tätigkeitsfeldes der sogenannten Gemeinschaft ist ‚breed‘ sicher die treffendere Bezeichnung. Auch was Ihr Anliegen angeht, liegen Sie richtig. Da die Mehrheit der Anwesenden mit der Thematik aber schon hinreichend vertraut ist, schlage ich vor, dass Kollege Marten Sie und Frau Garber im Anschluss an dieses Treffen separat umfassend informiert. Okay?“
Da es keine weiteren Wortmeldungen gab, erhoben sich die Anwesenden bis auf die Hauptkommissare Garber und Strecker, sowie Kommissar Marten.
20.
„Leo, schön dass Du mal wieder für uns arbeitest. Und ich meine das ehrlich, auch wenn es mich immer eine Stange Geld kostet, wenn ich Dich brauche.“
„Dimitri. Du weißt doch, dass ich für Komplimente nichts übrig habe. Und billiger wird es dadurch auch nicht.“
Normalerweise war es fast unmöglich, überhaupt einen Termin bei Dimitri zu bekommen. Kurzfristige Termine waren eigentlich ganz unmöglich. Aber wenn Leo einen Termin beim Botschafter brauchte, wusste Dimitri dass es wichtig war. Auch für ihn.
Leo war der Consultant. Ein Titel, den er sich dadurch verdient hatte, dass er für jedes Problem eine Lösung fand. Nicht, weil er ein Könner in einer oder mehreren Disziplinen war. Das traf auf Leo nicht zu. Er war der Mann für alle Fälle. Er war auch Dimitris Mann für alle Fälle. Und im Moment hatte er wieder einen solchen Fall.
Dimitri war der Botschafter. Der Botschafter der russischen Mafia für die Bundesrepublik Deutschland.
„Dieser Überfall ist ein schwerwiegendes Problem für mich“, räumte Dimitri ein. „Nicht, dass viel kaputtgegangen wäre. Und selbst wenn. Das lässt sich reparieren, das braucht nur ein wenig Zeit und eine angemessene Menge Geld. Aber der Reputationsschaden, den dieser Vorfall verursacht hat, der lässt sich nicht so einfach mit Geld reparieren. Das schadet unserem Ansehen, das gefährdet unser Geschäft, das ermutigt unsere Konkurrenten. Und wenn unser Geschäft gefährdet ist, bin auch ich gefährdet. Ich habe meine Vorgaben. Auch ich bin nur ein ausführendes Organ. Und wie für jedes Organ gilt auch für mich: Fehler werden nicht toleriert. Und für den Botschafter gilt, dass er, wenn er die Ziele nicht erreicht, abberufen wird. Und Leo, Du weißt was das bedeutet, wenn der Botschafter abberufen wird. Der Ruf bedeutet das Aus. Und häufig nicht nur im geschäftlichen Sinn.“
„Und was erwartest Du von mir?“, fragte Leo.
„Leo. Ich möchte wissen, wer das war. Wer das gemacht hat und wer das beauftragt hat. Und ich möchte das bald wissen, sehr bald.“
„Das wird nicht billig“, startete der Consultant.
„Leo“, unterbrach ihn der Botschafter. „Ich kenne Deinen Preis. Und ich gehe davon aus, dass Du meine Situation nicht als Notlage betrachtest, die Du ausnutzen kannst.“
„Nein. So meine ich das nicht“, antwortete der Consultant. „Wir werden investieren müssen. In Technologie, externen Sachverstand und Informanten. Wir müssen in Regionen forschen, in denen wir nur begrenzte Erfahrungen und Freunde haben.“
„Etwas hat uns der Junge, den wir geschnappt haben, ja schon verraten“, setzte Leo fort, nachdem ihn der Botschafter nur fragend angesehen hatte. „Er hat den Auftrag über das Internet bekommen. Das Darknet, um genau zu sein. Er wurde dort online rekrutiert, hatte nur online Kontakt mit seinem Auftraggeber und hat auch seinen Auftrag auf diesem Weg bekommen. Und daher werden wir im Internet nach den Antworten auf Deine Fragen suchen müssen. Deine Hausaufgaben hast Du schon gemacht?“, wandte sich der Consultant an den Botschafter.
„Natürlich. Die Videos aus dem Club haben wir ausgewertet, allerdings keine brauchbaren Hinweise erhalten. Hereingekommen sind sie durch die Tür. Ob der Doorkeeper mit ihnen gemeinsame Sache gemacht hatte oder nur unaufmerksam war, haben wir bereits recherchiert. Er wurde verhört. Ich denke, er hat sich nur überrumpeln lassen. Daher bekam er einen schnellen Tod. Auch den Sicherheitschef haben wir entsorgt. Er hatte einen Mann an die Tür gestellt, von dem wir kein Pfand in der Heimat hatten. Keine Eltern, Geschwister, Kinder, Frau, Freundin, nichts. Ein nicht entschuldbarer Fehler. Alle anderen, die dort beschäftigt waren, sind in die Heimat versetzt worden, die Mädchen haben wir weiter verkauft, nach Südeuropa. Aber wir kennen von allen den Aufenthaltsort, falls Du noch mit einer von ihnen sprechen willst. Aber setze nicht zu viele Hoffnungen da hinein. Wir waren schon gründlich. Aber Du hast gesagt, er hat sie online rekrutiert und geführt. Wie geht das denn?“
„Es hat mich auch überrascht. Das war auch für mich neu. Zumindest in diesem Zusammenhang. Online-Rekrutierung? Okay! Aber für die Verpflichtung und Steuerung von Gesetzesbrechern? Das scheint mir wirklich neu. Und wir müssen herausbekommen, wie er das macht, wie das funktioniert. Vielleicht lernen wir ja auch noch was für unser Geschäft. Mafia 2.0. Aber erst müssen wir investieren. Wie ich Dir schon gesagt hatte.“
„Ich gebe Boris Bescheid. Sag ihm, was Du brauchst. Er wird sich darum kümmern.“
21.
Das war nun also sein neues Leben. Stundenlang durch die feuchte Kälte latschen. Kaum jemand sonst schien sich dies anzutun, jedenfalls war die Gegend beinahe menschenleer. Was konnte man auch erwarten, es war ein lausiger Novembermorgen in Köln, in einer Gegend, in der man um diese Tageszeit nicht viel zu erwarten hatte. Für Party zu spät, zum Shoppen zu früh. Eigentlich war es schön, zumindest war es anders, als er es sonst kannte. Natürlich war er schon hier gewesen, hundertmal, tausendmal, wer zählt das schon. Zu Zeiten, in denen die Straßen gut frequentiert waren, manchmal so gut, dass es fast kein Durchkommen gab. Doch irritierender als die Leere war die Stille. Nichts, außer von leise und aus der Ferne kommendem Gemurmel, Gebrumme und Geklapper, verursacht durch die Straßenreiniger und ihre Maschinerie, war zu hören. Er schlug den Kragen hoch und die Mütze tiefer in das Gesicht, konnte aber die Kälte nicht aussperren. Mehr als eine Stunde schlich er nun schon um die Häuser. Doch er kämpfte nicht nur gegen die Kälte und die Müdigkeit, da war mehr, da war noch Angst. Der Meister hatte ihn instruiert, dass sie kommen würde, ihn beruhigt, dass sie unnötig wäre und ihm gesagt, wie er sie bekämpfen sollte. Leicht gesagt, leichtgläubig gehört. Schwer getan. Die Angst erwischt zu werden, war nicht das dominierende Kriterium. Nein, die Angst zu versagen, ließ ihn zittern, ließ ihn zaudern. Er hatte nur diese eine Chance, sein Leben zu ändern, ihm einen Sinn zu geben, Teil von etwas Großem zu werden. Diese Gedanken gaben ihm den entscheidenden Impuls.
Er beschleunigte seine Schritte. Noch zwanzig Meter. Seine Hand umklammerte den Gegenstand, den er schon die ganze Zeit in seiner Jackentasche verborgen hatte. Noch fünfzehn Meter. Sein Atem ging schneller, seine Sinne fokussierten sich nur auf das Eine, auf das Ziel. Seine Umwelt nahm er nur noch am Rande wahr, als wenn sie in einer Schneekugel gekapselt wäre. Noch zehn Meter. Seine Hand packte den Gegenstand in seiner Tasche noch kräftiger, sodass seine Finger förmlich schmerzten. Er beschleunigte nochmals, brachte sich auf Angriffsgeschwindigkeit. Noch fünf Meter. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er zog seine rechte Hand aus der Tasche. Dazu musste er den Griff um den Gegenstand etwas lockern. „Verliere ihn bloß nicht“, ermahnte er sich selber. Alles gut. Er hob den Arm. Den Gegenstand nun wieder fest in der Hand umklammert, fixierte das Ziel, bewegte den Arm mit maximaler Geschwindigkeit Richtung Ziel und ließ den Gegenstand zum exakt richtigen Zeitpunkt los. So wie er es trainiert hatte, immer wieder. Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einem infernalischen Scheppern rief ihn zurück in die Realität. Er hatte die Scheibe mit dem Stein ziemlich genau in der Mitte getroffen. Die Aufschlaggeschwindigkeit und das Gewicht waren völlig ausreichend gewesen. Der Stein hatte ein mehr als faustdickes Loch in die Scheibe geschlagen, die darauf gesplittert war und sich in unzählige Bestandteile zerlegt hatte, deren Kontakt mit dem Boden das Scheppern verursacht hatte.
„Nichts wie weg!“, sagte er zu sich selbst, drehte sich nach rechts und rannte, so schnell er konnte. Er nahm den ersten Abzweig, den er erreichte, es ging nach rechts, aber die Richtung war ihm egal. Er wollte nur aus dem Sichtfeld des Tatorts heraus. Was ihm gelang, auf dem Weg, den er sich vorher ausgeguckt hatte. So wie der Meister es ihm empfohlen hatte. Noch ein kurzer Sprint in den nächsten Abzweig nach links, dann verlangsamte er sein Tempo. Er war weit genug weg, drehte sich sicherheitshalber nochmals um, um festzustellen, ob er verfolgt wurde. Nein. Dann galt es nun nur noch nicht aufzufallen. Erst jetzt registrierte er, dass sein kleines Herz scheinbar bis zum Hals schlug. Doch das beruhigte sich schnell, der Blutdruck sank mit jedem Schritt. Genauso wie sein Stolz mit jedem Meter wuchs, den er sich mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht weiter vom Tatort entfernte. „Gut!“ Es war nur eine kleine Aufgabe gewesen. Aber er hatte die Mission erfolgreich abgeschlossen, sich als verlässliches Mitglied der Gemeinschaft gezeigt und sich für weitere Missionen empfohlen.
22.
„Es hatte doch so ausgesehen, als wäre alles glattgelaufen“, dachte er sich. Kurz nach dem geplanten Termin des Anschlags waren zwei positive Rückmeldungen gekommen. Beide Assassinen hatten übereinstimmend gemeldet, dass der Club vorschriftsmäßig zerstört wurde. Na ja. Vorschriftsmäßig ist vielleicht nicht das ideale präzisierende Adjektiv für eine Zerstörung. „Ein Spaziergang“, „überraschend einfach“ und „hat Spaß gemacht“ waren andere Teile der Vollzugsmeldungen, die er erhalten hatte. Soweit so gut. Wenn da nicht die fehlende, dritte Rückmeldung wäre. Auch der Novize, Marc Johann war der Name, wenn er sich recht erinnerte, hätte eine Rückmeldung geben sollen. Hatte er aber nicht, jedenfalls bis jetzt nicht. Und einfach vergessen hatte der Junge das bestimmt nicht. Denn natürlich hatte er schon nachgehakt. Immerhin war der Überfall jetzt schon mehr als drei Tage her. Und schon vorgestern hatte er versucht, Kontakt mit dem Jungen aufzunehmen. Doch das Ergebnis war das Gleiche wie gestern und heute. Nichts. Der Junge hatte einfach nicht reagiert. Obwohl er ihn über alle ihm zur Verfügung stehenden Kanäle angefunkt hatte. Eigentlich war das unvorsichtig gewesen. Aber der Meister brauchte Klarheit. „Was konnte passiert sein?“, fragte er sich, spielte immer wieder alle ihm erdenklichen Szenarien durch. Er hatte zwischenzeitlich auch mittels aller ihm verfügbarer Medien und Wege recherchiert und keine diesbezüglichen Meldungen gefunden. Zuerst war er nur wütend, anfänglich auf den Jungen, ob seiner Fahrlässigkeit in puncto Kommunikation, dann auf sich selbst, weil er Zeit, viel Zeit für die Recherchen verschwendete, ohne den geringsten Hinweis zu finden. Dann fing er an, sich Sorgen zu machen. Zuerst nur um den Jungen. Was, wenn er verletzt oder gefangen war? Dann über die Auswirkungen auf sein Geschäft. Was, wenn er redete? Was wusste er? Was konnte er verraten? Plötzlich wechselte die Sorge zu Panik. Denn ihm war etwas aufgefallen. Er hatte nicht nur nichts über den Jungen finden können, nein, der gesamte Überfall war nirgends erwähnt worden. So, als hätte er nie stattgefunden. Unmöglich. Seine Gefolgsleute waren zuverlässig, würden nie lügen. Doch heutzutage wurde doch über alles berichtet. Jeder Einsatz von Polizei, Feuerwehr oder anderen Einheiten tauchte irgendwo auf. Es sei denn, es hätte gar keinen Einsatz gegeben. Aber ein brachialer Überfall auf einen renommierten Club. Wenn da die Alarmglocken läuten, ist doch auch die Journaille gleich vor Ort. Es sei denn, die Glocken hätten gar nicht geläutet. Vielleicht waren die Einsatzkräfte nie alarmiert worden. Aber warum nicht? Keine Polizei, keine Schadenmeldung an die Versicherung, kein Schadenersatz. Wer …? Die Panik schwoll an.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit flogen seine Finger über die Tasten, sein Blick wechselte ständig zwischen Bildschirm und Tastatur. Und mit jeder Website, die er aufrief, wuchsen Panik und Gewissheit. Die Gewissheit, dass die Panik zu Recht vorhanden war. Es hatte keine zehn Minuten gedauert und er wusste, was er besser schon vorher recherchiert hätte. Bevor er den Auftrag für den Überfall angenommen hatte. Jetzt konnte er sich vorstellen, was dem Jungen passiert sein könnte. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie ihn nicht lebend gefangen hatten. Er konnte aufhören nach dem Jungen zu suchen. Und er musste prüfen, dass es wirklich keine Spuren zu ihm und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gab. Und ab jetzt musste er vorsichtiger sein, die Aufträge kritischer prüfen. „Noch mehr Arbeit“, stöhnte er vor sich hin.
23.
„Das Darknet ist so etwas wie der Wilde Westen des Internets“, erklärte Kommissar Marten seinen beiden Kollegen. „Eigentlich funktioniert es genauso, wie das gewöhnliche Internet, nur ist im Darknet die Anonymität noch größer.“
„Aber wir hatten doch im Fatebug-Fall schon hauptsächlich mit der Anonymität der Nutzer in den Netzwerken zu kämpfen. Geht es denn noch schlimmer?“, fragte Hauptkommissar Strecker.
„Leider ja“, erwiderte Marten. „Im gewöhnlichen Internet können sich zwar Nutzer von Anwendungen, wie Facebook, Google und Co., auch anonyme Profile anlegen und diese zur Verschleierung ihrer Identität nutzen, aber immerhin kennen die Anbieter der Netzwerke die technische Identität des Nutzers. Das ist seine sogenannte IP-Adresse, eine eindeutige Kennung eines technischen Zugangspunktes des jeweiligen Nutzers zum Internet. Und diese IP-Adresse kann man einem physikalischen Ort zuordnen, einem Netzwerkzugang, sei es ein Router oder eine sonstige technische Einheit. Da die Besitzer dieser Einheiten offiziell oder den Dienstleistern bekannt sind, besteht zumindest aus kriminalistischer Sicht ein Ansatz für die Ermittlung des jeweiligen Nutzers. Schwierig wird es natürlich, wenn der Zugang öffentlich ist, deshalb haben wir uns auch nicht über die Öffnung vieler WLAN-Zugänge als sogenannte Hotspots gefreut, über die viele Nutzer gleichzeitig über eine IP-Adresse in das Internet gehen. Aber zumindest besteht auch hier die Möglichkeit, sich die Gerätenummern zu beschaffen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt den Hotspot benutzt haben. Die sozialen Netzwerke kann man prinzipiell mit so einem Hotspot vergleichen. Da hat nur der Netzwerkanbieter die Informationen, über welche IP-Adresse welches Profil angelegt wurde.
Das Problem im Fatebug-Fall war, dass sich die Netzwerkanbieter geweigert hatten, uns die bei ihnen gespeicherten Daten zur Verfügung zu stellen. Vereinfacht dargestellt, kommunizieren im Internet immer zwei IP-Adressen über eine, für die Dauer der Kommunikation stabile Verbindung miteinander. Oder plastischer beschrieben, gibt es einen, die beiden Kommunikationspartner direkt verbindenden Draht. Peer to Peer nennen die Spezialisten das. Im Darknet ist das insofern anders, als dass dieser Kommunikationskanal nicht direkt ist, sondern die Verbindung wird über unterschiedliche Einrichtungen, mit jeweils eigenen IP-Adressen aufgebaut. Es gibt also keine direkte Leitung, sondern mehrere Stücke, die nur zusammengestöpselt die Verbindung zwischen den beiden Kommunikationspartnern möglich machen. Eine Verbindung besteht also aus mehreren Teilstrecken und über jeden Knoten sind mehrere User mit jeweils eigenen IP-Adressen und eigenen Zieladressen eingeloggt, sodass es sehr aufwendig ist, das Ziel eines verdächtigen Nutzers zu finden.
Und perfiderweise haben wir dafür auch nicht viel Zeit, weil das System die Teilstrecken, über welche die Verbindung letztlich hergestellt wird, immer wieder neu zusammensetzt. Fazit: Eine Ermittlung der Zieladresse, mit der unser Verdächtiger kommuniziert, ist faktisch kaum möglich.
Um diese verschleierten Kommunikationsmöglichkeiten nutzen zu können, müssen die Nutzer spezielle Browser einsetzen. Der bekannteste dieser Browser heißt TOR. Ach ja, natürlich wird auch die gesamte Kommunikation verschlüsselt, sodass ein Mitlesen ebenfalls nicht möglich ist. Eine weitere Besonderheit des Darknet ist die Intransparenz der Inhalte. Für das gewöhnliche Internet gibt es ja Suchmaschinen, wie Google oder Bing. Diese erstellen automatisch ein Verzeichnis anhand dessen man Inhalte, die einen interessieren finden und anspringen kann. Dadurch hat man eine Art Navigationssystem, das dem Nutzer hilft, seine potenziellen Ziele zu finden. Die Suchmaschinen erstellen eine Art dynamische Landkarte, anhand derer der Nutzer sich einen Überblick über den Inhalt des Netzes zu einem Thema verschaffen kann. Eine derartige komfortable Unterstützung gibt es im Darknet nicht. Die meisten Inhalte des Darknets sind selbst von den speziellen Suchmaschinen nicht zu finden. Der Nutzer muss eigenständig zum Ziel fahren, das heißt er muss den Weg zum Ziel selber kennen. Wer den Weg nicht kennt, findet das Ziel bestenfalls zufällig. Und in Anbetracht der Millionen von Seiten im Darknet, ist die Wahrscheinlichkeit des glücklichen Zufalls nahezu null. Daher weiß auch niemand, was so alles im Darknet publiziert und angeboten wird. Man weiß, dass es alles gibt: Drogen, Waffen, Kinderpornografie, Menschenhandel, Hehlerware, aber in welchem Umfang, das wissen wir nicht.“
„Aber wie finden die Interessenten denn die Inhalte?“, fragte Frau Garber nach. „Die haben doch auch, zumindest am Anfang, das Problem, dass sie vor einem Universum von Möglichkeiten stehen und nicht wissen, wo sie hinmüssen.“
„Ganz archaisch“, antwortete der Experte. „Einerseits über Flüsterpropaganda. Innerhalb der Interessengruppen gibt es Bekanntschaften, in der Regel natürlich nur über ihre Avatare, wo der eine dem anderen Tipps oder Empfehlungen gibt. Darüber hinaus gibt es Chatgruppen, Foren und sogar Marktplätze für bestimmte Güter. Wenn man einmal drin ist, ist es einfach. Deshalb ist eine der klassischen Ermittlungsmethoden auch hier die Einschleusung von V-Leuten oder einfach mitzuspielen, sich also als Käufer für bestimmte Artikel auszugeben.“
„Aber irgendwann muss doch Ware geliefert und bezahlt werden?“, hakte die Hauptkommissarin nach.
„Hier kommen Kryptowährungen, wie Bitcoin und Treuhandbörsen in das Spiel“, erläuterte Kommissar Marten. „Der Käufer kauft, hinterlegt einen bestimmten Betrag in einer Kryptowährung beim Treuhänder, der das Geld erst für den Käufer freigibt, sobald der Käufer die Ware erhalten hat. Die eigentliche Lieferung erfolgt über den Postweg. Um Zufallsfunde oder Pannen bei der Übergabe an den Käufer zu minimieren, kommen vermehrt auch Paketboxen in das Spiel, in die der Verkäufer liefern lässt und aus denen sich der Käufer die Ware später abholt.“
„Und was hat das konkret mit unserem Fall zu tun?“, wollte Strecker nun wissen.
Kommissar Marten hatte Mühe seine Verwunderung in den Griff zu bekommen. Ein Stirnrunzeln konnte er angesichts der aus seiner Sicht naiv anmutenden Frage nicht vermeiden. Immerhin gelang es ihm ruhig und sachlich zu antworten. „Nun der Führer der Gruppe nutzt das Darknet für die Steuerung der Mitglieder. Er hinterlässt Nachrichten für die Mitglieder in im Darknet hinterlegten Dateien. Auch die Chaträume dort nutzt er. Wir haben zwar keine dieser Dateien gefunden, da er sie offenbar recht kurzfristig wieder löscht, wissen aber durch die auf dem Computer des verschwundenen Jungen gefundenen Informationen, dass sie existiert haben müssen. Was wir nicht wissen, aber vermuten, ist, dass er auch mit den Kunden der Gemeinschaft über das Darknet kommuniziert. Wahrscheinlich irgendwo über einen Shop seine Leistungen anbietet, Aufträge erhält und wahrscheinlich auch den Zahlungsverkehr abwickelt.“
„Fragen?“, hakte Kommissar Marten nach, „Wenn nicht, schlage ich vor, dass wir eine kurze Pause machen und uns danach über das Thema Computerspiel unterhalten.“ Als von seinen beiden Zuhörern nur Schweigen als Antwort kam, stand er auf und sagte: „Dann machen wir jetzt 15 Minuten Pause“ und verließ das Büro.
24.
„Du bist verrückt! Das ist doch Wahnsinn!“
„Nur weil es schwierig scheint, können wir das Naheliegende nicht sein lassen!“
„Aber beim BKA einbrechen“, setzte Boris mit einem ungläubigen Kopfschütteln fort. „Wie sollen wir das denn bewerkstelligen? Die hocken doch in einer Festung, die sind doch gegen alles abgesichert.“
Boris war der operative Chef der russischen Mafia in der Bundesrepublik. Er war zuständig für die Verwaltung der Finanzen, die Führung der laufenden Geschäfte und für das Personal. Seine Aufgaben- und Machtfülle war immens. Verglich man die Mafia mit einem normalen Konzern, war er CFO, COO und HR-Leiter in Personalunion. Und das immerhin in einer Organisation mit mehreren tausend Mitarbeitern. Und da er diese Aufgaben schon seit einigen Jahren erfolgreich meisterte, in einer Organisation, die Fehler nicht tolerierte, war man gut beraten, seine Meinung ernst zu nehmen.
Der Consultant wusste das. Er schätzte den kleinen, korpulenten Mann. Boris war höchstens 1,65 Meter groß, brachte dafür aber wahrscheinlich um die 100 Kilo auf die Waage. Da sich die Mehrheit seiner Kilos in Hüfthöhe befand und dann nach unten wie oben abnahm, drängte sich das Bild einer Kugel förmlich auf. Nein, zwei Kugeln, denn auf der größeren unteren Kugel jonglierte er eine zweite kleinere, mit einem kleinen, mit erstaunlich vollen Lippen umrahmten Mund, einer kleinen, spitz zulaufenden Nase und zwei ebenfalls kleinen, wachen, braunen Augen. Seine erstaunlich buschigen, tiefschwarzen Augenbrauen konnten das fehlende Haupthaar über seiner hohen Stirn allerdings nicht kompensieren. Nur an den Seiten des Kopfes sprossen noch Haare, allerdings in zunehmendem Grau, das seine ehemals pechschwarzen Haare mehr und mehr verdrängte.