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Sie war erleichtert; auch wenn ihre Augen wehtaten und sie sich seltsam zittrig fühlte, war sie doch etwas ruhiger als zuvor. Schweigend hockte sie im Bett und kam zur Ruhe. Dadurch legte sich bleierne Müdigkeit in ihre Knochen und machte sie schläfrig. Vorsichtig hob sie Spítha von seinem Platz am Fußende und bettete ihn auf ein zweites Kissen, bevor sie das vollgeheulte umdrehte und sich einfach ins Bett rollte. Puki kuschelte sich direkt an ihren Oberkörper und rollte sich zum kleinen Knäul. Müde und erschöpft von ihrem Nervenzusammenbruch schlief Vica ein.
Sie verschlief die Abreise der drei Unterweltler am nächsten Morgen und wäre am liebsten einfach liegen geblieben, als sie schließlich unwiederbringlich wach war. Puki war längst fort und scheinbar aus dem Fenster geklettert, um zu jagen. Immerhin einer, der sich sein Essen ganz allein besorgen konnte. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte das kleine Wiesel mit ihr gehungert. Damals auf der Irreninsel war Nahrung stets Mangelware gewesen. Mäuse für Puki hatte es meistens gegeben, aber nicht immer hatte der pelzige Kavalier sie allein lassen wollen, um auf die Jagd zu gehen, während sie selbst nichts essen konnte. Vögel hatten Vica Essen von den Märkten gestohlen und es bis auf die Irreninsel getragen, aber ständig konnte sie das nicht machen, ohne aufzufallen. Ab und an schickte sogar der schwarze Fürst Vorräte auf die Insel und M hatte dafür gesorgt, dass sie nicht verhungerte. Das Leben dort war trotzdem nie gut gewesen und sie wusste auch, dass sie nicht mehr lange zu leben gehabt hätte. Vielleicht wäre es trotzdem besser gewesen als die Strapazen dieser Reise.
Jetzt hatte sie keinen Hunger. Obwohl die Tränen in der vergangenen Nacht hätten helfen sollen, war ihr Magen wie zugeschnürt. Als hätte sie eine aufgedunsene Masse gegessen, die ihren Bauch nun füllte, ohne sie tatsächlich mit Nährstoffen und Energie zu versorgen, fühlte sie sich voll und nicht in der Lage, überhaupt irgendetwas zu essen. Nur ihr Hals brannte. Einen Schluck Wasser hätte sie vertragen können, um das elendige Brennen in ihrem Rachen zu stillen.
Beim Schlafen war ihr wohl die Kapuze vom Kopf gerutscht. Noch mehr als sonst fielen ihr die Haare ins Gesicht und ihre Ohren waren ungewöhnlich frei. Mühselig setzte sie sich auf. Ihre Glieder fühlten sich noch seltsam schwer an, obwohl sie definitiv genug Schlaf bekommen hatte. Eigentlich hatte sie sogar verhältnismäßig gut geschlafen. Angesichts ihres aktuellen Zustandes hatte sie damit gerechnet, von Albträumen geplagt zu werden oder gar nicht erst einschlafen zu können. Stattdessen schien auch guter Schlaf nicht dazu geführt zu haben, dass sie ihre Ängste vergaß. Jetzt, mit kühlerem Kopf, hatte sie allerdings immerhin das Gefühl, dass sie sich wieder im Zimmer zurechtfinden konnte. Was auch immer sie da am Vorabend überkommen hatte, war nicht zum Dauerzustand geworden. Vica schämte sich, so zusammengebrochen zu sein. Zum Glück hatten nur Puki und Spítha mitbekommen, wie sie in ihr Kissen geheult hatte.
Spítha. Das Geräusch seines Atems, das zuvor dauerhaft an ihre Ohren gedrungen war, war nicht zu hören. War sie doch noch eingeschränkt in ihren Sinnen? Sie spitzte die Ohren und tastete auf dem Kissen neben ihr nach dem kleinen Drachen. Die kleine Spitze eines dünnen Schwanzes stieß gegen ihren Zeigefinger. Erschreckend kalt war die glatte Schuppenhaut und noch immer versuchte sie den mühsamen Atem des Drachen zu hören. Ganz vorsichtig tastete sie nach dem kleinen Kopf. Spítha?, dachte sie und versuchte in den Kopf des mächtigen Wesens einzudringen. Ihre Finger fuhren über die Narben in der Schuppenhaut. Er war zum kleinen Nest gerollt und reglos … und viel zu starr. Spítha?, fragte sie nochmal, dieses Mal panischer. Der Drache hatte auch schon in den vergangenen Tagen nicht oder nur unkoordiniert geantwortet, bestimmt schlief er nur. Gedanken hatten nicht wirklich eine Sprache und er hatte so starke Schmerzen, dass Chaos in seinem Kopf herrschte. Jetzt aber vernahm sie nicht einmal sinnlose Gedankenfetzen.
Vorsichtig strich sie über die reglosen Nüstern, während schon wieder Tränen über ihr Gesicht rannen. Sie konnte und wollte nicht glauben, was ihre Finger eindeutig spürten. »Puki!«, rief sie verzweifelt und ihre Stimme klang schrill und verzerrt. Zitternd streichelte sie weiter über den reglosen Drachenkörper, suchte nach Körperwärme, nach einem Zeichen von Atem oder einem Herzschlag. Nichts. Vorsichtig hob sie das kleine Tier hoch und hielt ihn sich direkt ans Ohr, in der Hoffnung, vielleicht doch etwas zu hören. »Puki!«, rief sie nochmal. Sie brauchte seine Augen, seine Sinne und seine tröstende Nähe, denn die Kälte des kleinen Körpers schien in sie einzudringen und sich um ihr Herz zu legen. Schniefend drückte sie den leblosen Spítha an sich und schluchzte schon wieder. Noch lächerlicher erschienen ihr ihre Tränen der vergangenen Nacht nun. Sie hatte geschlafen, als er sie gebraucht hatte. Allein war er gestorben, während sie direkt neben ihm gelegen und geschlafen hatte.
Weinend wippte sie auf dem Bett, den toten Drachen an sich gepresst, und schluchzte. Wie hatte das passieren können? Wie hatten sie das zulassen können! Alle hatten sie im Stich gelassen und endlose Wut kochte auf. Auf sie alle! Gwyn war schuld, dass der kleine Drache qualvoll verendet war, und die bescheuerte Dorfmutter mit ihren leeren Versprechen hatte ihre Zeit verschwendet. Die Hatschi und ihre sinnlose Magie waren mit ihrer geheuchelten Sorge eine Katastrophe, genauso wie Mico, der sich geweigert hatte, ihr zu helfen. Er war ein verfluchter Magier! Sicher hätte er es gekonnt. Hätte Gina ihre bescheuerten Späße gelassen, wäre sie nicht mit Spítha hingefallen und vielleicht hatte ihm das den Rest gegeben. Sie war auch sauer auf Puki, der mit seinem Theater das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, sodass sie sich nicht um Spítha gekümmert hatte, als er sie gebraucht hatte, und natürlich war sie sauer auf M. Der Messerdämon, der doch sonst jedes Problem lösen konnte, war nur auf seine eigenen Vorhaben fokussiert und darauf, die verzogene Prinzessin zu entführen. Spítha hatte für seinen bescheuerten Plan sein Leben gelassen und es interessierte den Dämon nicht einmal! Schluchzend und zitternd vor Angst, Wut und Schmerz hockte Vica auf dem Bett und nahm gar keine Notiz von dem Ding, das gegen ihr Bein kullerte. Sie weinte und verfluchte alle, die sie im Stich gelassen hatten. Wut kochte in ihr, auf alle, die sie ihre Freunde schimpfen sollte. Am meisten jedoch war sie wütend auf sich selbst.
Als Puki endlich wiederkam, saß sie noch immer auf dem Bett und klammerte Spítha an ihre Brust. Wie eine ausgeleierte Puppe hing er in ihren Armen und obwohl der taube Schmerz nicht weichen wollte, waren die Tränen einfach plötzlich fort gewesen. Wie eingefroren hockte sie auf dem Bett und hatte sich dem Rauschen in ihren Ohren hingegeben. Alles war taub. Ohne etwas sehen zu können, konnte sie sich nicht einmal damit aus ihrer Starre ziehen. Der Horror, der sich gleichzeitig vor ihrem inneren Auge abspielte, war kaum auszuhalten und es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können. Immer wieder malte sie sich die letzten Momente in Spíthas Leben aus, wie er verzweifelt ein letztes bisschen Rauch ausstieß oder ein gequältes Geräusch von sich gab, bevor seine Augen leer wurden und er die Welt der Lebenden verließ. Sie bemerkte das Wiesel kaum, das nichtsahnend und satt auf dem Fensterbrett hockte und sie überrascht musterte. Ekelhaft abfällige Gedanken drängten sich in Vicas Kopf. Dass er sicher froh war, seinen Nebenbuhler los zu sein, und dass er den Drachen ohnehin nie gemocht hatte. »Wo bist du gewesen?«, fauchte sie und schnitt sich damit selbst noch schlimmer ins Herz. »Bist du jetzt zufrieden?«, schrie sie, bevor sie es verhindern konnte. Was war nur in sie gefahren? Das Schuldgefühl, dass sich ohnehin schon in ihr aufbäumte, wurde noch etwas grausamer und sie wollte sich entschuldigen.
Wäre Puki ein Mensch gewesen, hätte er vielleicht verstanden, dass sich ihr Schmerz nur an ihm entlud, weil sie verzweifelt war, nicht, weil sie ihn wirklich für schuldig gehalten hätte. Vielleicht wäre er zu ihr gegangen, hätte sie in den Arm genommen und trotzdem mit ihr getrauert. Dann hätte sie sich in einer späteren ruhigen Minute entschuldigen können und er hätte gesagt, dass er ihr nicht böse war und selbst vielleicht genauso reagiert hätte. Leider war Puki kein Mensch. Puki war ein Wiesel, das direkt nachdem sie sich endlich vertragen hatten von ihr angeschrien wurde und nur sah, wie sie einen kleinen Drachen gegen die Brust drückte. Wie sollte er verstehen, was geschehen war und warum Vica ihn so gnadenlos anfauchte? Sie konnte durch den ganzen Raum spüren, dass er verschreckt und verletzt war und bevor sie etwas sagen konnte, war er wieder in den Urwald verschwunden.
Vica gab ein gurgelndes Geräusch von sich, weil kein echter Aufschrei herauskommen wollte. Wimmernd, fast jaulend hockte sie auf dem Bett und wusste weder ein noch aus. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, vernahmen ihre Ohren einen Augenblick später ein Klopfen an der Tür. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie es kaum schaffte, sich die Kapuze wieder auf den Kopf zu zerren, die noch immer auf ihren Schultern lag. Es hätte ihr unter diesen Umständen egal sein können, aber gerade war das Bedürfnis, sich zu verstecken, noch größer als sonst und so kauerte sie sich weiter zusammen und rang kläglich um ein wenig Fassung.
Natürlich öffnete sich die Tür, obwohl sie niemanden hereingebeten hatte. Es war nicht M. Seine einzigartig leise und düstere Art hätte sie sofort erkannt. Außerdem war der wohl schon fort und hatte sie hier zurückgelassen. »Was bei allen Göttern ist hier denn los?«, fragte Micos Stimme etwas verdutzt und erneut ballte sich die Wut in Vica.
»Verschwinde!«, schrie sie ihn an und wollte etwas nach ihm werfen. Er hatte ihr wirklich gerade noch gefehlt. Sie konnte ihn nicht ausstehen und er hatte seine Hilfe verwehrt. Um alles in der Welt konnte er ihr gestohlen bleiben! Am liebsten hätte sie ihm das Gesicht zerkratzt und mit einem kleinen Anflug Genugtuung erinnerte sie sich daran, dass Spítha das bereits getan hatte.
»Heilige«, murmelte er und sie hörte, dass er noch einen Schritt näherkam. Dieser Magier wusste wahrlich nicht, was gut für ihn war.
»Hörst du schlecht?!«, fuhr sie ihn an und ihre ohnehin schon schrille Stimme überschlug sich auch noch. Sie wollte gar nicht wissen, was sie für einen Anblick bot, und ihm gönnte sie die Genugtuung, sie so am Boden zu sehen, garantiert nicht.
»Vica, pass auf, du zerquetscht es noch«, knurrte er und blieb direkt neben dem Bett stehen. Vielleicht klang sogar eine Spur von Sorge in seiner Stimme mit.
Zu spät! Viel zu spät. Ein freudloses Lachen mischte sich mit einem Knurren. Der Laut, der dabei rauskam, war nur noch lächerlich. »Sein Name ist Spítha und auch du bist schuld, dass er tot ist!«, wollte sie schreien, aber es wurde mehr und mehr zu einem weinerlichen Flüstern. Verzweifelt klammerte sie sich noch etwas fester an den leblosen Körper.
Mico seufzte. »Erstens hat er mich verunstaltet, nicht umgekehrt, zweitens war jedem klar, dass er nicht mehr lange hat und drittens sprach ich nicht von dem Drachen.« Ganz konnte er seinen genervten Tonfall nicht verbergen, aber er klang immerhin, als würde er sich Mühe geben. Vielleicht hatte er auch ernsthaft Angst, sie könnte ihn sonst erwürgen, denn sie war kurz davor. Trotzdem beugte er sich vor und sie spürte ihn in ihrer Nähe.
»Hau ab.« Sie schlug nach ihm und sie traf, wo genau wusste sie nicht, aber es war auch egal. Er würde seine Greifer nicht an Spítha legen, aber er griff gar nicht nach dem leblosen Drachen. »Was wird das?«, quietschte sie, als seine Finger ganz kurz ihr Bein streiften.
Erstarrt hockte Vica da und verstand nicht, was er tat. »Bevor du verdammtes Spiegelei machst, weil du eine Leiche zerquetschen willst … Wer weiß, wie stabil das Ding ist.« Musste er sich selbst jetzt noch über sie lustig machen? Besaß dieser Kerl Taktgefühl?
»Spiegelei?!« Was wollte er von ihr? Ein Gedanke nahm in ihrem vernebelten Kopf Form an, aber sie war ob der Situation wesentlich langsamer als sonst.
»Drachen haben zwei Herzen. Das zweite übernimmt, wenn das erste durchstochen ist und der Drache im Sterben liegt. Es hält sie lange genug am Leben, um ein Ei zu legen. Was hast du denn geglaubt, wo es ist?«, fragte er spitz und vertrieb den Nebel aus Vicas Gedanken ein wenig.
Das hatte sie nicht gewusst. Spítha hatte nichts davon erzählt. Er hatte nicht einmal erwähnt, dass der Armbrustbolzen sein Herz durchstochen hatte, auch wenn er zwischenzeitlich erstaunlich klar gewesen war und sie ein paar Worte hatten wechseln können. Was passierte, wenn ein Drache an etwas anderem starb? Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass er ein Ei legen würde? Warum hatte sie nicht gemerkt, dass es ihr buchstäblich in den Schoß gefallen war? »Gib es mir!«, forderte sie und streckte die Hand in seine Richtung. Dafür musste sie erstmals einen Arm von Spítha lösen, der sofort hinabhing.
»Erst wenn du wieder bei Verstand bist«, antwortete der Magier und sie fühlte sich unangenehm gemustert. Manchmal konnten Blicke penetrant wie eine tatsächliche Berührung sein. Dies war ein solcher Moment. Selbst Vicas trauerschweres Gemüt erkannte, dass ein nicht ganz unberechtigter befremdeter Blick auf ihr lag.
»Ich bin bei Verstand«, stellte sie klar und klaubte endlich genug Fassung zusammen, um zumindest zu einer natürlichen Stimmlage zurückzukehren. »Was kümmert es dich, wenn ich es kaputt mache? Spítha war dir doch ohnehin egal!« Endlich schaffte sie es, einen bissigen weniger weinerlichen Tonfall zustande zu bringen.
»Vica, dein toller Freund hat uns alle fast getötet und nicht nur mich nachhaltig verletzt. Du erwartest doch nicht ernsthaft von mir, dass ich Freundschaft mit sowas schließe.« Erstaunlich ruhig blieb der Magier. Vielleicht war er gezwungen, sich mehr zusammenzureißen, seit ihnen allen Gwyn als Puffer fehlte. Zuvor hatte man sich darauf verlassen können, dass der Gaukler Streit in der Gruppe zuverlässig abfing oder minderte. Scheinbar hatte sich der Griesgram davon beeindrucken lassen, sodass er sich nun nicht mehr so bescheuert verhalten konnte wie zuvor.
»Ihr habt ihm Angst gemacht.« Sacht strich Vica über die kalte Schuppenhaut. Die Erinnerung an den chaotischen Kampf in der Drachenhöhle war präsent und sie hatte auch den Seitenhieb verstanden, weil M in Kauf genommen hatte, von dem damals gigantischen Spítha gebissen zu werden, anstatt sie seinen Zähnen zu überlassen.
»Gwyn hat sich nur bewegt!«, knurrte Mico und sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er die Arme verschränkte.
»Erstens hat er nicht verstanden was ihr von ihm wolltet und zweitens hat er sehr schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht«, verteidigte sie ihren Freund. »Er konnte doch nicht sehen, dass er nicht nach einer Waffe gegriffen hat.« Es war schon schlimm genug, dass sie nicht gewusst hatte, dass Drachen ein Reserveherz hatten. Sie musste sich nicht noch weiter belehren lassen.
Ihr Gegenüber schnaubte. Natürlich verstand er das nicht, obwohl sie sich gut vorstellen konnte, dass Mico an Spíthas Stelle nicht anders gehandelt hätte. »Jedenfalls«, beendete er das Thema, »sind Drachen mächtige magische Wesen. Wenn ich nicht zerfleischt werde, habe ich nichts gegen sie einzuwenden, und anhand der Größe dieses Eis ist wohl davon auszugehen, dass der Nachkomme mitgeschrumpft ist. Es wäre Frevel, es zu zerstören.« Vielleicht klang gar etwas Bewunderung in der Stimme des Magiers mit. Manchmal vergaß Vica, dass er vielleicht doch eine ganze Menge über Magie wusste und trotz seines abstoßenden Charakters ein echter Magier war.
»Du hättest einfach Spítha retten können.« Fast drängten sich wieder Tränen auf, als sie darüber nachdachte, wie alle ihn im Stich gelassen hatten.
»Er war nicht mehr zu retten! Das zweite Herz kann das erste nicht ersetzen«, erklärte er mit einem genervten Seufzen, als sei das Allgemeinwissen, das jeder haben musste.
»Und du bist jetzt Drachenexperte, oder was?« Sie wollte nicht zugeben, dass sie keine Vorstellung davon hatte, warum ein Drache ausgerechnet zwei Herzen hatte. Warum nicht zwei Lungen oder zwei Leben generell? Und was sollte ein zweites Herz, mit dem man nicht leben konnte? Warum hatte er nicht einfach eine starke Selbstheilung?
Mico stöhnte ein zweites Mal und sie spürte, wie das Bett wippte, als er sich setzte. Sah er sie an oder betrachtete er das Ei oder gar Spítha? »Drachenherzen haben einzigartige und unersetzliche magische Eigenschaften. Wird ihnen das erste gestohlen oder durchstochen, sind sie dem Tode geweiht. Sie haben aber noch ein zweites Organ, das das Herz für kurze Zeit ersetzen kann, bis sie es schaffen, ein Ei zu legen, um den Fortbestand der wenigen existierenden Drachen zu sichern.«
Vicas Kiefer malmte und sie verdrückte schon wieder eine Träne, als sie daran dachte, wie Spítha sein Herz verloren hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass Spítha ein Männchen war, aber vielleicht gab es bei Drachen keine zwei Geschlechter. Micos Erklärung klang eher, als wäre sie für Drachen im Allgemeinen gültig. »Was soll die Nachhilfe?«, knurrte sie. Die Blinde ärgerte sich, dass sie nichts davon gewusst hatte. Normalerweise wusste sie mehr über die Tierwelt als alle anderen, aber nur, weil sie eine tiefe Verbundenheit mit den Tieren hatte. Wenn es um Magie oder Bildung ging, hatte sie kaum Wissen oder Erfahrungen.
»Damit du verstehst, dass es wichtig ist, dass ich sein Herz an mich nehme.« Sie schlug ihn so schnell, dass er keine Chance hatte, ihr auszuweichen. Laut schallte die Ohrfeige durch den Raum und sie hoffte, dass sie die Narbe, die Spíthas Kralle hinterlassen hatte, getroffen hatte.
Mico zischte einen äußerst rüden Fluch und stand auf, um sich aus ihrer Reichweite zu bringen. »Es ist nicht so, als würde es ihn stören!« Ärgerlich murmelte er eine weitere Verwünschung.
»Du legst keinen Finger an ihn.« Wieder drückte Vica den toten Drachen an ihre Brust. Das kam überhaupt nicht in Frage! Spítha würde nicht als Zutat für einen bescheuerten Magier herhalten. Magie, die über die Organe eines anderen Lebewesens wirkte, konnte ohnehin nichts Gutes bedeuten.
»Es könnte uns allen den Arsch retten! Was kümmert es dich, ob du ihn mit oder ohne Herz begräbst?« Völliges Unverständnis schlug ihr von ihm entgegen und sie hätte ihn am liebsten noch einmal geschlagen, hätte er nicht so weit außerhalb ihrer Reichweite gestanden.
»Es kümmert mich, weil du ihm erst nicht hilfst und ihn dann für deine dreckigen Spielchen missbrauchen willst«, fauchte sie ihn an und spürte Ekel in sich aufwallen. Was für Menschen waren nur um sie herum?
»Nichts daran ist dreckig! Es ist göttergegebene Kraft, im Gegensatz zu deiner heidnischen Absonderlichkeit!« Schnaubend plusterte er sich weiter auf. Er glaubte doch tatsächlich, dass seine Magie wertvoller sei als ihre. Sie hatte fast vergessen, wie unausstehlich arrogant er war.
»Immerhin konnte ich mit meiner Absonderlichkeit dein beschissenes Leben retten, ohne einem unschuldigen Wesen das Herz rauszureißen«, schrie sie ihm entgegen. Sie hatte ihn zwar in Om’falo nicht direkt gerettet, aber ohne ihre Karten wäre er im Kerker oder am Galgen geendet.
»Unschuldig?!« Sarkastisch lachte er auf. »Ja, geradezu harmlos!« Vermutlich deutete er auf sein entstelltes Gesicht. Das hatte er definitiv mit jeder Minute mehr verdient. »Er ist schon tot, Vica!« Ärgerlich fuhr auch er sie an.
»Wenn du jetzt nicht aufhörst, sein Herz zu verlangen, jage ich dir eine giftige Schlange auf den Hals!« Es war die beste Drohung, die ihr einfiel. Aktuell war sie sich nicht sicher, ob sie ihn im direkten Kampf hätte besiegen können. »Gib mir das Ei und verschwinde!«
Mico machte ein spöttisches Geräusch. »So viel zu dreckiger Magie«, murmelte er. Laut sagte er: »Kein Herz, kein Ei. Das taugt im Notfall sicher auch.« Dann ging er und Vica explodierte. Was nahm er sich heraus? Dieses Ei stand ihr zu und sie würde es nicht seinen dreckigen Fingern überlassen.
Wütend stürmte sie ihm hinterher. Sie fand sogar auf Anhieb ihren Stock auf dem Boden. Der Ärger schärfte ihre Sinne wieder genug, um sich zurechtzufinden. Spítha ließ sie auf dem Bett liegen und rannte dem Magier hinterher. »Mico«, schrie sie und lauschte auf seine Schritte. »Das wirst du bereuen!« Das erste Tier, das ihr über den Weg lief, war ein kleiner Gecko. Ohne zu zögern, packte sie ihn, setzte ihn auf ihre Schulter und nutzte seine Augen, um Mico auszumachen, der geradezu vorsichtig auf den Wald zuhielt. Was auch immer er da wollte.
Hastig rannte sie ihm nach. Sie würde ihm den Schädel spalten, wenn sie musste. Dieses Ei gehörte ihr und nichts in der Welt konnte sie dazu bringen, davon abzulassen. Der Magier kümmerte sich nicht weiter darum und sie musste rennen. Das Dorf blieb schon nach wenigen Schritten hinter ihr und sie musste sich durch den Wald schlagen. Es forderte zu viel von ihrer Konzentration, um die Verbindung mit dem Gecko zu halten. Verstört und hektisch huschte das kleine Reptil von ihrer Schulter und verschwand im Wald. Es war egal. Sie hatte ihn gefunden. Hier im Wald reichte das Rascheln seiner Schritte im Unterholz, um ihn anzugreifen. Gerade als sie ihm einen kräftigen Schlag überziehen wollte, blieb er stehen. »Nicht!«
Sie erstarrte. Ja, sie hatte es auch gehört. Jetzt verstand sie auch, weshalb er in den Wald gegangen war: Er hatte etwas Verdächtiges gesehen oder gehört und wollte nachsehen. Den Stab über den Kopf gehoben war sie erstarrt und ihr Ohr zuckte, als sie etwas rechts von sich vernahm. Sie wollte in defensive Haltung gehen, aber jemand oder etwas hielt ihren Stab fest und hinderte sie daran. Ehe sie sich versah, war überall um sie herum eindeutig menschliche Bewegung, und als sie den Ersten angreifen wollte, hielten Männerhände sie fest und eine wahre Pranke drückte ihr den Mund zu. Von Mico war nichts zu hören.
Hektisch wand sie sich im Griff der Person und spürte hartes Metall zwischen sich und dem Angreifer. Eine Panzerung, zweifellos. Gepanzerte Soldaten. Viele davon. Und niemand hatte sie kommen sehen. Das konnte nur eines bedeuten: Cecilias Schiff hatte sie gefunden.

Stadt der Lügen
Die Unterwelt war so unwirklich, dass Leén beinahe geglaubt hätte, durch einen besonders finsteren Traum zu laufen. Noch immer war sie benommen und es kostete sie einiges an Kraft, auf den Beinen zu bleiben. Machairis Dunkelheit war stets nur temporär gewesen. Überwältigend und plötzlich hatte sie sie erdrückt und dann nach kurzer Zeit wieder losgelassen. Hier war es anders. Die Finsternis war allgegenwärtig. Von allen Seiten drückte sie auf Leén ein und ihr Licht focht tief in ihrem Inneren einen unaufhörlichen Kampf dagegen, den es nicht gewinnen konnte. Es war ihr am Vortag kaum gelungen, das Licht zurückzuhalten, und sie hatten viel zu schnell aufhören müssen. Nun konnte sie es kaum erreichen, spürte nur einen Schatten der üblichen Kraft und wünschte sich, Machairi hätte sie gezwungen, weiterzuüben. Hätte sie echte Kontrolle gelernt, hätte sie es vielleicht festhalten können.
Schon im Fall hatte sie die Kontrolle verloren. Die plötzliche Dunkelheit und Leere waren so allgegenwärtig und unendlich gewesen, dass sie keine Chance gehabt hatte, dagegen zu stehen. Als das Licht nicht hatte ausbrechen können, hatte die Panik sie überkommen und für viel zu lange Zeit war sie in einen unangenehmen Zustand verfallen, in dem ihr Körper trotz ihrer Ohnmacht gezuckt hatte und versucht hatte, sie in Sicherheit zu bringen. Es war ihm natürlich nicht gelungen. Ironischerweise war es ausgerechnet Machairis Stimme gewesen, die sie zurückgebracht hatte. Sie würde wohl nie ganz verstehen, was dieser Dämon an sich hatte, dass er sie in beiden Extremen beeinflussen konnte.
Wie durch ein Wunder hatte sie trotzdem genug Hoffnung schöpfen können, um aufzustehen und dem Dämon durch seine Heimat zu folgen. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie irgendetwas Lebendiges von hier kommen sollte. Erst recht nicht etwas so Perfektes wie Machairi. Doch was sollte er anderes sein als ein Dämon oder eine andere Kreatur aus der Unterwelt, wenn die Dunkelheit ihm so anhaftete wie ihr das Licht? Vielleicht war er ihr Gegenstück, oder sie sein Gegenstück. Wenn immer Gleichgewicht herrschen musste, konnte es doch sein, dass einem Götterkind ein Dämonenkind folgte, oder? Der Gedanke, dass Ebos persönlich sein Vater sein könnte, drängte sich unweigerlich auf und ließ ihr jedes Mal wieder beinahe die Beine einknicken. Ihn fürchtete sie am meisten. Es war hier schließlich nicht ausgeschlossen, dem Herrn der Unterwelt persönlich zu begegnen.