Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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Vor allem aber hat sich der Avantgardebegriff in der Konsum- und Mediengesellschaft etabliert, wo er zur Vermarktungsstrategie geworden ist. So wirbt ein Hersteller von Hundegeschirr mit seinen „Avant Garde Dog Harnesses“ in vielfältigen Ausführungen. Ein Unternehmen für Sanitärtechnik verspricht „Erlebnis und Genuss für Anspruchsvolle“ in seiner „Avantgarde Massagewanne“. Ein Tester der Apple Watch für Die Zeit fragt: „Ist das Avantgarde oder nervt das nur?“7 Und als Antwort auf die Frage, wie Verlage ihre Autoren dazu bringen könnten, ihre Werke im Sinne des „transmedialen Storytellings“ an den app-versierten Leser zu bringen, antwortet ein Texttheoretiker: „Indem man sagt, das ist Avantgarde!“8
Eine „Entgrenzung“9 des Avantgardebegriffs vom künstlerischen ins kommerzielle Feld hat stattgefunden. Der Begriff ist von Kunst und Wissenschaft in alle anderen Lebensbereiche übergetreten, wo er eine inflationäre Anwendung findet und das bezeichnet, was technisch, ästhetisch oder funktionell als besonders avanciert, modern, neu und innovativ gelten soll. Die Trennung zwischen Avantgarde und Kitsch (sofern diese je bestanden hat, was bezweifelt werden darf), wie sie noch Clement Greenberg10 vorgenommen hat, wurde endgültig aufgehoben. Die Avantgarde ist in der „Ästhetisierung der Lebenswelt“11 zum Status Quo geworden, Neuheit und Avanciertheit, die einst nur punktuell aufblitzten, sind mittlerweile im Zuge des heute waltenden „Kreativitätsimperativ[s]“12, nach dem jeder kreativ sein soll und muss, zur Normalität geworden.
2.3 Die historische Avantgarde
Die Übertragung der Charakteristika des ursprünglich militärischen Begriffs (zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, Erkundung eines unbekannten Terrains) auf die aktuelle kommerzielle „Avantgarde“ muss daher scheitern, denn wie kann die Avantgarde eine Vorhut sein, wenn das Gros sie schon erreicht hat? Was kann sie erkunden, wenn alles bereits erforscht ist? Wie kann sie Gefechte liefern, wenn es keinen Feind mehr gibt? Wie kann die Avantgarde gegen das Establishment kämpfen, wenn sie längst Teil des Establishments geworden ist? Welches Terrain kann sie erobern, wenn sie das ganze Gebiet bereits eingenommen hat? Wie kann der fortschrittsorientierte Gedanke der Avantgarde überhaupt noch bestehen, wenn die Idee einer linearen Geschichtsschreibung spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg obsolet geworden ist? Kurz: wozu dient eine Avantgarde, wenn alles bereits Avantgarde ist? Eine relative Konzeption, die Avantgarde und Mainstream in Dichotomien wie alt-neu, traditionell-modern, konventionell-innovativ, vorher-nachher, reaktionär-subversiv, vorne-hinten denkt, wirft Probleme auf.
Dies hatte Ionesco in seinem Discours sur l’avant-garde (1959) schon früh festgestellt: „on ne peut s’apercevoir qu’il y a eu avant-garde que lorsque l’avant-garde n’existe plus en tant que telle, lorsqu’elle est devenue arrière-garde“1. Auch Hans-Magnus Enzensberger hat sich hierzu in seinem vielbeachteten Essay Die Aporien der Avantgarde (1962) geäußert:
Das Modell, an dem sich die Vorstellung der Avantgarde orientiert, ist untauglich. Das Voranschreiten der Künste in der Geschichte wird als lineare, eindeutige übersichtliche und überschaubare Bewegung gedacht, in der jeder seinen Platz, Spitze oder Troß, selber bestimmen könnte. Ungedacht bleibt, daß diese Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte führt; daß mithin nur die Nachzügler angeben können, wo sie sind. […] Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden.2
Genauso problematisch wie die Vorher-Nachher-Dichotomie ist die Alt-Neu-Figur, denn das Neue wird immer irgendwann alt, und die Möglichkeiten des Neuen sind nicht unbegrenzt. Für Richard Schechner etwa, der nicht von einer, sondern gleich von fünf Avantgarden spricht3, ist der Avantgardebegriff als Bezeichnung für aktuelle Entwicklungen in der Kunst obsolet geworden, da die Innovation und das Neue endlich seien:
We can […] see how very far the current avant-garde is from the historical avant-garde. The current avant-garde is neither innovative nor in advance of. Like a mountain, it just is. Although the term 'avant-garde' persists in scholarship as well as journalism, it no longer serves a useful purpose. It really doesn’t mean anything today. It should be used only to describe the historical avant-garde, a period of innovation extending roughly from the end of the nineteenth century to the mid-1970s (at most). […] A Rubicon has been crossed. […] The limitless horizons of expectations that marked the modern epoch and called into existence endless newness have been transformed into a global hothouse, a closed environment. I do not agree with Baudrillard that everything is a simulation. But neither do we live in a world of infinite possibilities or originalities.4
Viel ratsamer ist es also, den Avantgardebegriff als Epochenbegriff für einen genau abgesteckten Zeitraum zu verwenden: die sogenannte „historische Avantgarde“ bezeichnet „die einzelnen, historisch, national-regional wie gesamteuropäisch und international agierenden Bewegungen und Ismen zwischen dem futuristischen Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg“5, insbesondere also Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Die Avantgarde muss ihren Avantgardismus somit nicht mehr anhand von langen und deshalb wenig aussagekräftigen Kriterienkatalogen (wie es beispielsweise von Beyme6 in seinem 12-Punkte-Programm vorgeschlagen hat) unter Beweis stellen, sondern ist als ein historisch klar eingegrenztes Phänomen zu begreifen, dessen Anfang und Ende dank der avantgardistischen Manifeste7 zeitlich genau datiert werden können. Mit Marinettis erstem futuristischen Manifest, das am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro veröffentlicht wurde, wird „die Geburt der Avantgarde eingeläutet“8. Mit dem Ende des Surrealismus gilt die historische Avantgarde als abgeschlossen, d.h. offiziell im Jahr 1969 (drei Jahre nach Bretons Tod), in Wahrheit aber bereits ab Mitte der 1930er Jahre, als der Surrealismus seinen Zenit nach einem gescheiterten Ausflug in die Politik überschritten hatte.
Der eng gefasste und vor allem in der europäischen und insbesondere deutschsprachigen Forschung verbreitete Begriff der historischen Avantgarde macht eine wissenschaftliche Betrachtung der Avantgarde als Gesamtphänomen überhaupt erst möglich. Die avantgardistischen Ismen lassen sich trotz ihrer Vielfalt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren:
1 der Gruppencharakter;
2 der Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen;
3 die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient.9
2.4 Die Neo-Avantgarde
Mit dem Eintritt in die Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann eine Renaissance der Avantgarde beobachtet werden. Szabolcsi kommentiert dieses Ereignis im Jahr 1971 auf folgende Weise:
Things that were declared dead thirty years ago have risen from the dead; museum pieces come back to life once more. It certainly indicates that many of the questions the 'first avant-garde' posed have not been properly answered yet, and the problem of the function of art and the artist is far from being satisfactorily solved.1
Diese neue Avantgarde, auch Neo-Avantgarde genannt, kann mit Foster definiert werden als
loose grouping of North American and Western European artists of the 1950s and 1960s who reprised such avant-garde devices of the 1910s and 1920s as collage and assemblage, the readymade and the grid, monochrome painting and constructed sculpture.2
Die Neo-Avantgarde führt die historische Avantgarde nicht einfach weiter. Die Umstände avantgardistischen Schaffens hatten sich seit der historischen Avantgarde drastisch weiterentwickelt. Die Konsum- und Warengesellschaft der Nachkriegszeit hatte die Beziehungen zwischen Künstler, Material und Zuschauer grundlegend verändert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich der Kunstmarkt außerdem von Paris nach Amerika verschoben. Ab nun galt es, „d’affirmer que l’art européen était aussi périmé que la vocation historique de l’Europe sur le plan politique. L’art se ferait désormais à New York“3. Die Aufwertung der amerikanischen Neo-Avantgarde als originär, innovativ und ideologiefrei im Gegensatz zur (vermeintlich) ideologiegeladenen und historisch gewordenen Avantgarde der Alten Welt führte zu neuen Wegen in der Avantgardeforschung. Mit zunehmender Distanz (insbesondere auch im Kontext der 68er-Bewegung) zu seiner verheerenden jüngeren Geschichte war eine kritische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit Europas möglich geworden. Die historische Avantgarde hatte, so empfanden es viele, ihren Teil zur Katastrophe beigetragen. Die Liebäugelei der Futuristen und der Surrealisten mit dem Faschismus bzw. dem Kommunismus und Aussagen wie die Bretons („L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“4) hat man der Avantgarde bis heute nicht verziehen. Aufgrund ihrer strukturellen und programmatischen Parallelen (z.B. Gruppencharakter, parteiähnliche Organisation, Disziplin, Aktionismus, doktrinäre Haltung, Hang zu Esoterik, Anti-Positivismus, Mystik und Okkultismus, Gewalttätigkeit und Aggressivität) erhärtete sich der Totalitarismusverdacht gegenüber der historischen Avantgarde. Politisch manifestiert hätten sich ihre totalitären Tendenzen in ihrer Verflechtung mit repressiven Diktaturen wie dem Stalinismus5 oder später mit dem Terror6 der 1960er und 1970er Jahre oder sogar des 11. Septembers 2001. Man darf den totalen Anspruch der historischen Avantgarde (d.h. ihre Intention, das Leben durch die Kunst zu revolutionieren) allerdings nicht mit einem totalitären Anspruch gleichsetzen, denn damit würde man die Avantgarde in ihrem selbstkritischen Moment7 unterschätzen. Die historische Avantgarde wollte die Demokratie nicht abschaffen, sie war sogar auf sie angewiesen.8 Das Europa der zweiten Jahrhunderthälfte, dem die zwei Weltkriege noch im Nacken saßen, stand gesellschaftlichen Ganzheitsentwürfen – wie die Avantgarde sie vorgeschlagen hatte – jedoch misstrauisch gegenüber und stempelte sie als ideologiegeladen und tendenziell gefährlich ab.
Weitaus unverfänglicher erschien dagegen eine Beschäftigung mit bisher marginalen Aspekten der Avantgarde, wie z.B. avantgardistischen Verfahrensweisen, einzelnen Künstlern und Künstlergruppen oder Minderheiten innerhalb der Avantgarde. Auch in Folge des postmodernen Relativismus und Dekonstruktivismus hat sich die Avantgardeforschung somit in verschiedene Teilbereiche ausdifferenziert. Ein Forschungsstrang widmet sich beispielsweise den weiblichen Akteuren der Avantgarde, wie z.B. Claude Cahun, Dora Maar, Germaine Dulac, Hannah Höch oder Sonia Delaunay.9 Frauen waren von der Avantgarde und der Avantgardeforschung bis in die 1970er Jahre vernachlässigt worden. „L’avant-garde, un concept masculin?“10, fragt Bonnet im 2012 erschienenen Sammelband Genres et Avant-Gardes und zeigt, wie sehr die Avantgarde mit der Hegemonie und Valorisierung des Männlichen verknüpft war. Zwar waren Frauen als Objekte in avantgardistischen Schriften stark präsent, als kunstschaffende Subjekte spielten sie aber eine zweitrangige Rolle: sie hatten innerhalb der Avantgarde meist nur eine zuarbeitende Position inne oder waren in weniger prestigeträchtigen Disziplinen wie dem Kunsthandwerk tätig. In ihrer Einleitung zum selben Band bescheinigen Bridet und Tomiche der Avantgarde einen regelrechten „mépris de la femme“ (dieser „mépris“ ging übrigens nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen aus, wie Claire Goll11 gezeigt hat) und plädieren gegen eine binäre und essentialistische Mann-Frau-Konzeption der Avantgarde.12 In der Postmoderne geht es also weniger um eine Gesamterfassung des Phänomens Avantgarde, sondern um die Untersuchung von Teilaspekten.
Aus heutiger Sicht sind sowohl die historische als auch die Neo-Avantgarde historisch geworden. Trotz allem wird in der Forschung zwischen den beiden Avantgarden unterschieden. Drei unterschiedliche Perspektiven haben sich in der Beurteilung der Beziehung zwischen historischer und Neo-Avantgarde etabliert: 1. die Neo-Avantgarde als wirkungslose Kopie der historischen Avantgarde (z.B. Gehlen, Enzensberger, Bürger, Kuspit); 2. die Neo-Avantgarde als erfolgreiche Realisierung der avantgardistischen Intentionen (z.B. Foster); 3. die Neo-Avantgarde als neues Paradigma, das mit Moderne und Avantgarde bricht und diese sich einverleibt (z.B. Krauss, Hassan).
Im mit der historischen Avantgarde vertrauten Europa ist die Neo-Avantgarde eher negativ konnotiert als Kopie und uninspirierter Abklatsch ihres historischen Vorgängers. Davon zeugt bereits das Präfix „Neo“, das der Avantgarde nach 1945 ihre Originalität, Kreativität und Radikalität abspricht. Der Soziologe Arnold Gehlen hat in seinem Aufsatz Über kulturelle Kristallisation (1961) erklärt, dass die letzten großen Ereignisse in der Kunst sich um 1910 herausgebildet hätten und die Kunst seitdem in einen Zustand der Kristallisation eingetreten sei, d.h. „denjenigen Zustand […], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind.“13 Diese Entwicklung begründet Gehlen damit, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Domänen im Zuge der Spezialisierung in ihre Fachbereiche verwiesen worden waren und nun nicht mehr imstande seien, global gültige weltanschauliche Theorien anzubieten. Die Ideengeschichte sei damit abgeschlossen, wir seien im Posthistoire angekommen:
Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, daß noch weitere Grundlagenveränderungen im System sind, und deshalb ist der Begriff Avantgardismus eigentlich etwas komisch, er ist überholt. Die Bewegung geht ja gar nicht nach vorwärts, sondern es handelt sich um Anreicherungen und um Ausbau auf der Stelle, wer heute von Avantgardismus spricht, der meint nur Bewegungsfreiheit als Programm, aber die ist ja längst zugestanden.14
Der große Überbau der Wissenschaften und Künste sei ausformuliert und starr, einzig eine Weiterentwicklung im Detail sei noch möglich. Kristallisation bedeutet also Stillstand und Stagnation im Großen, was eine Weiterentwicklung im Kleinen jedoch nicht verhindert. Im Vortrag Erörterung des Avantgardismus in der Bildenden Kunst (1965) erklärt Gehlen, dass diese Weiterentwicklung im Kleinen in der neuen Avantgarde der Nachkriegszeit stattfinde. Während die frühen Avantgardisten noch „Toreöffner in ein unbetretenes Gebiet“ gewesen seien, hätten sich avantgardistische Verhaltensweisen heute im Zuge einer „Ritualisierung“15 stabilisiert und stereotypisiert, die Avantgarde sei zum Establishment geworden und habe ihren revolutionären Gehalt verloren. Enzensberger geht noch härter mit der Neo-Avantgarde ins Gericht: “Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug.“16 Er, der auch nicht viel von der historischen Avantgarde hält, gesteht dieser aber immerhin zu, die Verantwortung für ihre Ergebnisse übernommen zu haben. Die Neo-Avantgarde aber wiederhole nicht nur ihren Vorgänger, sie sei nicht einmal mehr bereit dazu, für ihr Tun zu haften. Zu einer ähnlichen Einschätzung der Neo-Avantgarde kommt Bürger. Nachdem die Institution Kunst ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Angriffen auf sie durch die Absorption der historischen Avantgarde bewiesen und damit ihre Grenze zum Leben wieder gezogen hatte, habe die Kunst nach der historischen Avantgarde ihr radikales Potential verloren. Bürgers Fazit fällt eindeutig aus: „Neoavantgardistische Kunst ist autonome Kunst im vollen Sinne des Wortes, und das bedeutet: sie negiert die avantgardistische Intention einer Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis.“17 Bürger spricht im Hinblick auf die Neo-Avantgarde von einer falschen Überführung der Kunst in eine spätkapitalistische Gesellschaft, in der die Kunst zwar praktisch geworden sei, aber nicht mehr „Instrument der Emanzipation, sondern der Unterwerfung“18 unter Warenästhetik, Unterhaltung und das Diktat des Konsums. Die Neo-Avantgarde werde so „zur sinnleeren Veranstaltung, die jede mögliche Sinnsetzung zuläßt.“19 Ebenso äußert sich der amerikanische Kunstkritiker Donald Kuspit20, der der Neo-Avantgarde Inhaltsleere, intellektuelle Rhetorik, reinen Unterhaltungswert und Aneignung vorwirft. Im Gegensatz zur historischen Avantgarde, die sich durch ihre therapeutische Heilkraft der tiefsten inneren Bedürfnisse des Menschen angenommen habe, besitze die Neo-Avantgarde keine transformativen Kräfte mehr. Diese Position, die die Neo-Avantgarde als rein ästhetische Kopie der radikalen historischen Avantgarde betrachtet, ist besonders in der europäischen Avantgardeforschung verbreitet.
Dagegen haben Forscher im anglo-amerikanischen Raum die Neo-Avantgarde und Postmoderne gegenüber der historischen Avantgarde aufgewertet. Der amerikanische Kunsthistoriker Hal Foster nimmt mit seiner Idee der „deferred action“21 Abstand von einer linearen Betrachtungsweise der Beziehungen zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde und verwirft Kategorien wie „vorher-nachher“, „Ursache-Wirkung“ und „Ursprung-Wiederholung“. Die Tragweite der Avantgarde könne nie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern immer erst mit zeitlicher Verzögerung erfasst werden. Es sei die Neo-Avantgarde, nicht die nihilistisch-anarchistische historische Avantgarde, die die Institution Kunst zuerst analysiert und kritisiert habe. Damit sei die Neo-Avantgarde „less neo than nachträglich“22. In Opposition zu Bürgers Verdikt über die Neo-Avantgarde findet bei Foster eine Aufwertung der Neo-Avantgarde statt, die das Projekt der historischen Avantgarde nicht gar beendet, sondern zum ersten Mal aufnimmt: „rather than cancel the project of the historical avant-garde, might the neo-avant-garde comprehend it for the first time?“23
Vertreter der Postmoderne gehen noch einen Schritt weiter und gestehen der historischen Avantgarde nicht einmal mehr eine erhebliche Vorleistung in Bezug auf die Entwicklung der Neo-Avantgarde zu. So setzt Rosalind Krauss in ihrem im Jahr 1985 veröffentlichten Essay über die vermeintliche Originalität der Avantgarde den Bruch in der Kunstwelt nicht mit der Moderne/Avantgarde (die sie miteinander gleichsetzt), sondern mit der Postmoderne an.24 Wenn Ihab Hassan der Moderne noch eine gewisse Persistenz zugesteht, so ordnet er die historische Avantgarde endgültig der Geschichte zu: „Once full of brio and bravura, these movements [d.h. die historischen Avantgardebewegungen] have all but vanished now, leaving only their story, at once fugacious and exemplary.“25 Die Postmoderne sei im Vergleich zur historischen Avantgarde „cooler, less cliquish, and far less aversive to the pop, electronic society of which it is a part, and so hospitable to kitsch.“26 Bei Hassan findet eine komplette Aufhebung der historischen Avantgarde in der Postmoderne statt. Auffällig ist, dass sein Kriterienkatalog für die Postmoderne (mit Punkten wie “Play”, “Chance”, Participation”, “Anti-narrative”27, “Fragmentarisierung” und “Performanz”28) nahezu identisch auf die historische Avantgarde übertragen werden könnte.
Eine vermittelnde Position besetzt Hubert van den Berg29, der für die Gleichwertigkeit der beiden Avantgarden eintritt. Er übt Kritik am „Neo“-Präfix, das die Neo-Avantgarde als zweitklassige Kopie der historischen Avantgarde abstempelt. Obwohl sie mittlerweile genauso historisch sei wie ihr Vorgänger, werde der Neo-Avantgarde ihre geschichtliche Relevanz abgesprochen. Um jedes Werturteil auszuschließen, plädiert er dafür, von der Avantgarde vor bzw. der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen.
Wie sich die theoretischen Überlegungen zur Avantgarde seit ihrer Entstehung entwickelt haben, soll im Folgenden betrachtet werden.
2.5 Denkfiguren der Avantgarde
Die Avantgardeforschung hat sich seit ihrer Entstehung stets weiterentwickelt. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Studien über die einzelnen Ismen der Avantgarde veröffentlicht (z.B. André Breton et les données fondamentales du surréalisme von Michel Carrouges, Histoire du surréalisme von Maurice Nadeau oder Déjà jadis von Georges Ribemont-Dessaignes), die oft auch von den Avantgardisten oder ihnen nahestehenden Personen selbst verfasst wurden und damit wissenschaftlich nicht ganz unproblematisch sind.
Nachdem die historische Avantgarde ab den 1960er Jahren aufgrund der Studentenproteste und dem Erfolg der Neo-Avantgarde ihr Comeback feierte, konnte sie nun aus dieser zeitlichen Distanz heraus neu beurteilt und verortet werden. Die 1960er und 1970er Jahre sind von der Suche „nach einer Theorie zur Erfassung des künstlerischen Wandels“1 gekennzeichnet, man wollte das Phänomen der Avantgarde auf eine Formel bringen. Die Forschung beschäftigt sich zu dieser Zeit mit Fragen der Begriffsbestimmung, der Charakterisierung und der Entwicklung allgemeingültiger Kriterien für die Avantgarde, außerdem interessiert ihre Beziehung zur Moderne, mit der sie entweder gleichgesetzt oder in Kontrast gestellt wird.
Mit dem Eintritt der westlichen Kunst und Gesellschaft in die Postmoderne ab den 1980er Jahren brach eine neue Epoche an. Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs erschienen Fortschrittsglaube und Absolutheitsanspruch von Moderne und Avantgarde plötzlich obsolet oder sogar gefährlich. Die postmoderne Avantgardekritik löst sich von der Idee, dass die unterschiedlichen avantgardistischen Strömungen mit einer Theorie erklärt oder durch einen Kriterienkatalog näher bestimmt werden können. Stattdessen ist eine Ausdifferenzierung der Forschung in neue Bereiche zu beobachten, sie nimmt sich der Avantgarde nicht mehr als Ganzes an, sondern interessiert sich für identitätspolitische Aspekte der Avantgarde, wie z.B. die Frau, den Nicht-Europäer oder den Greis. Der Fokus verschiebt sich also weg von einer allumfassenden Avantgardekonzeption, die die verschiedenen avantgardistischen Ismen als letztlich doch recht einheitliches Phänomen synthetisiert, hin zu einem Verständnis der Avantgarde als Ansammlung unterschiedlicher Strömungen ohne einheitliche Akteure, Merkmale und Intentionen.
Die Avantgardeforschung hat eine Fülle an Denkfiguren produziert, die im Folgenden skizziert werden sollen. Dabei schließen sich die Figuren nicht gegenseitig aus, häufig ergänzen sie sich oder beleuchten dieselbe Idee aus einer anderen Perspektive. Auch wenn jede Denkfigur auf unterschiedliche Aspekte der Avantgarde eingeht, so ist ihnen allen doch eine bestimmte Positionierung zu Zeit und Raum gemein.
2.5.1 Avantgarde als Spitze eines Dreiecks

Abb. 1
Schon lang vor dem Einsetzen einer Theoriebildung der Avantgarde hatte der russische Künstler Wassily Kandinsky, ohne den Begriff jemals zu verwenden, mit seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst (1911/12) eine Art Avantgardetheorie avant la lettre geliefert, in der er das geistige Leben als ein in verschiedene „Abteilungen“ unterteiltes Dreieck beschreibt. An der Spitze dieses nach oben gerichteten Dreiecks befinde sich der unverstandene und verspottete Künstler-Seher. Die Künstler in den unteren Abteilungen strebten nur nach Erfolg und schafften eine entseelte und rein materielle Kunst, an der das Publikum bald das Interesse verlöre. Es begutachte diese Kunst mit Gleichgültigkeit und Kälte und bleibe leer und hungrig. Mit der Zeit bewege sich das Dreieck aber „langsam nach vor- und aufwärts“1, und die früher Geschmähten und Verlassenen erhielten nun Zuspruch von der Masse. Das Dreieck sei in ständiger Bewegung. Niemals solle sich derjenige an der Spitze in Sicherheit wähnen, an einem endgültigen Endpunkt angekommen zu sein, denn die Spitze des Dreiecks könne nur im Hinblick auf das Dagewesene festgelegt werden: man müsse einsehen, „daß das äußere Prinzip der Kunst nur für die Vergangenheit gelten kann und nie für die Zukunft.“2
Interessant an Kandinskys Dreieck-Theorie ist die Idee der Relativität und Instabilität der Avantgarde, deren Freiheit nie absolut ist.
2.5.2 Avantgarde als Zuspitzung der Moderne

Abb. 2






