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Wir besahen die Leiche. Beidseitig am Hals waren deutliche Würgemale sichtbar. Offenbar war die Frau erwürgt worden. Am Kopf, im Gesicht, auf den Schultern und auch auf der Brustvorderseite sahen wir viele kleine Stichverletzungen, die aber nicht bluteten. Diese Stichverletzungen waren ihr also nach dem Todeseintritt zugefügt worden. Die Situation war irgendwie unwirklich. Keiner sprach ein Wort, der junge Mann weinte und schaute auf die Leiche.
Hauptmann Grothe sprach ihn an: »Haben Sie das getan?«, und der Mann nickte wortlos. Dann ermahnte er ihn »Sagen Sie Ja oder Nein, damit wir wissen, was hier geschehen ist und in welchem Zusammenhang Sie zu der getöteten Frau stehen«. Leise kam die Antwort: »Ja, das war ich«. Hauptmann Grothe gab beiden VP-Angehörigen die Weisung, den Mann ins VPKA zu bringen und dort unter Bewachung zu setzen. Vorher fotografierten wir noch seine verschmierten Hände. Dann waren wir mit der Leiche allein. Wir schüttelten beide mehrmals den Kopf. So etwas hatten wir noch nicht erlebt.
Unser Kriminaltechniker, Oberleutnant Hecht, ordnete seine Gerätschaften und begann mit der Fotografie und der Vermessung des Raumes. Er fand auch einen kleinen Hirschfänger mit einer Klingenlänge von sieben Zentimetern. Wir gingen in die Küche, um von der weinenden Frau zu erfahren, was sich ereignet hatte. Sie sprach unter Tränen und Schluchzen, die Tote sei ihre Tochter. Sie war an dem Tag mit ihrem Freund Lothar gekommen, sie habe beide allein gelassen. Dann sei der Freund zu ihr gekommen und habe ihr gesagt, dass er ihre Tochter ermordet habe und sie die Polizei rufen solle.
Sie wusste nicht, warum das alles geschehen war. Sie hatte ihre Tochter tot auf dem Bett liegen und die vielen Blumen gesehen und war dann weinend über die Straße zur Frauenklinik gelaufen, um die Polizei zu verständigen. Der Freund ihrer Tochter habe weinend im Schlafzimmer gestanden.
Sie weinte ununterbrochen. Ich ging zur Frauenklinik und forderte von dort einen Arzt, den Leichentransport und eine Krankenschwester zur Betreuung der Mutter an. Das Mobiltelefon war noch nicht erfunden und im Auto hatten wir kein Funkgerät. Der Tatort war schnell vermessen und fotografiert. Aus der Situation heraus gab es nicht viel zu tun.
Am nächsten Tag ging ich früh ins Institut für Gerichtliche Medizin, um an der Leichenöffnung teilzunehmen. Auch ein Staatsanwalt war gekommen. Die Ärzte stellten fest, dass die Frau durch beiderseitiges Würgen mit Bruch des Kehlkopfes und des Zungenbeines zu Tode gekommen war. Sie zählten 113 Messerstiche, welche nicht todesursächlich waren. Diese waren ihr erst nach dem Eintritt des Todes beigebracht worden. Es gab keine Anzeichen für eine sexuelle Aggression.
Die Vorgeschichte des Dramas: Lothar entstammte einer Schaustellerfamilie. Seien Eltern betrieben ein kleines mobiles Unternehmen, zu welchem auch sein Onkel gehörte. Sie hatten zwei Wohnwagen, einen Küchenwagen und einen Vorführwagen mit aufklappbarer Seitenwand, welcher die Bühne war. Sie waren Schausteller mit Handpuppen. Mehrere Monate vor dem Drama hatte die getötete Frau, welche zu dieser Zeit Studentin in Halle war, einer Schau beigewohnt, Lothar gesehen, sich Hals über Kopf in ihn verliebt und sofort ihr Studium in Halle aufgegeben. Sie war schon nach wenigen Tagen zu Lothar in dessen Wohn-Schlafwagen eingezogen. Seine Eltern und der Onkel waren im anderen Wohnwagen zusammengerückt.
Die Schausteller tingelten im Land umher, es war Sommer. Lothar und Ingrid waren grenzenlos verliebt, und so war die kleine Welt in Ordnung. Trotz der nicht luxuriösen Lebensumstände waren alle mit ihrem Leben zufrieden. Ingrid war die sexuell erfahrene und die erste Sexualpartnerin von Lothar.
Eines Tages hatte Lothar seine Geliebte in ihrem Wohnwagen mit dem Onkel im Bett angetroffen. Nach einer wüsten Schlägerei hatte sich alles zunächst scheinbar wieder beruhigt. Lothar war in den anderen Wohnwagen umgezogen und seine Geliebte schlief allein im Wohnwagen. So ging es einige Wochen. Sie trafen sich nur im Küchenwagen. Lothar war misstrauisch und argwöhnte, dass beide ihr Verhältnis fortsetzen könnten, was aber sicherlich nicht möglich war, da seine Eltern ja auch wussten, was geschehen war.
Lothar versuchte mehrmals, seine verlorene Liebe zurückzugewinnen. Das jedoch lehnte Ingrid ab. Ob aus Scham über ihren Verrat oder ob sie doch den Onkel mehr liebte, der auch mehr sexuelle Erfahrungen hatte als der unerfahrene Lothar, konnten wir nicht klären.
Am Tattag waren beide gemeinsam vom Standort der Wagen in Halle zu ihrer Mutter gelaufen um dort, vielleicht mit Hilfe der Mutter, wie er hoffte, wieder einen Versöhnungsversuch unternehmen zu können. Lothar hatte für Ingrids Mutter einen großen Rosenstrauß gekauft. Dann lief der Versöhnungsversuch jedoch völlig aus dem Ruder. Lothar erzählte uns, sie habe beim Onkel bleiben wollen. Dann hätte er sie erwürgt, mit dem Messer gestochen und die Rosen um sie gelegt. Er war ohne Ausflüchte geständig, erklärte auch, dass er schon vor diesem Tag beschlossen hatte, sie zu töten, wenn sie beim Onkel bleiben wolle. So weit konnten wir ihm als Morduntersucher folgen. Auf unsere Frage nach dem »Warum« erklärte er uns seine Motivation, der wir zunächst nicht folgen wollten. Wir konnten aber bis zur Gerichtsverhandlung kein anderes Motiv von ihm erfahren: Er meinte ein Recht zu haben, sie zu töten. Es sei seit Jahrhunderten bei Schaustellern üblich, dass der untreue Mensch vom verratenen Partner getötet werden darf. Wir hatten beide Mühe, unsere Mimik zu beherrschen. Auch bei sofortigem Nachhaken kam die gleiche Antwort: »Ich hatte das Recht, sie zu töten.«
Es war für uns unvorstellbar. Aber wir waren keine Schausteller und hatten von einer solchen Gepflogenheit oder so einem »Recht« zur Tötung noch nichts gehört. Natürlich vernahmen wir auch die Eltern und den Onkel intensiv, um dem von ihm behaupteten Recht auf Tötung der untreuen Geliebten näher zu kommen. Alle sagten, sie wussten, dass es vor Jahrhunderten in den Schaustellerfamilien ein solches Recht gegeben habe. Aber keiner wusste, ob ein solches »Recht« in anderen Schaustellerfamilien schon einmal in Anwendung gekommen war. Sie betonten immer wieder, wenn überhaupt, habe es einen solchen Brauch vor Jahrhunderten gegeben. Wir befragten auch die Gerichtsmediziner. Auch sie wussten nichts von einem solchen Brauch.
Mehrmals versuchten wir in den Vernehmungen, von Lothar Näheres zu erfahren. Gegendarstellungen, dass, wenn überhaupt, ein solches Gebaren vor Jahrhunderten vielleicht üblich gewesen sei, dass wir aber jetzt in einer völlig anderen Zeit leben, konnten ihn nicht beeinflussen. Wir ließen ihn auf seine Zurechnungsfähigkeit, auf seine Fähigkeit, sich zu steuern und sich entsprechend zu verhalten, durch psychiatrische Gutachter untersuchen. Auch dort beharrte er auf seinem Recht zur Tötung der untreuen Geliebten. Ansonsten war er voll zurechnungsfähig und wurde vom Bezirksgericht Halle zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Wir haben ihn nach der Verurteilung aus den Augen verloren. Wir hatten aber auch nie den Eindruck, dass Lothar sich mit seiner Behauptung eine Verbesserung seiner Lage als Häftling oder der zu erwartenden Strafe erreichen wollte. Er beharrte auf seiner »Rechtsauffassung« und nahm die Strafe inkauf. Was konnten wir anderes tun als ihn bei seiner Meinung zu belassen?
Der »sprechende« Rucksack
Anfang der sechziger Jahre war in Halle eine junge Studentin spurlos verschwunden. Sie wohnte als einziges Kind bei ihren Eltern in einer kleinen Siedlung am Stadtrand von Halle. Wie immer beim Verschwinden eines Menschen war zunächst die zuständige Kriminalpolizei mit dem Problem befasst. Als nach etwa einer Woche noch immer kein Hinweis auf den Verbleib der jungen Frau bekannt wurde, erfolgte der Einsatz unserer Morduntersuchungskommission.
Nach etwa insgesamt drei Wochen wussten wir fast alles über die junge Frau, über ihr Verhältnis zu ihren Eltern, zum Verhältnis der Eltern untereinander, über ihr studentisches Leben. Wir glaubten zumindest alles zu wissen.
Auffällig war, dass die Eltern ihre Tochter nie in Begleitung eines Mannes oder einer Frau gesehen hatten. Ihre Tochter sei morgens mit dem Fahrrad zur Universität gefahren und irgendwann zurückgekehrt. Sexuelle Interessen oder Interesse an entsprechenden Gesprächen oder Aktivitäten hatten beide Eltern nie wahrgenommen. Auch in der Universität hörten wir Ähnliches, einen Intimpartner konnten wir nicht ausfindig machen. Für eine junge Frau von etwa 20 Jahren war das eine Auffälligkeit.
In ihrem Zimmer waren alle persönlichen Ausweise, auch der Studentenausweis, alle Bekleidung, außer der gerade getragenen, vorhanden. Es fehlte nur ein Rucksack. Dieser hatte zwei braune Lederriemen und konnte mit einer Schnur zusammengezogen werden. Es war ihr Rucksack, und ihre Eltern hatten keine Vorstellung, warum gerade er fehlte, wo doch alles andere vorhanden war.
Wir suchten in der kleinen Siedlung und auf den angrenzenden Wiesen und Gärten. Doch alles war vergeblich. Die junge Frau blieb verschwunden.
Mit Hilfe der Bezirksverwaltung (BV) für Staatssicherheit versuchten wir Hinweise zu erlangen, die auf ein ungesetzliches Verlassen der DDR hinwiesen. Die Eltern haben eine solche Möglichkeit immer ausgeschlossen, da es auch keine Verwandtschaft in der Bundesrepublik gab. Aber auch das MfS konnte keine Hinweise finden.
Vier Wochen später wurde am Saaleufer eine bekleidete Frauenleiche aufgefunden, die einen Rucksack trug. Die Frau war durch den Rückgang des Saalewassers sichtbar geworden. Wir übernahmen sofort die weiteren Untersuchungen. Der Fundort war bereits durch Volkspolizisten gesichert, als wir dort ankamen. Die Leiche war aus dem schlammigen Uferbereich herausgezogen worden und lag etwas höher am Ufer. Es war ein trauriger Anblick, der sich uns bot.
Um überhaupt Näheres sehen zu können, blieb uns nach den erforderlichen Aufnahmen zunächst nur übrig, die Leiche und den Rucksack vom anhaftenden Schlamm zu reinigen. Es gab aber keinen Zweifel, dass wir die verschwundene Studentin vor uns liegen hatten. Ihre Bekleidung stimmte mit den Angaben der Eltern überein, und da war ja auch noch der Rucksack.
Ich ließ durch einen Funkwagen Oberarzt Dr. Simon, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin der Martin-Luther-Universität Halle zum Fundort bitten. Aber auch er konnte nach der Besichtigung des Kopfes und der Hände sowie der nassen Kleidung nur ersuchen, die Leiche und den Rucksack in sein Institut zu bringen, wo er noch am gleichen Tag die gerichtliche Obduktion vornehmen wolle. Der Rucksack war noch immer am Körper der jungen Frau. Beide Riemen waren korrekt über die Schulter gezogen, und als wir uns fragten, wie das denn nach einer solchen Liegezeit im fließenden Wasser möglich sei, und die Leiche nun wendeten, sahen wir, dass beide Tragriemen vor der Brust mit einem Lederriemen verknotet waren. So erklärte sich, dass der Rucksack am Körper fixiert war. Der Rucksack war, das konnten wir von außen fühlen, ohne ihn zu öffnen, mit Steinen gefüllt. Nach den erforderlichen Fotografien, zunächst Leiche mit Rucksack und dann beides getrennt, transportierte ein Leichenwagen die sterblichen Überreste und den Rucksack in das Institut zu Dr. Simon. Obwohl am Gesicht und den Händen der Leiche keine Verletzungen sichtbar waren, ließ doch der schwere Rucksack eine Anbringung an der Leiche zum Zwecke des Verschwindens denken. Ein Verbrechensverdacht war durchaus berechtigt.
Im Institut ließ Dr. Simon wieder die Leiche, den Rucksack und vor allem die Riemen, die wir ja am Saaleufer durchschnitten hatten, um die Leiche transportieren zu können, fotografieren. Der Rucksack erbrachte auf der Waage ein Gewicht von 41,2 Kilogramm.
Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass Ertrinken zum Tod der jungen Frau geführt hatte. Am Körper waren keinerlei Verletzungen feststellbar. Ihr Hymen war auch noch intakt. Ein Verbrechensverdacht trat damit in den Hintergrund, obwohl ja auch denkbar war, dass die Frau durch einen Täter, versehen mit dem Rucksack, in die Saale gestoßen worden war und der Rucksack ein Mittel zur Leichenbeseitigung sein konnte. Unser Interesse und auch das Interesse der Ärzte konzentrierte sich nun auf den Rucksack.
Dr. Simon empfahl uns, den liegenden Rucksack an beiden Längsseiten aufzuschneiden, um das Innere näher inspizieren zu können. Die Schnur des Rucksacks war noch zugezogen, der Rucksack somit verschlossen, und wir hatten nur von außen gefühlt, dass Steine im Rucksack vermutet werden konnten.
Nachdem beide Längsseiten mit Schere und Messer durchtrennt waren, konnten wir die Oberseite des Rucksackes aufklappen und das Innere des Rucksackes wurde sichtbar. Wir sahen viele Steine von unterschiedlicher Größe, auch einen halben Mauerstein.
Alle hockten wir um den Rucksack und keiner wusste zunächst, irgendetwas zu sagen. Schon beim Durchschneiden der beiden Längsseiten des Rucksackes und dem Lösen der Schnur waren Steine aus dem Rucksack gepurzelt. Wir sahen nun, dass die Steine unterschiedlich groß waren, dass aber die großen Steine unten im Rucksack lagen und nach oben, also zur Verschlussschnur des Rucksackes hin, erkannten wir immer kleinere Steine. Niemand von uns hatte so etwas schon einmal gesehen, obwohl wir alle schon die unterschiedlichsten Beschwerungen an Verbrechensopfern gesehen hatten. Ich hatte da die wenigsten Erfahrungen. Was hatte das alles zu bedeuten, oder anders gefragt: Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? War es Zufall? Wir versuchten uns in die Gefühlswelt der Toten hineinzudenken.
Dr. Simon brach das Schweigen: »Es muss eine Bedeutung haben, wenn wir unterstellen, sie war kein Verbrechensopfer, sondern eine Selbstmörderin aus irgendeinem noch unbekannten Motiv. Wenn wir unterstellen, sie ist eine Selbstmörderin gewesen, muss es einen Sinn haben, dass wir im Rucksack 41,2 kg Steine von unterschiedlicher Größe gefunden haben, die noch dazu nicht wahllos in den Rucksack gelegt wurden. Die großen Steine liegen unten im Rucksack, wir müssen deshalb annehmen, dass sie zuerst in den Rucksack gelangt waren. Nach oben, in Richtung der Verschnürung des Rucksackes werden die Steine immer kleiner. Wir denken immer noch an Selbstmord, da wir für ein Verbrechen keinen Anhalt haben.
Wenn sie mit dem Entschluss zum Selbstmord unter Mitnahme des Rucksackes von zu Hause an die Saale gelaufen ist, die Entfernung wird ca. fünf Kilometer betragen, wird sie diesen Rucksack als Beschwerung gedacht haben, wenn sie in den Fluss geht. Deshalb wird sie Steine gesammelt haben mit dem Gedanken, in den Fluss zu gehen, wenn der Rucksack mit Steinen gefüllt ist.
Sie kann aber sicherlich den Gedanken an den Selbstmord auch mehrmals verdrängt haben. Sei es aus Angst vor dem Tod oder dem kalten Wasser des Flusses. Sie kann diesen Gedanken immer wieder verdrängt haben und stets wieder ihren Todeswunsch im Sinn gehabt haben, aber auch andauernd wieder ihre Angst vor dem Tod oder dem kalten Wasser in den Hintergrund gedrängt haben, mit dem festen Entschluss, ich gehe in den Fluss, wenn der Rucksack gefüllt ist. Wegen dieser Gedanken kann sie ihren Tod vom Füllstand des Rucksackes abhängig gemacht haben und deshalb immer kleinere Steine gesammelt und oben in den Rucksack gelegt haben.«
Diese Deutung überraschte mich. Ich hatte noch nie eine solche Interpretation der Fakten erlebt. Einmal hatte ich einen Film gesehen, wo aus der Deutung einer Zeichnung eines ermordeten Kindes die von ihm abgebildeten Igel als das Lockmittel ihres Mörders »Schokoladentrüffel« gedeutet worden waren. Der Film mit Gert Fröbe heißt Es geschah am helllichten Tag.
Ich sagte ihm sofort, dass ich diese Deutung schlüssig fand. Auch der anwesende Staatsanwalt und der Assistenzarzt Dr. Bunk äußerten sofort Zustimmung. Wir besprachen noch mehrere Minuten diese Theorie und suchten nach anderen Varianten. Aber wir fanden keine andere Hypothese.
Damit hatten wir die Vermisstensache als sehr wahrscheinlichen Suizid erkannt. Wir wussten aber nicht, warum ein junger Mensch ohne einen bisher von uns erkennbaren Grund aus dem Leben geschieden war. Deshalb beschlossen wir sofort, nochmals Ermittlungen in diese Richtung aufzunehmen. Jetzt gleich nach der Diskussion, buchstäblich noch an der Leiche der jungen Frau stehend.
Nun hatten wir einen schweren Gang vor uns. Wir mussten die Eltern vom Auffinden ihres toten Kindes verständigen. Das waren immer sehr ergreifende, emotionsgeladene Gespräche, welche oft über Stunden verliefen. Wie sollten die Eltern begreifen, warum das alles geschehen war? Auf dieses Warum hatten auch wir keine Antwort. Obwohl wir schon mehrmals solche Gespräche mit Angehörigen in einem Selbsttötungsfall geführt hatten, waren wir auch diesmal wieder erschüttert von der Tatsache, dass etwas geschehen war, das keiner begreifen und verstehen konnte.
Hauptmann Grothe und ich gingen, wenn es unsere berufliche Situation ermöglichte, immer gemeinsam mit dieser Nachricht zu den Angehörigen. Nie hat er mich als Vorgesetzter allein in eine solche schwierige Situation geschickt, wie er es durchaus auch gekonnt hätte. Wir untersuchten gemeinsam und gingen auch die schwierigen Schritte gemeinschaftlich.
Nach langer Zeit unter Tränen und Fragen, die wir nicht beantworten konnten, sicherten wir den Eltern zu, ihre Tochter zu einer Verabschiedung vor der Beisetzung herrichten zu lassen und sie dann zu ihr zu begleiten. Eine persönliche Identifizierung der Leiche war aufgrund der Übereinstimmung der Bekleidung und des Rucksackes nicht nötig. Wir sicherten aber zu, sie auch beim Abschied von ihrem Kind zu begleiten und sie auch in dieser schweren Stunde nicht allein zu lassen. Dieses Versprechen gaben wir Angehörigen immer. Wir wussten, wie furchtbar es war, sich von Angehörigen zu verabschieden, egal ob sie durch Unfall, Suizid, natürlichen Tod oder Verbrechen zu Tode gekommen waren. Unsere Teilnahme an Verabschiedungen war ein Teil unseres schwierigen Berufes. Aber wir wussten auch, wie dankbar die Angehörigen waren, wenn wir sie in dieser schweren Stunde nicht allein ließen.
Die Eltern waren fassungslos über die Erkenntnis, dass ihre Tochter freiwillig aus dem Leben gegangen war. Sie hatten keine Erklärung. Als wir in den folgenden Tagen, in der Zeit vor der Verabschiedung von ihrer Tochter, im studentischen Kreis wieder nach einem Hinweis auf ein Motiv forschten, begegnete uns nur Fassungslosigkeit. Keiner konnte einen Hinweis geben. Leider blieb es so bis zur Beisetzung, und auch danach kam nirgendwo eine Vermutung für den Grund des Geschehens auf. Das Geheimnis ihres Todes blieb ihr Geheimnis.
In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Kriminalist habe ich nie wieder von einem vergleichbaren Phänomen gehört, gelesen oder gesehen. Vielleicht ist hier die uralte Erkenntnis, alles geschieht irgendwann und irgendwo zum ersten Mal, bestätigt worden.
Doch gelegentlich erleben wir, dass es zwischen Himmel und Erde Geschehnisse gibt, von denen wir nichts oder nur wenig wissen und keine Möglichkeit haben, dabei unsere kriminalistischen Erkenntnisse zu optimieren.
Mord im Hotel Radeburg
Ich möchte eine weitere Morduntersuchung schildern, nicht nur wegen der Schwierigkeit bei der Aufklärung, sondern vorrangig deshalb, weil im Gefolge der Mordaufklärung eine Idee geboren wurde, welche noch heute in der Arbeit der Kriminalpolizei fest verankert und nicht mehr wegzudenken ist.
Am 5. November 1964 wurden wir, die gesamte MUK der Bezirksbehörde Halle, befehlsgemäß nach Radeburg bei Dresden in Marsch gesetzt. Es war erstmalig, dass wir außerhalb der Grenzen des Bezirks Halle eingesetzt wurden.
Der unmittelbare Einsatzort war ein Hotel in Radeburg. Wir wurden vom Leiter der MUK Dresden vor Ort empfangen, begrüßt und mit der Lage vertraut gemacht. Die Eigentümer und Betreiber dieses Hotels waren, nachdem sie zunächst mehrere Tage als vermisst galten, es dann aber konkrete Anhaltspunkte in großer Zahl für ein an ihnen begangenes Tötungsverbrechen gab, nach tagelangen Suchmaßnahmen ermordet aufgefunden worden.
Das Hotel verfügte nicht nur über viele Zimmer, sondern auch über eine Bar, eine Gaststätte und einen Tanzsaal. Das gesamte Gebäude war unterkellert. Hier lagen große Mengen Lebensmittel, Spirituosen und Rauchwaren. Die Eigentümer Elsa und Paul T. hatten eine eigene Wohnung im Hotel.
Der Leiter der MUK Dresden, Hauptmann Wolf, führte uns durch alle Räumlichkeiten. In der Wohnung der Opfer war ersichtlich, dass beide offensichtlich im Schlaf überrascht und auch getötet wurden. Das Bettzeug und auch die Bettvorleger waren massiv mit Blut behaftet. Vor der Wohnungstür endeten die deutlich erkennbaren, mit Blut gezeichneten Schleifspuren. Der Täter hatte beide Leichen in ein unbekanntes Versteck gebracht.
Die Durchsuchung aller Räumlichkeiten führte zunächst nicht zum Auffinden der Leichen. Aber dann waren die Einsatzkräfte auf eine unscheinbare Brettertür, etwa halb so groß wie eine normale Tür gestoßen, die an der rechten Seite der Treppe, die in den Keller führte, angebracht war. Von der Wohnung oben im Gebäude bis an die Brettertür waren keine Blutspuren vorhanden. Diese Tür war der Zugang zu einem Hausbrunnen, wie er früher in vielen Gebäuden vorhanden war. Tief unten, etwa sechs bis acht Meter tief, war Wasser zu sehen, wenn mit einer Lampe hineingeleuchtet wurde. So konnte aus dem Brunnen mit einem Eimer Wasser nach oben gezogen werden. Eine Spindel war nicht vorhanden.
Bei der Durchsuchung des Gebäudes hatte man zwar die Tür geöffnet und hineingeleuchtet, aber nur die Wasseroberfläche gesehen. Da die Durchsuchung des Hotels keine Anhalte bot, wo beide Leichen sein konnten, wurde mit Einsatzkräften der Feuerwehr der Brunnenschacht unterhalb der Wasserfläche untersucht. Es hatte sich herausgestellt, dass etwa einen halben Meter unter der Wasseroberfläche ein Holzgitter vorhanden war. Dort fanden sich schließlich die beiden Leichen, deren Bergung dann eine komplizierte Aktion erforderlich machte. Die Leichen hatten das Holzgitter zertrümmert und die Holzteile hatten sich dabei in die Körper gebohrt.
Nach mehreren Stunden schwerster Arbeit hatte die Feuerwehr endlich die Leichen geborgen. Bei der sofort erfolgten Besichtigung wurde erkannt, dass beide Opfer offensichtlich mit einem hammerähnlichen Werkzeug durch viele Schläge auf den Kopf getötet worden waren.
So schwierig die Bergung der Leichen war, so wichtig war dieser Brunnen als Hinweisgeber auf den unbekannten Mörder: Er musste mit den Örtlichkeiten des Hotels sehr vertraut sein. Ein zufällig handelnder Mörder hätte diesen Brunnen nicht gekannt.
Aber hier begannen auch schon die Schwierigkeiten der Aufklärung. Jeder Kellner oder jeder Lieferant von Lebensmitteln oder Getränken, die im Keller lagerten, konnte Kenntnis vom Brunnen haben. In zweiter Reihe natürlich jede Kontaktperson des Personals oder der Zulieferer. Die Vorbesitzer schieden aus biologischen Gründen aus. Natürlich war denkbar, dass auch mancher Besucher des Hotels oder der Gaststätte irgendwie Kenntnis über den Brunnen erlangt haben könnte.
Hauptmann Wolf, der MUK-Leiter aus Dresden, bat uns, gemeinsam mit ihm und seinem Techniker jeden Raum des Hauses, jeden Einrichtungsgegenstand zu besichtigen, um daktyloskopische Spuren (Finger- oder Handabdrücke) zu finden.
Und wir hatten Glück: In der Bar und am Tresen in der Gaststätte fanden wir mehrere Tassen mit in Blut gegriffenen Fingerabdrücken. Diese waren teilweise verwischt, aber viele waren ganz klar. Wir vermuteten, dass der Täter seine Handschuhe ausgezogen haben könnte, um in die Tassen zu greifen. Wie wir später erfuhren, handelte es sich dabei um die Tassen, in denen die Kellner Trinkgelder sammelten. Wie viele derartige in Blut gegriffene Spuren wir fanden, weiß ich nicht mehr. Es waren mehrere in ausgezeichneter Qualität dabei.
Nun musste nur noch der Spurenverursacher gefunden werden. Wir führten Befragungen der Einwohner in der Stadt durch. Dabei erhielten wir einen Hinweis einer Versicherungsvermittlerin, wonach ein gewisser Klaus S. nach dem Mord eine größere Summe bei ihr eingezahlt hatte.
Er war der Spurenverursacher. Natürlich bestritt er die Tat, seine Ehefrau gab ihm ein Alibi, das sie jedoch später widerrief. Auch zu den vielen Flaschen mit Spirituosen und den großen Mengen an Zigaretten und Zigarren konnte er keine glaubhaften Angaben machen. Aber er war zweifelsfrei der Spurenverursacher. Wir fanden bei der Hausdurchsuchung in seiner Wohnung auch gewaschene, aber immer noch mit Blut befleckte Männerkleidung.