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1954 heiratete ich meine Sissi. Amtlich Sigrid, nannten sie ihre Eltern »Sissi«, und so habe ich nicht nur ihre Tochter übernommen, sondern auch den Kosenamen. Bis zu ihrem Tod 2017, nach langer schwerer Krankheit, war sie meine Frau, und auch das Pflegepersonal des Heimes, wo sie lange Jahre ans Bett gefesselt lebte, nannte sie so; ich war jeden Nachmittag bei ihr. Unser Sohn Udo war bereits 2009 gestorben.
Als wir am 23. Oktober 1954 heirateten, wohnte ich bei ihren Eltern und schlief auf dem Sofa. Wir hatten ein herzliches Verhältnis zueinander. Die Wohnung befand sich in einem Haus aus den dreißiger Jahren und bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Toilette. Es waren kleine Räume, und jeweils drei Mietparteien hatten im Keller ein gemeinsames Badezimmer mit Kohleofen.
Sissi arbeitete als Feinmechanikerin in den Chemischen Werken Buna, wo sie diesen Beruf auch erlernt hatte.
Es war schwer, eine eigene Wohnung zu bekommen. Aber in den Chemischen Werken Buna wurde 1954 eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) gegründet, in welcher jeder im Werk Beschäftigte eintreten konnte. Es gab Standorte, also Baugebiete in Halle, Schkopau und Merseburg. Es konnte sich jeder für »seine« Wohnung eintragen lassen, also nicht schlechthin für eine Wohnung. Dafür musste er eine von der Mitgliederversammlung beschlossene Geldsumme einzahlen und eine festgelegte Zahl von Arbeitsstunden leisten. Diese Leistungen waren abhängig von der Wohnungsgröße und von der Lage der Wohnung im Gebäude. Es kam nicht auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit an, man konnte auch dort anfangen zu arbeiten und sich am nächsten Tag bei der AWG anmelden.
Jede Wohnung hatte einen Balkon, ein Badezimmer mit Kohleofen und Toilette, im Wohnzimmer Parkettfußboden, im Kinderzimmer und im Wohnzimmer einen Kachelofen. Es waren herrliche Wohnungen, und da alle im Werk beschäftigt waren, kannte man sich in der AWG auch untereinander.
Wir mussten für unsere Wunschwohnung – drei Zimmer, Küche und Bad – 2.500 Mark einzahlen und 250 Arbeitsstunden leisten: beim Ausschachten von Fundamenten oder beim Abladen von Materialien. Alle benötigten Materialien wurden vom Werk geliefert, auch die Baubrigaden und der Bauleiter kamen aus dem Werk. Unser Vorstand Reinhold Voigt war der unermüdliche Motor auf der Baustelle »Am Rosengarten«, es handelte sich um die Jahre 1954 bis 1957. Wir kannten ein Paar, die Modelleisenbahner waren und sich für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen ließen, obwohl sie keine Kinder hatten. Gegenüber unserer Wohnung hatte sich eine Familie für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen lassen, weil sie Platz für zwei große Hunde benötigte. Das waren Chow-Chow, und aus deren Wolle wurden Pullover gestrickt. Alles war nur eine Frage des Geldes und der zu leistenden Arbeitsstunden.
Für die meisten war die zu zahlende Geldsumme kein Problem, Jeder hatte Arbeit, auch die meisten Ehefrauen arbeiteten im Werk, und damals galt das Gesetz: »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Auch die zu leistenden Arbeitsstunden waren meistens kein Problem, da viele im Drei-Schicht-System arbeiteten und so immer planbare Zeit hatten. Die Angestellten der Verwaltung hatten es noch besser.
Bei Sissi und mir war das Geld auch erschwinglich, obwohl ich nur 560 Mark als Kriminalmeister bekam. Unser Problem allerdings waren die Arbeitsstunden: Ich kam aufgrund der vielen Überstunden immer erst spät und dann auch noch im Dunklen in der Wohnung der Schwiegereltern an. Und so war die zu leistende Arbeit für uns ein echtes Problem, sie konnten auch nicht mit Geld abgegolten werden. Eines Tages kam Sissi aus dem Werk nach Hause und erzählte, dass ihre Brigade für uns Arbeitsstunden leisten würde. Und tatsächlich kamen am Samstag und Sonntag acht bis zehn Männer ihrer Brigade unter Leitung des damals sechzigjährigen Obermeisters Knauthe und leisteten für uns Arbeitsstunden. Ich war wie immer mit Überstunden im Dienst unabkömmlich, und so konnten wir uns nur dadurch bedanken, dass Sissi Bratwürste grillte. Uns war meine Abwesenheit sehr unangenehm, aber alle hatten Verständnis für meine Situation. Damals half jeder jedem.
Am 1. Oktober 1957 erhielten wir unsere Wohnung in der Bunasiedlung »Rosengarten«. Die Freude war groß. Schon die Übergabe der leeren Wohnung feierten wir gemeinsam mit den neuen Bewohnern unseres Wohnblockes in der Emil-Fischer-Straße. In der AWG trugen alle Straßen Namen von bedeutenden Chemikern.
In dieser Wohnung wohnten wir bis zu unserem Umzug nach Berlin. In Berlin erhielten wir auch eine Neubauwohnung in der Höchste Straße im Stadtzentrum. Die Wohnung war räumlich größer, aber ich erinnere mich auch heute noch gern an unsere Wohnung in der AWG, an die Jahre des Baues und des Zusammenlebens.
Fast hätte ich vergessen, dass es in dieser AWG ein Klubhaus gab. Natürlich mit Getränkeausschank in den Abendstunden und einem kleinen Imbissangebot. Dort konnten auch Zusammenkünfte bei Familienfeiern abgehalten werden. Das Tollste aber war der Waschsalon im Keller des Gebäudes: Dort standen elektrische Waschmaschinen. Jedes Mitglied der AWG konnte sich dort für die Benutzung einer Waschmaschine einen Termin geben lassen, ging dann mit seiner Schmutzwäsche dorthin, wusch und trocknete sie und ging dann nach zweieinhalb Stunden mit der trockenen Wäsche unterm Arm wieder in seine Wohnung. Heute mag das alles nach Mittelalter klingen, aber für die damalige Zeit war es eine ungeheure Erleichterung. Wir zahlten 38,00 Mark monatlich an Miete.
Später hatten wir eine Waschmaschine in der Wohnung und eine Wäscheschleuder. Diese stand auf einem luftgefüllten Gummiring und das Wasser lief unten heraus. Man trocknete dann die Wäsche im Bad mit Standtrocknern, wie sie auch heute noch gebräuchlich sind oder hatte sich nach eigener Erfindung Wäscheleinen im Bad gespannt. Das war bei uns auch noch so, nachdem wir im Herbst 1969 in unsere Berliner Wohnung umgezogen waren.
Lehrgang an der Kriminalschule Arnsdorf / Dienst in Halle (Saale)
Gerade als ich dachte, ich sei ein richtiger Kriminalist, ich hatte ja schließlich einen Dienstausweis als Kriminalmeister, eine Kriminalmarke sowie eine Pistole, wurde ich zu einem Lehrgang an die Kriminalschule Arnsdorf bei Dresden delegiert, an die »Volkspolizeischule für Kriminalistik«.
Es war ein Drei-Monats-Lehrgang. Wir erhielten lediglich einmal monatlich von Freitagmittag bis Montagmittag Urlaub in die Heimat, allerdings hatten wir Ausgang nach Arnsdorf oder nach Dresden.
Heute kann ich sagen, dass diese drei Monate in meinem fast vierzigjährigen Leben als Kriminalist die angenehmste Zeit waren. Der Unterricht war nicht allzu anstrengend und vor allem gab es keine Überstunden. Es war richtig erholsam.
Die Schule war in zwei mehrstöckigen Gebäuden untergebracht, in einem Gelände mit Wiesen und hohen alten Bäumen. Neben den Gebäuden der Polizeischule gab es noch andere Gebäude, die von einer medizinischen Fachschule belegt waren. Uns wurde eingeschärft, die dortigen Schwesternschülerinnen zu meiden. Diese Anweisung erwies sich sehr bald als ein Schuss in den Ofen: Einer unserer Kriminalisten wusste, dass die Gebäude durch einen Kellergang noch aus Kriegszeiten verbunden waren, und so kam es des Öfteren zu Zusammenkünften mit den Schülerinnen. Wie immer im Leben hatte die Umgehung von Verboten und Unerwünschtem einen direkten Reiz. Dieser Kellergang war das Geheimnis aller Kriminalisten und sicherlich auch der meisten Schwesternschülerinnen.
Am ersten Unterrichtstag lasen wir an der großen Wandtafel einen Spruch, der viel Heiterkeit auslöste, und so heiter und auch unernst verlief dann der Unterricht:
Das Bürgerliche Gesetzbuch, kurz genannt das BGB,
wer damit zu tun bekommt, dem tut es meistens weh;
er ist nämlich verpflichtet in Schadensfällen,
den alten Zustand wiederherzustellen.
Wie verhält es sich aber mit einem Radfahrer, der es eilig hat
und er saust so durch die Straßen seiner Stadt
und achtet seines Weges nicht genau
und fährt doch gegen eine Frau,
die in dem Zustand sich befindet,
der Hoffnung auf ein Kind begründet.
Und vor ihr mit diesem Schreck
geht die Kindeshoffnung weg.
Wie verhält es sich nun laut Gesetz?
Ist der Betreffende verpflichtet in Schadensfällen
den alten Zustand wiederherzustellen?
Natürlich waren wir alle für Wiederherstellung …
Als wir erstmalig Heimurlaub hatten, trafen wir auf dem Bahnhof in Dresden eine unserer Dozentinnen. Sie fuhr im selben Zug, und im Gespräch erfuhren wir, dass sie auch mit dem gleichen Zug wie wir zur Schule zurückfahren musste. Sie versprach Plätze freizuhalten und siehe da, als der Zug in Halle hielt, hatte sie ihr Versprechen gehalten und so plauderten wir bis Dresden. Sie ist mir aber noch aus anderem Grund in Erinnerung: Sie war vom Dienstgrad Major und hieß Marschall. Durch ihren freundlichen, aber doch fordernden Umgang mit uns war sie allgemein sehr beliebt. Später in meinen vielen Dienstjahren habe ich allerdings nichts mehr von Majorin Marschall gehört.
Die drei Lehrgangs-Monate waren schnell vorbei und wir reisten wieder in unsere Dienststellen zurück. Und so kam ich wieder in die Untersuchungsabteilung der Kriminalpolizei Halle und hatte wieder zu kämpfen, um meinen Aktenbestand auf maximal zwanzig zu bekommen.
Über meine Dienstjahre in Halle zu schreiben, ohne zu erwähnen, dass es in dieser Stadt eine tausendjährige Tradition des Salzsiedens gab und mit vielen überlieferten Bräuchen wie Fahnenschwenken, Brautgeleit, Fischerstechen, Laternenfest und ein Salzwirkermuseum mit Dutzenden Silbergefäßen wäre unvollständig. In der Stadt gibt es noch heute die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands mit den berühmten Hallorenkugeln. Jährlich nahmen viele Tausende am Laternenfest auf der Saale teil, mit hunderten laternengeschmückten Booten, vom Ruderboot bis zum Ausflugsdampfer. Einen tollen Ausblick auf das Spektakel hat man von der Burg Giebichenstein aus, von der man zur Saale hinabsehen kann. Von den Mauern der Burg, so die örtliche Legende, soll sich auch Ludwig der Springer gestürzt haben, als er vor seiner Hinrichtung floh. Seinen Mantel habe er wie einen Fallschirm aufgespannt – allerdings erwähnt die Sage nichts darüber, ob Ludwig sein waghalsiges Manöver überlebt hat. Vielleicht war er ja Vorläufer und Anreger all jener, die sich heute als »Basejumper« mit Fallschirmen von Felsen, Brücken oder Türmen stürzen.
Es soll aber noch ein damals allen Hallensern vertrautes Original erwähnt werden: ein Straßenmusikant namens Zither-Reinhold. Er saß bei jedem Wetter in irgendeiner Ecke des Marktplatzes auf einem alten Kissen und klimperte auf seiner Zither. Er klimperte irgendwas, niemals ein richtiges Lied. Er gehörte zur Stadt wie der Turm auf dem Marktplatz. Niemand wusste, wie er hieß und wo er wohnte. Aber es fiel sofort auf, wenn er nicht klimperte, weil er sich verspätet hatte. Er starb 1964, und die ganze Stadt trauerte um ihn. Sie verlor mit ihm ein wahrhaftiges Faktotum.
Und es gab auch in der Nähe des Stadttheaters eine Gaststätte mit dem ulkigen Namen »Zum Sargdeckel«. An der Decke des Gastraumes hing ein echter Sargdeckel. Er war, so wurde vermutet, als Zahlungsmittel in die Gaststätte gekommen. Im Gastraum standen schwere Holztische und Stühle. In die Tischplatte des Stammtisches wurden die Todesdaten und der Name des verstorbenen Stammgastes eingeschnitzt. Kein Gast, der nicht Stammgast war, setzte sich an diesen Tisch. Das haben ja Stammtische auch heute noch als Privileg. Die Gaststätte fiel nach der Wende ihrem Alter und ihrer Gebrechlichkeit zum Opfer und wurde abgerissen.
Beginn in der MUK / Mord durch Sowjetsoldaten
Eines Tages fragte mich auf dem Korridor eine Kriminalistin: »Hans, hast du Zeit? Kannst Du mir bei den Ermittlungen helfen?« Natürlich hatte ich Zeit, Ruthchen zu helfen. So fuhr ich mit ihr in einem klapprigen F9-Kübelwagen los, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Sie erklärte mir unterwegs sinngemäß, dass wir die Zigeunerin Sonja festnehmen müssten, gegen die ein Haftbefehl zu vollstrecken war. Sie erklärte mir auch, wo Sonja zu finden sei und dass wir vor jeder Handlung erst mit dem Familienvorstand, dem »Zigeunerbaron« sprechen müssten, um keinen Ärger mit der Sonjas Familie zu bekommen. Den trafen wir auch im Winterquartier des Familienclans. Er hörte Ruthchen an und rief irgendetwas in den Raum, und nach einigen Minuten kam die von uns Gesuchte, die er uns als Sonja vorstellte und uns übergab. So fuhren wir mit ihr davon. Ich begleitete Ruthchen noch in die Untersuchungshaftanstalt Halle, wo wir Sonja ablieferten. Für mich war damit der Einsatz beendet.
Nach einer Woche schallte lautes Gelächter durch den Korridor, in der die Untersuchungsabteilung ihr Zimmer hatte. Was war geschehen? Sonja hatte in einer Vernehmung bei Ruthchen behauptet, sie sei nicht die Gesuchte. Es war nicht zum Lachen. Der »Zigeunerbaron« hatte uns ein Mädchen mitgegeben, welches nun behauptete, nicht Sonja zu sein. Es konnte nicht geklärt werden, wer nun wer war, und zur Vermeidung weiteren Ärgers musste die junge Frau aus der Haft entlassen werden.
Aber wochenlang lachten alle über Ruthchen und mich. Es beruhigte sich aber wieder, weil es ja jedem anderen Kriminalisten auch hätte passieren können.
Der Tagesablauf war in erster Linie durch unaufhörlich eingehende Untersuchungsarbeit ausgefüllt. Einmal wöchentlich war Zeitungsschau für alle Kriminalisten. Ein vorher bestimmter Kriminalist musste sie abhalten, und da wir keinen Versammlungsraum hatten, ging gegen 7.30 Uhr jeder mit seinem Stuhl in den Korridor, nahm Platz und ließ alles über sich ergehen. Ich weiß nicht mehr, warum diese Zeitungsschau durchgeführt wurde, es kann sein, dass nicht alle eine Zeitung bestellt hatten oder dass Papiermangel der Grund war. Dieser Termin wurde nicht sonderlich ernst genommen, fand aber regelmäßig statt.
Auch Parteiversammlungen wurden natürlich durchgeführt, aber alles in allem war der Tagesablauf durch die kriminalistische Arbeit ausgefüllt und für politische Gespräche war eigentlich keine Zeit. Die meisten Ermittlungen im Gebiet der Stadt Halle wurden zu Fuß oder mit der Straßenbahn erledigt. Nur bei Ermittlungen im Saalkreis stand ein Motorrad zur Verfügung. Alles war durch Sparsamkeit geprägt, die aber nicht besonders durch die Dienstvorgesetzten erzwungen werden musste, es war einfach nichts da. Wir hatten meist zu zweit eine Schreibmaschine. Ich schrieb auf einer uralten englischen »Remington«, und so war bei der Planung der Vorladungen immer mit abzusprechen, wann eine Schreibmaschine frei war. Es hatte auch nicht jeder ein Strafgesetzbuch, aber an das Ausleihen von Schreibmaschine und Gesetzbuch war man schnell gewöhnt. Als wir einmal unseren Schrank abrückten, weil wir das Zimmer renovieren wollten, lasen wir erstaunt auf der Rückseite den großen Stempel »Gestapoleitstelle Halle«. Er ließ sich auch nicht beseitigen, so blieb er halt dran, wurde übermalt und der Schrank wieder mit der Rückseite an die Wand gestellt.
Die Untersuchungsabteilung war etwa zwanzig Frauen und Männer stark, jeder half jedem, nur so war alles zu bewältigen. Es gab aber nicht nur junge Menschen, sondern auch ältere, welche schon den Krieg miterlebt hatten.
Einer dieser Älteren ist mir noch in besonderer Erinnerung. Er war Oberleutnant und bei allen als Bastler an alten Autos und Motorrädern bekannt. Wenn man mit ihm den so genannten Kriminaldauerdienst, also die Nachtschicht, zu verrichten hatte, meldete er sich bei seinem Mitstreiter, wenn sich die Stadt beruhigte hatte, so meist nach Mitternacht, unter Bekanntgabe einer Telefonnummer ab. »Ich fahre in die Bereitschaft, ruf an, wenn du mich brauchst«; und da der Dauerdienst den alten klapprigen F9-Kübelwagen hatte, fuhr er weg und kam früh gegen 7.00 Uhr wieder, da ja die Nachtschicht übergeben werden musste. Alle wussten, dass er an einem Auto bastelte. Es wurden auch Kontrollanrufe getätigt, aber alles lief problemlos.
Eines Tages war er mit dem Auto, einem alten, nun durch ihn aufgemotzten F9 fertig und so kam er fortan mit diesem Wagen von seinem Wohnort zum Präsidium gefahren. Eines Tages, es muss etwa 1955 oder 1956 gewesen sein, wurde zu einer außerordentlichen Parteiversammlung aufgerufen, welche am gleichen Tag durchgeführt werden sollte. Niemand wusste, worum es gehen sollte, alles war sehr geheimnisvoll. Im Raum waren Zivilisten, die niemand kannte. Es wurde gemunkelt und vermutet, dass sie von der Stadtleitung sein könnten. Was die Stadtleitung aber mit der Kriminalpolizei zu tun haben sollte, wussten wir nicht und so war überall Unruhe und Rätselraten im Raum.
Bei der Eröffnung der Parteiversammlung wurde bekannt, dass gegen den Autobastler, also Oberleutnant S., wegen nichtsozialistischen Verhaltens sowie des Versuchs der Restaurierung des Kapitalismus ein Parteiverfahren durchgeführt wird, mit dem Ziel, ihn aus der Partei auszuschließen und aus den Reihen der Volkspolizei auszustoßen. Alle waren verwundert, niemand wusste, was mit dem Vorwurf gemeint sein könnte. Das wurde erst in der Diskussion klar, die eigentlich keine war, weil vorbestimmte Redner nur immer den Vorwurf wiederholten.
Der Teilnehmerkreis dieser Versammlung umfasste auch andere Abteilungen des VPKA, und so waren es fünfzig bis sechzig Anwesende. Nachdem der Ausschluss aus der Partei und der Ausstoß aus der Volkspolizei gefordert waren, meldete sich »Glöckchen« zu Wort. »Glöckchen« war bei uns in der Untersuchungsabteilung tätig. Alle wussten, dass er zwölf Jahre Haft und Konzentrationslager hinter sich hatte. Er war in der Zeit des Faschismus als Mitarbeiter der Halleschen Zeitung Die Freiheit im Untergrund tätig, und »Glöckchen« war sein Deckname. Er begann mit den Worten: »Nachdem nun lange genug Holz auf dem Rücken des Genossen S. gehackt wurde, will ich euch etwas erzählen, was offensichtlich auch bei der Stadtleitung nicht bekannt ist«: Und mit einer Tonart, die ich als drohend empfand, fuhr er fort: »Euch, die ihr im Krieg wart, will ich nicht fragen, was ihr im Krieg gemacht habt. Aber, was er gemacht hat, das will ich euch jetzt erzählen.«
Im Saal war es ganz still. »Oberleutnant S. war als 18-Jähriger in die faschistische Wehrmacht eingezogen worden und hatte, als in der Sowjetunion noch gesiegt wurde, wenige Tage Heimaturlaub bekommen. In seinem Heimatdorf sah er eine Kolonne weiblicher Häftlinge zur Arbeit in einen Tagebau schlurfen. Er beschloss, eines dieser Mädchen zu befreien. Er schaffte das auch und seine Eltern versteckten das Mädchen bis zum Kriegsende. Welche Strafen seitens der Nazis für seine Eltern und für ihn zu erwarten waren, wisst ihr alle selbst.« Und er wiederholte: »Was ihr Alten im Krieg gemacht habt, das will ich euch nicht fragen, aber was er gemacht hat, habe ich euch jetzt noch nicht zu Ende erzählt. Nach dem Krieg und nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft fand er dieses Mädchen noch bei seinen Eltern vor, heiratete sie, hat mit ihr drei Kinder. Wenn ihr ihn nun immer noch aus der Partei ausschließen wollt, könnt ihr gleich abstimmen. Ich stimme dagegen und wenn ich der einzige bin.« Es wurde nicht abgestimmt, auch der bereits gestellte Antrag nicht aufgehoben. Die Versammlung löste sich plötzlich ohne Schlusswort auf.
Und nicht erst heute, wo ich nun weit über das 80. Lebensjahr bin, schäme ich mich dafür, dass ich mit für den Ausschluss dieses mutigen Mannes aus der Volkspolizei gestimmt hätte. Ich war, wie viele der anderen Kriminalisten, politisch zu unerfahren und wohl auch zu ängstlich, dem Antrag zu widersprechen, und noch immer bin ich sicher, dass wenn »Glöckchen« an diesem Tag gefehlt hätte, alle für den erhobenen Antrag gestimmt hätten.
Nach dieser Versammlung wurde nicht mehr öffentlich darüber gesprochen, und wenn, dann nur mit den engsten Freunden. Heute kann jeder sich fragen, was diese Versammlung zum Ziel hatte. Ging es um exemplarische Erziehung wegen des Autos, was er sich aufgebaut hatte und was nun als Rückkehr zum Kapitalismus verurteilt wurde? Sollte allen anderen die eventuell vorhandene Hoffnung auf ein Auto als parteifeindliche Handlung begreiflich werden oder war es Ausdruck der allgemeinen Linie der SED im Kampf gegen kapitalistische Anwandlungen zum Privatbesitz von irgendwelchen Gegenständen? Oder war es eine Warnung an alle anderen oder einfach nur eine überzogene Parteimaßnahme? Es fand keinerlei öffentliche Diskussion statt.
Und der Bastler, Oberleutnant S., wusste wohl auch nicht so richtig, was das alles sollte. Ich möchte auch heute noch annehmen, dass es eine Protesthaltung war, was er in den nächsten Wochen und Monaten tat. Ich glaubte damals und glaube es auch noch heute, dass die Bastelei an diesem alten Auto ihm einfach so eine Art Bedürfnis war. Ihn als Parteifeind einzuschätzen, war auch aus heutiger Sicht einfach Unsinn. Er begann nämlich wieder mit seinen nächtlichen Bastelausflügen in die VP-Bereitschaft. Und es funktionierte problemlos wie vor dieser Versammlung.
Als er irgendwann gefragt wurde, was er nun dort mache, kam die Antwort: »Ich baue einen Panzer«. Das rief nur allgemeines Unverständnis hervor. So fuhr er wieder monatelang zu seinem Panzer. Und so war es wirklich nicht verwunderlich, dass so mancher, wenn die Rede auf den Panzer kam, einen Finger an die Stirn führte. Wir alle glaubten nicht an den Bau eines Panzers, wir stritten aber auch nicht mit ihm herum.
Nach mehreren Monaten zeigte er von sich aus, ohne dass wir ihn provoziert hatten, ein Bild von einem Panzer. Das Bild hatte die Größe einer Postkarte und zeigte wirklich einen richtigen Panzer, mit Laufketten, einem Turm mit Kanone, eben einen richtigen Panzer. Er sah aus wie ein T-34, den wir ja alle irgendwo schon einmal gesehen hatten. Da aber außer dem Panzer nichts weiter abgebildet war, konnten wir uns keine Vorstellung von der Größe des Fahrzeugs machen. Die Meinungen gingen auseinander. Manche führten wieder den Finger an die Stirn und andere versuchten durch ein Fachgespräch weitere technische Dinge zu erfragen. Seine Antwort war aber immer: »Ich werde ihn mitbringen. Ich muss nur noch einen Lkw auftreiben, dann könnt ihr ihn anfassen«. Solche Gespräche endeten aber meist mit einem wehleidigen Lächeln.
Eines Tages kam ich vor Dienstbeginn über den Hallmarkt in Richtung des Präsidiums (unser Dienstgebäude hieß Präsidium, nicht VPKA) und sah vor dem Haupteingang etwas fünfzig bis hundert Menschen stehen. Sie bildeten eine richtige Traube und standen um einen kleinen Panzer herum. Alle diskutierten, manch einer rief: »Das gibt es doch gar nicht!« Aber es war Tatsache, der Panzer war zwar kleiner als der T-34. Ich drängelte mich nach vorn und sah nun unseren Panzerbauer, Oberleutnant S., dort stehen und irgendetwas erklären. Um ihn herum mehrere junge Männer in drillichfarbenen Kombinationen, und ich begriff, dass das sein Panzer war. Es war irgendwie verrückt, diesen kleinen T-34 zu sehen, es war aber unstrittig ein Panzer. Der Panzerbauer sah mich dann in der Menge und warf mir einen triumphierenden Blick zu. In unserem Dienstzimmer wurde an diesem Tag nicht gearbeitet, sondern nur diskutiert. Er ging in den Zimmern herum und genoss seinen Triumph.
Diese Geschichte ereignete sich 1958. In diesem Jahr fand in Halle eine Pionierparade statt und der Panzer fuhr im Demonstrationszug der Pioniere mit, auf seinen eigenen Ketten, und die Jungs von S. waren die Besatzung – einer war der Fahrer, die anderen beiden mussten laufen.
1961 wurde ich auf die Offiziersschule des MdI nach Aschersleben delegiert. Nach dem hektischen Dienst war das geregelte Leben in einer kasernierten Schule doch sehr erholsam, obwohl uns im Unterricht nichts geschenkt wurde. Warum auch sollte uns der Dienstplan, der uns quer durch die Kriminalistik führte, etwas schenken? Wir hatten alle schon mehrere Jahre Diensterfahrung in den unterschiedlichen Bereichen der Kriminalpolizei gesammelt, waren aber nicht zu alt. Die meisten waren in meinem Alter.
Ich hatte noch eine besondere Vergünstigung, um welche mich alle beneideten: Ich war immer noch Torwart in der Handballmannschaft von Dynamo Halle und wurde des Öfteren mit dem Mannschaftsbus abgeholt und wiedergebracht. So hatte ich mehr Freizeit als die anderen Studenten. Mit dem Eintritt in die Kriminalpolizei war ich seinerzeit auch zu Dynamo Halle gewechselt.
Wenige Wochen nur vor Beendigung des Lehrganges wurde mir angeboten, in die Morduntersuchungskommission der Bezirksbehörde Halle der Deutschen Volkspolizei zu wechseln. Ich war sehr erfreut über dieses Angebot. Damals war die Arbeit in einer Morduntersuchungskommission (MUK) von hohem Ansehen begleitet und die Arbeit in der MUK die Sehnsucht vieler Kriminalisten. Natürlich wusste ich nicht, was auf mich zukäme. Aber ich hatte das Angebot, den Traum aller Kriminalisten zu verwirklichen. Selbstverständlich sagte ich zu und begann am 1. März 1962 meinen Dienst in der MUK.