Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

- -
- 100%
- +
Ein surrealistischer Prototyp ist der Flaneur, der sich dem geschäftigen Arbeitsleben entzieht und, für alle Eventualitäten offen, durch die Straßen streift auf der Suche nach wunderbaren Begegnungen. So lobt der Detektiv Létoile in S’il vous plaît die Faulheit als eine Tugend:
On meurt jeune maintenant. La faute en est aux conditions de l’existence qui ont changé. Nous nous surmenons; la vie trop active épuise nos forces. Faisons donc entendre d’autres sons de cloches, ceux-ci joyeux et réconfortants, ce que nous appellerons le joyeux carillon de la paresse, c’est-à-dire l’inutilité des efforts. (118)
Die Surrealisten waren auf der Suche nach neuen Mythen, die es vermochten, den veränderten Geist einer modernen Welt zu erfassen. Dieses Bestreben war eng verbunden mit einer Suche nach dem „merveilleux“ im urbanen Alltag der Surrealisten, der genug Stoff für eine neue Mythenbildung bot. In den surrealistischen Theaterstücken spielt deshalb die Stadt Paris mit ihren Flaneuren, Reklamen, Luxusprodukten und öffentlichen Räumen, die zu Orten für wunderbare Begegnungen wurden, eine große Rolle. Letztendlich ist der Surrealismus, so Asholt7, selbst zum modernen Mythos geworden, indem er versucht hat, die permanente Revolutionskunst zu realisieren.
3.4.6 Collage
Peter Bürger hat die Collage zum „Grundprinzip avantgardistischer Kunst“1 erklärt. Der Begriff der Collage/Montage stammt aus der Industrie, wo er auf die Zusammenführung von vorgefertigten Einzelteilen zu einem gebrauchsfähigen Objekt verweist. Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Begriff in die Künste übergetreten und hat dort seinen Durchbruch mit der historischen Avantgarde erfahren, allen voran mit den Kubisten Braque und Picasso. In diesem Kontext bezeichnet die Collage die Übernahme von bereits existierendem Material in die Kunst (Malerei, Literatur, Theater etc.) auf solche Art und Weise, dass seine ursprüngliche Verwendung sowie sein Wesensunterschied zu den vom Künstler selbst angefertigten Elementen noch erkennbar bleiben.
Die Collage ist eine Reaktion auf die moderne Welt, in der das Nebeneinander disparater Objekte, Ideen und Wahrheiten alltäglich geworden war. Hugo von Hofmannsthal hat dieser Sensibilität in seinem berühmten fiktiven Brief von 1902 Ausdruck verliehen, in dem Philipp Lord Chandos an Francis Bacon schreibt, um die lange Pause in seinem kreativen Schaffen zu entschuldigen. In dem Brief berichtet er von seiner Unfähigkeit, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“2 War die Realität für Lord Chandos einst noch mit Sicherheit erfassbar gewesen, ist sie für ihn nun trügerisch und fragmenthaft geworden: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“3 Der Brief greift das im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschende Gefühl auf, dass die Wirklichkeit nicht mehr zu bewältigen ist. Die Collage ist so heterogen und fragmenthaft wie die moderne Welt, die nicht mehr als einheitliches Ganzes abgebildet werden kann. Indem die Wirklichkeit hier nicht mehr einfach nur imitiert, sondern direkt in das Kunstwerk übernommen wird, erteilt die Collage dem Ästhetizismus eine Absage. Sie ist, so Aragon, „porte de sortie de l’art pour l’art“4 sowie „la reconnaissance par le peintre de l’inimitable, et le point de départ d’une organisation de la peinture à partir de ce que le peintre renonce à imiter“5. Die Auflösung der Wirklichkeit reicht so weit, dass auch das eigene Ich keine sichere Realität mehr ist. Die Aufweichung der Identität ist ein Leitmotiv in vielen surrealistischen Stücken. So kann die Identität einer Figur unklar sein oder eine Figur kann mehrere Identitäten auf einmal besitzen, wie z.B. Pierre/Frédéric/Sprecher in Au pied du mur, Dovic/Lloyd George in Les mystères de l‘amour, der Maler/M. Parchemin in Le Peintre (1922 veröffentlicht) oder der geisterhafte Gérard in La place de l’étoile.
Die Beziehung zwischen Kunst und Nicht-Kunst wird in der Collage hinterfragt: einerseits wird das collagierte Material zu Kunst aufgewertet, andererseits wird das Kunstwerk durch die Übernahme von alltäglichen Gegenständen abgewertet. Die Collage negiert damit auch die Idee des genialen Schöpfers, denn der Künstler wird nun zum Organisator von Material, und es zählen nicht mehr seine individuellen technischen und kreativen Fähigkeiten, sondern seine „personnalité du choix“6. Auch das collagierte Kunstwerk verliert seine Organizität und Aura, als ein aus Alltäglichem zusammengesetztes Gebilde negiert es die Kunst selbst. Die Surrealisten haben das Banale in die Kunst eingeführt, die scheinbar triviale Realität bot sich ihnen als unendlicher Quell poetischer Schöpfung an. In den surrealistischen Stücken bricht die Realität auf die Bühne und irritiert den Zuschauer, der sich auf die Bühnenillusion eingelassen hat. So werden oft am Aufführungsprozess zwar beteiligte, aber für den Zuschauer normalerweise unsichtbare Akteure gezeigt, wie z.B. Bühnentechniker, Souffleure, Autoren, Regisseure, Zuschauer und Schauspieler. Auch real existierende Personen wie Théodore Fraenkel in L’Armoire à glace un beau soir (1922/23 verfasst) und Musidora in Le trésor des jésuites sollen auftreten. Gesellschaft und Kunst, Politik und Theater vermischen sich in den surrealistischen Stücken.7
In der Collage findet eine Juxtaposition disparater Realitäten statt, die aus ihren alten Zusammenhängen herausgerissen wurden und nun neue Beziehungen zueinander knüpfen. Die Affinität der Surrealisten zur Collage ist unter anderem auf Lautréamont und Pierre Reverdy zurückzuführen, die die Grundlagen der surrealistischen Bildtheorie geliefert haben. In Les chants de Maldoror (1869) schrieb Lautréamont, das Aufeinandertreffen zwei entfernter Realitäten sei „beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!“8 Die Nähmaschine und der Regenschirm sind häufig auftretende Motive in den surrealistischen Stücken, wie z.B. in S’il vous plaît, Victor ou les enfants au pouvoir oder Le désir attrapé par la queue (1941 verfasst). Analog zu Lautréamonts Bildkonzeption schrieb Reverdy einige Jahrzehnte später in der Literaturzeitschrift Nord-Sud (1918):
L’Image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.9
Im Zentrum steht die poetisch reine Emotion, die eben nicht durch die bloße Imitation der Realität erzeugt werde, sondern durch die Annäherung zwei entfernter Realitäten. Der Rezipient empfinde Freude und Überraschung angesichts des auf diese Weise entstandenen Bildes. Ein Jahr zuvor hatte Apollinaire die Überraschung bereits als wichtiges Element des esprit nouveau definiert: „C’est […] par la place importante qu’il fait à la suprise que l’esprit nouveau se distingue de tous les mouvements artistiques et littéraires qui l‘ont précédé.“10 Beim Aufeinandertreffen von zwei disparaten Realitäten entsteht ein neues Bild, dessen „lumière“11 eine transformative Kraft besitzt. Collage und surrealistische Bildtheorie stehen sich also sehr nah, denn hier wie dort treffen zwei an und für sich vertraute, aber voneinander entfernte Realitäten aufeinander und erzeugen in ihrer ungewöhnlichen Kombination überraschende Bilder, die eine desorientierende und transformative Wirkung auf den Rezipienten haben. Die Juxtaposition soll uns, so Breton, jegliches Referenzsystem entziehen und uns „dépayser en notre propre souvenir“12.
Hervorzuheben ist, dass hier zwei Realitäten, „sans sortir d’un champ de notre expérience“, aufeinandertreffen: die Realität ist immer der Ausgangspunkt, denn „[u]n paysage où rien n’entre de terrestre n’est pas à la portée de notre imagination“13. Die Neuheit der surrealistischen Kunst liegt also nicht in der Verwendung eines komplett neuen Materials, sondern in der freien Kombinatorik des bereits Existierenden.
Aufgrund seiner Multidisziplinarität ist das Theater prädestiniert für die Collage. Aragon hat die Collage mit dem Theater verglichen, da in beiden disparate Elemente in einen Rahmen bzw. auf eine Bühne geworfen werden: „le drame est ce conflit des éléments disparates quand ils sont réunis dans un cadre réel où leur propre réalité se dépayse.“14 In den surrealistischen Stücken ist die Collage stark präsent. Als Konstruktionsprinzip unterliegt sie beispielsweise dem im Kollektiv verfassten Stück Comme il fait beau!, für das Péret die Haupthandlung lieferte, während Desnos für die Wortspiele und die Ode an Silexame verantwortlich war. Breton hat schließlich mit Desnos zusammen die poetischen Einheiten assembliert, von ihm stammt auch das Lied der Koralle. Das Stück kulminiert in der Erscheinung Silexames, der mit seinem Gabelkopf, seinem Körper aus Muscheln und den mit Blättern bedeckten Armen selbst einem Wesen aus einer Max-Ernst-Collage gleicht. Häufig werden auch Elemente aus anderen Kunstformen und Lebensbereichen in die surrealistischen Stücke hineinmontiert. So werden beispielsweise Techniken des Kinos auf die surrealistische Bühne übertragen, wie z.B. die Montage (rapide Abfolge von voneinander unabhängigen Szenen in Poison, schnelle räumliche Sprünge in Au pied du mur), stummfilmähnliche Sequenzen (das „drame sans paroles“ Poison, mehrere Passagen in der Stummfilmhommage Le trésor des jésuites, die Ermordung von Lénore in L’armoire à glace un beau soir), Slow-Motion und Freeze Frames (in Victor ou les enfants au pouvoir und Le trésor des jésuites). Die Zeitung als Medium, das Raum und Zeit transzendiert und disparates Material wie in einer Collage präsentiert, fand großen Anreiz unter den Surrealisten: die Freiheit des Poeten „ne peut pas être moins grande que celle d’un journal quotidien qui traite dans une seule feuille des matières les plus diverses, parcourt des pays les plus éloignés“15, schrieb Apollinaire. In einigen surrealistischen Theaterstücken werden Zeitungsnachrichten entweder in den Theatertext collagiert (in Victor ou les enfants au pouvoir liest Charles seiner Frau authentische Artikel aus dem Matin vom 12. September 1909 vor) oder sind Vorlage für Bühnengeschehnisse (in Le trésor des jésuites basiert die Ermordungsszene von M. de Pérédès auf einer wahren Begebenheit). Die surrealistischen Theaterautoren collagierten auch gerne Fragmente aus der Literatur bzw. Fachliteratur in ihre Stücke (in Victor ou les enfants au pouvoir hat Vitrac Auszüge aus dem Larousse, der Ilias und einem Gedicht von Victor de Laprade in den Theatertext übernommen, und in Comme il fait beau! befinden sich Passagen aus Gebrauchsanweisungen für Medikamente). Auch Reklame kommt als Collageelement in den surrealistischen Stücken vor: in Vous m’oublierez verkündet Machine à coudre beispielsweise einen Werbeslogan über Pigeon-Lampen, den man damals in vielen Zeitungen lesen konnte.
Die Collage entspricht der Schnelllebigkeit und Zerstreutheit des modernen Lebens, das sich nicht mehr in seinen Sinnzusammenhängen nachvollziehen lässt. Die Wirklichkeit entzieht sich jedem Ordnungsversuch. Die radikale Juxtaposition von Realitätsfetzen verlangt von den Zuschauern eine Anpassung ihrer Sehgewohnheiten an eine urbane, rapide, multisensorielle Umgebung. Der Autor ist nun nicht mehr Schöpfer eines organischen Ganzen, sondern Dirigent seines Materials, das er so zusammenfügt, dass die Übergänge erkennbar bleiben. Eine Synthese der Einzelteile bleibt aus, sie stehen für sich allein und verweisen nicht auf ein sinnstiftendes Ganzes.
3.4.7 Wirkung auf den Zuschauer
Die Avantgarde hat die Beziehung zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten radikal verändert. Am Theater, wo Bühne und Zuschauerraum aufeinandertreffen, wird diese Beziehung so gut wie in keiner anderen Kunstform sichtbar. Die Positionen der Surrealisten gegenüber ihrem Publikum werden im Folgenden skizziert.
In ihrer spät-dadaistischen Phase sind die angehenden Surrealisten auf Krawall gebürstet: Schock, Unverständnis und Empörung prägen die Reaktionen der Zuschauer auf das Bühnengeschehen. Jarrys Auffassung vom Publikum als „masse inerte et incompréhensive et passive“1, die man ab und zu schlagen müsse, um an ihrem Stöhnen zu erfahren, wo sie sich befinde, ist bei den frühen Surrealisten noch stark präsent. Die avantgardistische Kunst soll kein Konsumgut für eine bräsige Bourgeoisie mehr sein, Theater soll nicht rühren, sondern aufrühren, es soll die Zuschauer zur Reaktion zwingen. Dieser provokante Charakter des frühsurrealistischen Theaters manifestiert sich im vierten Akt von S’il vous plaît, in dem ein vermeintlicher Zuschauer seinem Unmut lautstark Luft macht und schließlich empört den Saal verlässt:
Je répète que je ne comprends rien. (Applaudissements.) Il est probable que je ne suis pas le seul. (Debout sur son fauteuil.) Depuis quelque temps, sous prétexte d’originalité et d’indépendance, notre bel art est saboté par une bande d’individus dont le nombre grossit chaque jour et qui ne sont, pour la plupart, que des énergumènes, des paresseux ou des farceurs. (Le rideau tombe. Applaudissements.) Il est plus facile de faire parler de soi de cette manière que d’atteindre la vraie gloire aux prix d’un travail sérieux. (113)
Das Stück endet im Tumult, man verlangt nach den Autoren. Dieser vierte Akt, den Aragon später als „happening“2 avant la lettre bezeichnet hat, speiste sich in seiner Erinnerung aus echten Zuschauerreaktionen anlässlich der Uraufführung des zweiten Akts am „Théâtre de l’Œuvre“.3 Das avantgardistische Theater stößt beim gebildeten Publikum auf Unverständnis, Ratlosigkeit, Verärgerung und das Gefühl, zum Narren gehalten zu werden. In Soupaults Erinnerung blieben der Widerstand und die Empörung der Zuschauer angesichts der Aufführung des zweiten Akts zwar aus, was aber nichts an der Relevanz seiner Aussage ändert, dass die Surrealisten es auf Provokation abgesehen hatten. Ihm zufolge waren sie irritiert, dass,
lorsque furent joués, si l’on ose s’exprimer ainsi, la pièce de Ribemont-Dessaignes, Le Serin muet et le deuxième acte de S’il vous plaît, le public les écouta attentivement, du moins en silence. Ce qui nous surprit et même nous inquiéta. […] J’étais mécontent. J’avais l’impression que nous étions des acteurs amateurs mal à l’aise dans nos rôles. On aurait dû nous siffler mais on nous écoutait.4
Die Beziehung zwischen Akteuren und Publikum war nicht gleichberechtigt, man suchte keine Kommunikation. Das Bureau de Recherches surréalistes, das eigentlich als Mittler zwischen der Öffentlichkeit und den Surrealisten fungieren sollte, das aber nach kurzer Zeit „devant le nombre de curieux et d’importuns qui l’assiègent“5 wieder geschlossen wurde, steht sinnbildlich für die Verweigerung der Surrealisten, mit ihrem Publikum in einen echten Austausch zu treten. Im Second Manifeste (1930) machte Breton das Verhältnis der Surrealisten zu ihrem Publikum erneut deutlich:
L’approbation du public est à fuir par-dessus tout. Il faut absolument empêcher le public d’entrer si l’on veut éviter la confusion. J’ajoute qu’il faut le tenir exaspéré à la porte par un système de défis et de provocations.6
Diese Art der Publikumsbegegnung war nicht dauerhaft aufrecht zu erhalten, da sich die Schockwirkung durch Wiederholung und Gewöhnung abnutzte und zur kalkulierbaren und schließlich vom Zuschauer antizipierten und geforderten Geste wurde.
Im Gegensatz zu den antagonistisch geprägten surrealistischen Literaten stehen die Dramatiker Artaud und Vitrac, die zusammen mit Aron im Jahr 1926 das „Théâtre Alfred Jarry“ gegründet haben. Artaud hat die Einbeziehung des Publikums zu einem der wichtigsten Ziele des Theaters erhoben. Die Theateraufführung solle zu einem einmaligen und unwiederholbaren Ereignis werden, in dem der Zuschauer seine Existenz aufs Spiel setze, denn das, was auf der Bühne stattfinde, betreffe ihn direkt. Artaud nimmt sein Publikum als gleichberechtigten Partner, von dem auch etwas eingefordert werden kann, ernst:
L’illusion que nous cherchons à créer ne portera pas sur le plus ou moins de vraisemblance de l’action, mais sur la force communicative et la réalité de cette action. Chaque spectacle deviendra par le fait même une sorte d’événement. Il faudra que le spectateur ait le sentiment que se joue devant lui une scène de son existence même, et une scène capitale vraiment. Nous demandons, en un mot, à notre public, une adhésion intime, profonde.7
Die Theateraufführung wird zur Operation: das Publikum verlässt den Operationssaal nicht mehr so, wie es ihn betreten hat. In der Aufführung soll das Innerste des Zuschauers auf die Bühne gekehrt werden:
Le spectateur qui vient chez nous sait qu’il vient s’offrir à une opération véritable, où non seulement son esprit mais ses sens et sa chair sont en jeu. Il ira désormais au théâtre comme il va chez le chirurgien ou chez le dentiste. Dans le même état d’esprit, avec la pensée évidemment qu’il n’en mourra pas, mais que c’est grave, et qu’il ne sortira pas de là dedans intact.8
Das Theater der surrealistischen Dramatiker spricht das Innerste des Menschen an und wird zur „nécessité spirituelle“ und „opération magique“9. Artaud verspottet sein Publikum nicht mehr, sondern er sucht Verbundenheit und Kommunikation. Dafür braucht er ein talentiertes Publikum, das in der Lage ist, „de nous faire le minimum de confiance et de crédit nécessaires, en un mot de lier partie avec nous“10.
3.5 Zusammenfassung
Das poetische Theater steht in der Tradition des Surrealismus und führt das Theater der Surrealisten fort. Das surrealistische Theater war jedoch ein widersprüchliches Unterfangen. Die Widersprüche zeichnen sich bereits im Surrealismus im Großen ab: die Frage, ob die gesellschaftliche Erneuerung mit der Veränderung des Individuums oder aber der Gesellschaft beginnen musste, wurde zur Zerreißprobe für die Surrealisten. War es möglich, das Leben von der Kunst her zu revolutionieren? Oder musste man dafür in die Politik gehen? Vermochte es die Kunst, aus dem Bereich des Ästhetizismus herauszutreten, um im echten Leben Wirkung zu zeigen? Am Theater, wo die Kunst-Leben-Dichotomie aufgrund der Koexistenz von Bühne und Zuschauerraum besonders offensichtlich ist, tritt das surrealistische Dilemma ganz besonders zutage.
Zwar stand Breton dem Theater skeptisch gegenüber, da es finanziellen und materiellen Zwängen unterlag, als Zeichensystem nicht wahrhaftig war und als künstlerische Institution einen ästhetischen Selbstzweck verfolgte. Dennoch war der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und -stücke offenbarte.
Als Forschungsobjekt stand das surrealistische Theater vor zwei großen Herausforderungen. Aus praktischer Sicht waren viele surrealistische Stücke lange nicht zugänglich. Doch dank der in den späten 1960er Jahren einsetzenden Surrealismusforschung wurden die Theaterstücke endlich veröffentlicht, analysiert, geordnet und kontextualisiert. Aus theoretischer Sicht stellte sich die Frage, ob es ein surrealistisches Theater überhaupt geben konnte, schließlich widersprach die dem Theater inhärente Trennung von Bühne und Zuschauerraum der surrealistischen Intention einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis. Die Surrealisten sahen sich am Theater mit zwei Möglichkeiten konfrontiert:
1 Die Dramatiker des surrealistischen Theaters, Artaud und Vitrac, waren ernsthaft am Theater und seiner Weiterentwicklung von innen interessiert und nahmen Kenntnis von den bühnenspezifischen Gegebenheiten. Sie schlugen den ästhetischen Weg ein und riskierten damit den Verlust der Radikalität und der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Kunst.
2 Die Literaten des surrealistischen Theaters um Breton sahen das Theater als ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft zu revolutionieren. Sie hegten kein theaterspezifisches Interesse, ihre Stücke waren hauptsächlich verbaler Natur. Nachdem sie jedoch erkannt hatten, dass sich die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht aufheben, sondern lediglich verschieben ließ, zogen sie sich von der Institution Theater zurück.
Die Ästhetik des surrealistischen Theaters umfasst viele Aspekte, die später auch für das poetische Theater von Relevanz sein werden.
Die Poesie hat bei den Surrealisten einen hohen Stellenwert. Sie ist kein bloßes Ausdrucksmittel mehr, sondern wird praktisch und zur Aktivität des Geistes. Sie erfährt somit eine Entgrenzung aus der Literatur hinein in andere Bereiche des Lebens, wo sie den Menschen aus seinen gesellschaftlichen und moralischen Ketten befreien soll. Bei den Surrealisten demokratisiert sich die Poesie und wird für alle zugänglich.
In den literarisch geprägten surrealistischen Stücken Bretons, Aragons, Picassos etc., aber auch in den dramatischen Stücken Vitracs, ist die Sprache das zentrale Bühnenelement. Sprache, Denken und Realität waren für die Surrealisten Synonyme: die Sprache musste erneuert werden, um ein neues Denken und damit eine neue Realität hervorzubringen. Die Erforschung der verborgenen Bereiche des menschlichen Daseins geschah über die Sprache. Hierfür bot sich der poetische Dialog ganz besonders an, wo zwei oder mehrere Gesprächspartner einander als Sprungbrett ins Unbewusste dienten. Die surrealistische Technik der écriture automatique ermöglichte es jedem, das Denken von verfremdenden Filtern wie Moral, Vernunft und Konventionen zu befreien und in den bisher im Dunklen liegenden Bereich der Mythen und Träume vorzustoßen. Die Figuren in den surrealistischen Theaterstücken sind rein verbaler Natur, sie sind Subjekte und Objekte zugleich und zapfen eine übergeordnete poetische Sphäre an.
Die Surrealisten lebten nicht in einer Parallelwelt, für sie blieb die Realität immer der Ausgangspunkt, um das Wunderbare zu erforschen. Realität und Irrealität, Wirklichkeit und Traum, Luzidität und Delirium etc. waren für sie keine voneinander getrennten Sphären, sondern standen im Austausch miteinander. Die Surrealisten waren tief in der Wirklichkeit verwurzelt, knüpften aber neue Beziehungen zu ihr. Das „merveilleux“, das in den surrealistischen Theaterstücken in Form von überraschenden, ungewöhnlichen, wunderbaren Momenten stark präsent ist, war ihre Richtschnur. Es entstand aus einer Umwertung der Beziehung zur Realität und war für jeden zugänglich.
Die Surrealisten wollten binäre Kategorien zum Einsturz bringen, so auch die Dichotomie Traum-Wachzustand. Diese Bereiche standen sich nicht gegenüber, sondern kommunizierten miteinander. Zu einem besseren Verständnis des Menschen musste der Traum weiter erforscht werden, der, wie auch der Wachbereich, einer Ordnung gehorchte. Die Surrealisten nutzten Techniken, wie z.B. das Schreiben im Halbschlaf, Traumprotokolle und Trancephasen, um der Logik des Traums auf den Grund zu kommen. Der Traum spielt auch in den surrealistischen Theaterstücken eine große Rolle, wo er zur Pforte in die verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz wird und den Figuren alternative Lebensentwürfe aufzeigt. Außerdem findet sich der Traum als Konstruktionsprinzip in manchen Stücken wieder.
Die Surrealisten wollten neue Mythen erschaffen. Mythen bieten einen alternativen Zugang zur Realität, da sie sich den wichtigen Fragen des Lebens nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf affektiver Ebene nähern. Paris war das Zentrum dieser modernen Mythologie, die eng mit der Suche nach dem Wunderbaren verknüpft war. Die französische Hauptstadt mit ihren Reklamen, Luxusgegenständen und Flaneuren wird in den surrealistischen Theaterstücken zur Protagonistin.
Die Collage, also die Übernahme von kunstfremdem Material in die Kunst auf solche Weise, dass sein Verwendungszweck und sein Wesensunterschied zu dem vom Künstler selbst angefertigten Material erkennbar bleiben, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reaktion auf eine nicht mehr zu bewältigende Wirklichkeit. Die moderne Welt war zu komplex geworden, sie konnte nicht mehr als Ganzes erfasst werden, und das, was bisher als selbstverständlich gegolten hatte, wurde nun in Frage gestellt: Realität und Identität lösten sich langsam auf. Dasselbe geschieht in der Collage, wo traditionelle Dichotomien aufweichen. Das collagierte Material wird zu Kunst aufgewertet, die Kunst wird zu Nicht-Kunst abgewertet. Der Künstler ist nicht mehr das inspirierte Genie, sondern Organisator von Material, genau wie der Theaterregisseur. Die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischt in der Collage, wo das Alltägliche in die Kunst einbricht. Die Collage entspricht der surrealistischen Bildtheorie, nach der das Aufeinandertreffen zwei disparater Realitäten zu neuen, überraschenden Bildern führt, die eine transformative Kraft auf den Betrachter ausüben. Demnach geht es in der surrealistischen Poetik weniger um die Erfindung etwas gänzlich Neuen, sondern um die freie Kombinatorik bereits bestehender Elemente. Collage und Theater sind sich hier sehr ähnlich, denn hier wie dort geht es darum, Fragmente aus unterschiedlichen Bereichen der Realität auf einer geistigen oder konkreten Bühne zusammenzuführen. In den surrealistischen Theaterstücken wurde die Collage als Konstruktionsprinzip angewendet, und Elemente aus Kino, Zeitung und Literatur wurden in den Theatertext hineincollagiert.






