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Wie die Kämpfenden sich drehten, erhaschte die Prinzessin erstmals einen Blick auf die Züge des Cecilian und fuhr im Halbdunkel der geöffneten Luke zusammen. Abgrundtief schwarze Augen musterten den fremden Prinzen mit eisiger Kälte, die selbst Koryphelia durch Mark und Bein fuhr. Er war furchteinflößend. »Es gibt keine Gefangenen.« Ein bedrohlicher Unterton durchwob das feine Geflecht der Melodie, die er seine Stimme nannte.
»Ich … bin nicht … freiwillig hier!« Äußerst peinsam stockte der Prinz beim Sprechen, weil er nun mehr Kraft in seine Hiebe fließen ließ und gleichzeitig mit der fremden Sprache kämpfte. Koryphelia schob die Luke etwas weiter auf, um besser sehen zu können, während sie gebannt das Geschehen verfolgte.
An dieser Stelle hörte der Schatten auf, nur auszuweichen. Mit einer Geschwindigkeit, dass ein Blinzeln ausgereicht hätte, um es zu verpassen, entwand er dem Prinzen das Schwert, griff an seinen Kragen, zog ihm die Beine fort und kippte ihn über die Reling, dass der Harethi kopfüber über dem Meer hing. Fest umklammerte der weiße Handschuh den kostbaren Stoff der Gewänder des Prinzen, der sich bedenklich unter seinen Fingern spannte. »Ein Wort und ich mache deine Rettung vorm Ertrinken gerne rückgängig.«
Energisch stieß Koryphelia die Luke auf und trat an Deck. Heirat oder nicht, sie konnten Hareths Prinzen nicht einfach ins Meer werfen. Möglichst würdevoll trat sie heran und straffte die Schultern. »Bitte zieh ihn wieder hoch«, sprach sie den Schatten an. Sie hatte ihr ganzes Leben in der Nähe furchteinflößender Männer verbracht, auch wenn Machairi dem Wort eine neue Bedeutung verlieh.
»Solltest du nicht unter Deck sein?«, antwortete er ruhig, ohne die Prinzessin eines Blickes zu würdigen. Er schien nicht gewillt, ihrer Bitte nachzukommen.
»Keine Gefangene, nicht wahr?« Haltung zu bewahren, war nun entscheidend. So auffordernd, wie sie konnte, schaute sie den Schatten an. Noch immer ruhte sein Blick auf Zedian, der unruhig atmend noch mit dem Schreck zu kämpfen schien, während er äußerst hilflos über der Reling hing.
Doch nun fand auch der zukünftige Sultan seine Stimme wieder. »Schon gut!«, stieß er hervor. »Auf eine gesittetere Unterhaltung.« Wundersamerweise schien es, dass er seinen Wunsch erfüllt bekam, denn Machairi zog ihn zurück an Bord.
Hastig brachte der Prinz Abstand zwischen sich und den Schatten und richtete seine Kleider, bevor sich die haselnussbraunen Augen auf Koryphelia richteten. »Prinzessin Koryphelia?«, erkundigte sich der junge Mann nach einer kurzen Pause verbindlich und senkte den Kopf kurz, während er ihr das breiteste Lächeln, das er in dieser Situation aufbringen konnte, schenkte.
Erstmals seit sie den fremden Mann erblickt hatte, wurde ihr wirklich klar, was für eine Bedeutung dieser Mensch in ihrer Zukunft spielen sollte. Der Gedanke hatte zuvor über ihr gehangen wie ein aufziehender Sturm, doch nie hatte sie in letzter Konsequenz realisiert, was das bedeutete. Es schlug nun auf sie nieder und sie musterte den Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen sollte, ganz anders. Sich ihrer Manieren erinnernd deutete sie einen Knicks an und nickte. »Sehr erfreut, Liègi«, antwortete sie. Nur weil die Bienen beschlossen hatten, die Höflichkeit zu ignorieren, musste sie das nicht auch tun.
Er schmunzelte und erwiderte ihre Geste mit dem Hauch einer Verbeugung. »Dieser … Mann«, es machte deutlich den Anschein, als habe ihm ein anderes Wort auf der Zunge gelegen, als er auf Machairi deutete, »behauptet, Ihr wäret freiwillig hier?« Skepsis zeichnete Worte und Züge des Harethi. Einen Augenblick haderte die Prinzessin. Die Umstände entsprachen nicht unbedingt dem, was sie sich erhofft hatte, als sie Machairi um Hilfe gebeten hatte. Dennoch konnte sie nicht behaupten, dass sie ernsthaft versucht hätte, sich zur Wehr zu setzen, und im Grunde war genau erreicht, was sie wollte. Außerdem wollte sie nicht wissen, was Machairi tun würde, wenn sie ihm in den Rücken fiel. »So kann man es in der Tat ausdrücken, Liègi.« Ein verbindliches Lächeln zierte ihre Züge. In ihrem Inneren schien sich etwas verknotet zu haben wie eine ungeschickte Schlange, doch die Fassade hielt.
»Warum, Prinzessin, solltet Ihr hier sein wollen?« Echte Sorge klang aus seinen Worten. Sorge, so vermutete sie, um ihren Verstand. Oder er glaubte, dass man sie zwang, dem Schatten zuzustimmen. War doch die Realität so viel komplizierter und weniger freundlich. Sollte sie ihm sagen, dass sie versucht hatte, der Hochzeit mit ihm zu entgehen? Würde er die zahlreichen Gründe verstehen, die sie veranlasst hatten, einen Brief an einen berüchtigten Verbrecher zu schreiben? Als sie nicht direkt antwortete, wandte sich der Prinz wieder Machairi zu. »Wieso wagt Machairi, eine Prinzessin zu entführen?« Sein Tonfall war nicht so vorwurfsvoll, wie zu erwarten gewesen wäre, und er vermochte es, sich erstaunlich überzeugend zu Diplomatie durchzuringen. Möglicherweise verspürte der Fremde nicht das Bedürfnis, erneut kopfüber über dem Meer zu hängen. Tatsächlich war der Gedanke dahinter Koryphelia bereits selbst mehrfach gekommen: Was hatte Machairi davon, ihr zu helfen?
»Ich halte einen geplanten Krieg auf, solange ich kann«, antwortete der Schatten mit kalter Sachlichkeit.
»Wir planen eine Hochzeit. Eine … Friedensangebot?« Er schien Wortfindungsschwierigkeiten zu haben, ob das nun der Sprachbarriere oder der Aussage geschuldet war, blieb ungeklärt. »Ihr alle riskiert, fragilen Frieden zu brechen.« Irritiert sah der Prinz zwischen den Menschen an Deck hin und her. Jedes Auge und jedes Ohr schienen ihre Unterhaltung zu verfolgen.
»Wenn der Sultan glaubt, Thredian würde seine einzige Erbin ohne Hintergedanken an den Sohn eines verabscheuten Feindes verheiraten, ist er noch dümmer als Thredian selbst.« Sobald der Messerdämon sprach, deckte sich eine neue Stille über das Schiff. Aus gespanntem Schweigen wurde andächtige Furcht. Zedian musterte sein Gegenüber, als versuche er angespannt, etwas zu verstehen, was er unmöglich begreifen konnte. Koryphelias Vater hatte viele schlechte Eigenschaften. Kriegslust war eine davon. Für einen entfernten Prinzen konnte dies jedoch höchstens ein Gerücht sein. »Thredian gedenkt, seine Feinde in Sicherheit zu wiegen, und baut darauf, dass man ihm mehr Sorge um das Wohl seiner Tochter zutraut.« Nun musste Koryphelia den Blick abwenden. Machairis Vermutung war gut, traf aber nur einen Teil der Wahrheit.
»Das ist dumm.« Zedians Augen suchten kurz nach seinem Schwert, das zwischen ihnen lag – aus Vorsicht vor dem Wahnsinn, den er in dem Schatten sah. »Wenn Cecilia einen Krieg anfängt, verliert er seine einzige Tochter.« Er warf Koryphelia einen entschuldigenden Blick zu. »Sagtest du nicht, sie ist sein einzige Erbe?« Nun, da er angespannt unruhig war, wackelte sein Cizethi etwas mehr als zuvor. Fast hilfesuchend sah er umher.
»Das legt nahe, dass Koryphelia seit Kurzem eine große Schwester ist. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen: es ist ein Junge?« Fragend sah der Schatten in ihre Richtung, doch an der Überlegenheit in seiner Stimme und seinem Blick, sah sie, dass er wusste, dass er recht hatte. Die Nachricht über die Schwangerschaft der jungen Königin und der Geburt ihres ersten Sohnes war geheim gehalten worden. Königin Lydisia war auf einen Landsitz gefahren, um dort ihr Kind zu gebären. Eine Praxis, die man sonst nur für Bastardkinder vollführte.
Was der Schatten nicht zu wissen schien, war, dass ihr Vater durchaus einen Plan hatte, um sie rechtzeitig nach Hause zu bringen, bevor er einen vernichtenden Erstschlag ausführte. Die Prinzessin hatte nur eingewilligt, den Plan zu unterstützen, weil sie wusste, dass sie keine echte Wahl hatte. Ihr Vater hatte ohnehin das letzte Wort über ihre Heirat und seine Pläne verraten konnte sie nicht, ohne ihr Zuhause der Übermacht des Gegners auszusetzen. Den letzten Krieg hatte Hareth gewonnen und angesichts der finanziellen und militärischen Situation war für einen Realisten deutlich zu sehen, dass sie auch aus einem neuen siegreich hervorgehen würden. Außer natürlich, man verfügte über ein allwissendes Orakel, das die Antwort liefern konnte, wie man einen übermächtigen Feind ganz sicher dennoch effektiv besiegen konnte.
Prüfend blickte ihr Verlobter zu Koryphelia und sie ahnte, dass er die Wahrheit in der Schuld in ihren Augen las. »Angenommen ich würde – trotz …«, er machte eine vielsagende Geste in Richtung Heck – »… glauben, an diesen Wahnsinn. Warum erzählt mir ein Mann mit solchem Ruf davon?« Eine Frage, die Koryphelia aus der Seele sprach.
Der Schatten drehte ein Messer durch die Finger und musterte den Prinzen. »Man sagte in Om’falo, Hareths Prinz sei friedliebend. Wenn dem so ist, sind wir auf der gleichen Seite und du verschaffst mir mehr Zeit, einen sinnlosen Krieg zu verhindern.« Es klang ganz diplomatisch, wie er das so sagte. Koryphelia hörte dennoch heraus, dass er blindes Vertrauen von Hareths Prinzen forderte.
»Du hast ein Seemonster auf meine Mannschaft gejagt. Das wirkt nicht besonders friedfertig.« Zedians Hand tastete in einer Welle von Wut reflexartig nach dem Schwert, aber sie fand nur die leere Scheide. Gleichzeitig fragte sich Koryphelia, ob der Prinz vielleicht einen Übersetzungsfehler gemacht hatte. Seemonster schien recht wahrscheinlich nicht das Wort zu sein, das er gesucht hatte. Wie automatisch blickte die Prinzessin zurück und gefror an Ort und Stelle, als sie in der Ferne einen Berg aus der See ragen sah. Einen Berg, der sich zu bewegen vermochte. Ein Berg in der Form eines Körpers. Ein Schiff hing hilflos in seinen Fängen. Was konnte das sein?
»Ich habe ein Messer in den Ozean fallen lassen. Wenn sie ihren Spaß hatte, wird sie von dem Schiff ablassen.« Nur mit halbem Ohr hörte Koryphelia zu, verarbeitete nicht, was gesagt wurde. Noch immer hing ihr Blick auf der Kreatur, die das schnittige Schiff durch die Luft bewegte wie ein Kind, dem man ein Spielzeugboot ins Bad gesetzt hatte.
»Warum sollte ich den Absichten eines Mannes trauen, der sich nicht einmal zu grundlegender Höflichkeit herablässt?« Endlich schaffte Koryphelia es, sich von dem schauderhaften Anblick loszureißen und ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zuzuwenden. Es wird sie nicht alle töten. Es wird sie nicht alle töten, dachte sie nur immer wieder, während sie die Schreie aus ihrer Erinnerung zu verbannen versuchte.
»Auch das beruht auf Gegenseitigkeit.« Auch wenn der Schatten grundsätzlich recht hatte, musste sie Zedian doch zustimmen. Die Arroganz und Überheblichkeit des Schattens waren äußerst unangebracht für einen Mann aus dem Bienenstock, der mit einem Prinzen – oder auch einer Prinzessin – sprach. Ein überlegenes Lächeln zuckte flüchtig über seine Züge. »Da ich die Person bin, die dich jederzeit ins Meer werfen kann, sehe ich mich in keiner Weise zu Respekt genötigt.«
Zedians Kiefer malmte. Man konnte ihm ansehen, dass ihm eine unfreundliche Antwort auf der Zunge lag, doch er schluckte sie herunter. »Wie soll ich irgendjemandem Zeit verschaffen – wenn ich es denn wollte –, wenn ich auf diesem Schiff festsitze?« Seine Beherrschung war bewundernswert.
»Cecilias Schiff war bereits am Horizont zu sehen. Sie werden einen zukünftigen Sultan sicher gerne aus dem Wasser ziehen.« Nun warf auch Koryphelia dem Schatten einen überraschten Blick zu. Sie erwartete ein gemeines Grinsen, stattdessen erblickte sie nur Neutralität und Sachlichkeit in seinem Blick.
»Wenn du mich töten willst, tu es selbst.« Ärger mischte sich in die zuvor beherrschte Stimme und ließ seinen Akzent härter durchklingen.
Machairi blickte über das Deck zum Kapitän, der augenscheinlich höchst bemüht war, sich seiner Crew zu widmen, anstatt das Gespräch zu verfolgen. »Vielleicht hat der Kapitän genug Patriotismus im Blut, um ein Beiboot zu erübrigen.«
»Was, wenn ich nicht das Bedürfnis habe, einem Entführer mit zweifelhaften Motiven zu helfen?« Der Prinz machte dem Dämon einen Schritt hinterher.
»Ich kann niemanden dazu zwingen, Frieden über Feindschaft zu wählen.« Unbeirrt führte er seinen Weg fort. »Du wirst dieses Schiff jetzt verlassen. Mit oder ohne Beiboot.« Damit verschwand er unter Deck.
Koryphelia blieb zurück mit ihrem Verlobten und fühlte eine neue Art von Anspannung, als die Präsenz des Schattens verschwand. Sie fühlte sich auch in Zedians Gegenwart seltsam, jedoch eher ob ihrer seltsamen Beziehung zueinander. Von konträrer Seite schien etwas Vergleichbares auszugehen. Der Prinz räusperte sich. »Ihr erwartet nicht, dass ich glaube, was dieser Dämon sagt, Prinzessin, nicht wahr?« Mit ernster Miene trat er an sie heran und Koryphelia sah sich nicht in der Lage, etwas zu antworten. Auch sie wusste nicht, was Machairi vorhatte, aber seine Vermutungen waren richtiger, als ihr lieb gewesen wäre. »Ihr habt nichts zu befürchten. Für den Augenblick scheint er sich etwas von Eurer Anwesenheit zu versprechen und so lange seid Ihr sicher.« Noch einen Schritt trat er näher. »Wir werden direkt hinter Euch sein«, versprach er dann leise, dass es nicht an die Ohren der lauschenden Schaulustigen dringen sollte. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand. »Ich wünschte, wir hätten uns unter angenehmeren Umständen kennengelernt, aber seid unbesorgt. Ihr werdet sehr glücklich sein in Om’falo: Ich werde alles dafür tun, das verspreche ich.«
Hätte sie dem süßen Versprechen doch nur glauben können. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemals glücklich werden würde als seine Braut. Etwas zu energisch entzog sie ihm seine Hand. »Ich denke nicht, dass mir das Leben als eine von 42 zusagen wird. Liègi.« Den Titel brachte sie so patzig hervor, dass die Augenbrauen des Prinzen nach oben zuckten.
»Wir werden darüber reden, wenn Ihr in Sicherheit seid, Prinzessin.« Er versuchte ein Lächeln. »Ich werde nicht zulassen, dass ein Verbrecher Euch … Schaden zufügt.«
Beinahe hätte sie gelacht, aber es blieb ihr im Halse stecken. Von all den vielen Befürchtungen, die ihr Gemüt plagten, war das nie auch nur einen Gedanken wert gewesen. Dahingehend fühlte sie sich absolut sicher vor dem Schatten. »Ich denke, es ist besser, wenn Ihr euch nun ein Beiboot besorgt, Liègi. Das Schiff meines Vaters wird sicher nicht lange auf sich warten lassen.« Es war eine reichlich unhöfliche Art, seine Sorge abzutun, das wusste die Prinzessin. Sie glaubte ihm sogar, dass er es gut meinte. Vielleicht mochte sie ihn sogar ein wenig. Es blieb aber dabei, dass sie nicht das Bedürfnis hatte, ihn zu heiraten, und wenn die Dinge so liefen, wie Machairi sie hoffentlich plante, würde sie das auch nicht müssen.
Zedian nickte knapp und trat zurück. »Haltet durch, Prinzessin«, sagte er noch, bevor er sich abdrehte, sein Schwert aufhob und auf den Kapitän zutrat. Immerhin war er in der Lage einzusehen, wenn er keine Alternative hatte. Es machte ihn ungewollt sympathisch.

Paradies
Es gab nicht viele Dinge, die Mico als schön bezeichnete. Der Zauber, den manche Menschen in allem zu sehen schienen, ging meistens an ihm vorbei. Ein Romantiker würde sagen, dass die Schönheit mit Lia aus seinem Leben verschwunden war. Mico hingegen war eher der Ansicht, dass ihm Schönheit schon immer ziemlich egal gewesen war, spätestens jetzt, seit eine riesige Narbe sein Gesicht entstellte. Sie war noch immer recht frisch und schmerzte bei jeder Berührung, und auch die Wunden auf seiner Brust plagten ihn noch, doch es wurde mit jedem Tag besser. Spätestens jetzt konnte er nicht mehr als attraktiv bezeichnet werden, auch wenn er wohl schon vor dem Drachen wohl oder übel bestenfalls durchschnittlich aussehend gewesen war. Sein Interesse an Äußerlichkeiten stellte er hintenan.
Der Anblick, der sich ihnen nun bot, konnte aber nicht einmal Mico kalt lassen. Vor dem Schiff tat sich eine Küste auf, die die Grenze zum Paradies sein musste. Kristallklares Wasser schlug an weiße Sandstrände und saftiger grüner Wald erstreckte sich jenseits davon. Ein mächtiger Vulkan ragte über der Insel empor und man konnte sehen, dass die Natur von der fruchtbaren Erde prächtig genährt wurde. Es war kaum zu glauben, dass dieser Ort auf der gleichen Welt liegen konnte wie Hareths dürre Wüste und Cecilias karger Norden. Es war schön. Unwirklich schön. Das war kein Platz für Menschen wie die auf diesem Schiff. Sie waren Eindringlinge und sie brachten Probleme mit. Es würde sicher nicht allzu lange dauern, bis die weißen Segel des cecilianischen Verfolgerschiffes am Horizont auftauchten.
Mico hatte die Streitigkeiten mit dem Prinzen aus sicherer Entfernung beobachtet. Er musste Hareths zukünftigem Monarchen nicht sein nun unverkennbares Gesicht zeigen und er wollte nicht erneut dazu angehalten werden, trotz der Unmöglichkeit Gwyns Platz einzunehmen.
Zedian hatte ohne weiteren Protest das Beiboot bestiegen, das der Kapitän ihm gerne bereitgestellt hatte. Dass der Mann dem Prinzen nicht die Füße geküsst hatte, war wirklich alles. Man hatte ihm richtig angesehen, wie ihm die Knie weich wurden, als er vor dem Sohn und Erben seines gottgleichen Sultans niedergefallen war. Dagegen war Cails Arroganz mal wieder unbeschreiblich gewesen. Wiederholt konnte Mico sich nicht vorstellen, wie jemand komplett ohne jedes Maß an Unterwürfigkeit durchs Leben kommen konnte – selbst ein Prinz oder eine Prinzessin hatten entsprechende Gesten auszutauschen, wenn sie aufeinander oder auf ihre Eltern trafen. Absolut unmöglich war es schließlich nicht, Machairi zu töten. Trotzdem kam er wieder und wieder damit durch. Vor dem schwarzen Fürsten, vor Prinzen und Prinzessinnen und auch vor jeder anderen Autorität.
Bald würde sich zeigen, ob sich der angehende Sultan auch noch auf das Spiel des Schattens einlassen würde. Fast hoffte Mico, dass der Mann ihnen weiter folgen würde, um seine Braut zu retten. Es wäre doch ein seltsames Zeichen von Schwäche, den zweifelhaften Ausführungen eines nicht besonders vertrauenerweckenden Fremden zu glauben. Für die Gesundheit ihrer Reisegruppe wäre das allerdings sicherlich besser gewesen und für diese Insel auch.
Die Vulkaninsel konnte fast als drittes Festland in Pyria gelten. Sie war nicht so groß wie die anderen beiden Kontinente und lag östlich von Hareth, deckte aber dennoch mehr Fläche ab als eine gewöhnliche Insel. Viele Kriege waren bereits um dieses fruchtbare Stück Land geführt worden. Aktuell wurde es von Hareth beansprucht, aber die Harethi machten sich nicht die Mühe, es zu bevölkern. Im Grunde gehörte die Insel den Zhaki, oder einer Art Ursprungsvolk der Zhaki. Das bedeutete nicht, dass sich Cecilia und Hareth nicht darum streiten wollten, wem von ihnen das Vorrecht zustand, aber eigentlich musste allen klar sein, dass es keinem gehören konnte. Die Insel war so friedlich und unberührt, zumindest auf den ersten Blick, dass wohl niemand gewagt hatte, hier Wälder zu roden, Häuser zu bauen und seinen Stempel aufzudrücken. Auch deshalb war es schön. Man wollte schließlich nicht auf einer Insel bauen und investieren, auf der ein aktiver Vulkan brodelte und über die der nächste Krieg nur eine Frage der Zeit war.
Ohne einen Hafen würden sie das letzte Stück vom Schiff zum Strand mit den verbleibenden zwei Beibooten zurücklegen müssen. Seufzend trat Mico von der Reling und musterte das Deck. Die Hatschi hockte auf einer Treppe und drehte gedankenverloren das Messer in der Hand, das Cail ihr überlassen hatte, die Prinzessin stand in ihrer Nähe und blickte der wundersamen Insel entgegen und Gina hing in der Takelage und bandelte mit einem Matrosen an. Der Rest war unter Deck. Dass der Schatten kein Interesse an dem wundersamen Anblick hatte, überraschte nicht. Vica betrachtete die Schönheit vielleicht aus den Augen eines Tieres oder kümmerte sich noch immer um diesen unsäglichen Drachen und Gwyn schien ohnehin an nichts mehr Interesse zu haben. Mico seufzte ein zweites Mal und stieg die Treppe hinab, um die wenigen Sachen, die er noch hatte, aus der Kajüte zu sammeln. Das schmale Zimmerchen mit Gina zu teilen war ein Albtraum gewesen. Sie war laut, frech und dauerhaft provokant. Eigentlich hatte er sie noch nie einen Satz sagen hören, der nicht in irgendeiner Weise angriffslustig war. Hauptsache, sie verschwand bald und kehrte zu ihrer eigenen Truppe zurück. Die Zeiten, in denen sie ein fester Bestandteil von Machairis Gruppe gewesen war, waren Amila sei Dank vorbei.
Entnervt stopfte er die Ersatzkleider in den Rucksack. Beides hatte Ila ihm gegeben. Es hatte gutgetan, mal wieder in der Nähe einer Magierin zu sein, und er hätte gerne mehr Zeit in ihrer kleinen Bibliothek verbracht. Die Bücher darin waren unheimlich interessant gewesen, außerdem hatte sogar er die alte Dame gemocht und immerhin hatte sie ihn bestmöglich wieder zusammengeflickt. Er steckte ein kleines Fläschchen mit dem Rest des Schmerzmittels für die heilenden Wunden ein und seine Finger trafen kaltes Metall. Für einen Moment starrte er an die Wand der Kajüte. Seine Finger glitten über das Muster der Brosche, die in der Tasche seines Magiergewandes steckte. Er hatte noch immer nicht verstanden, was genau Cail ihm hatte suggerieren wollen, als er sie ihm zurückgegeben hatte. Mico war die letzte Person, die an die Vergangenheit erinnert werden musste.
Etwas zu energisch stieß er die Kajütentür auf und lief fast in Cail hinein, der gerade über den Flur ging und stehen blieb, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte natürlich kommen sehen, dass genau in diesem Moment die Tür auffliegen würde. Nur Mico hatte nicht auf Schritte im Flur gelauscht und wäre vielleicht trotzdem darauf reingefallen, so leise wie der Schatten sich bewegen konnte. »Hol Vica«, sagte Cail, statt Micos Erschrecken zu kommentieren.
»Kann das nicht Gina machen? Ich wollte gerade Gwyn holen.« Trotzig kickte er die Tür zu und bereute es im nächsten Moment, als er merkte, dass er damit auch das Licht ausgesperrt hatte und er nun mit Machairi im Zwielicht stand.
Trotzdem konnte er sehen, wie der Blick des Schattens sich verhärtete. »Du kannst ihn meinetwegen an den Haaren durchs Wasser zerren, aber komm nicht ohne Vica zu diesem Boot.« Damit wollte er weitergehen, aber Mico hielt ihn auf.
»Du hast gesagt, dass ich für ihn verantwortlich bin«, erinnerte Mico und konnte noch immer nicht verstehen, wie Cail so nachhaltig wütend auf den Zhaki sein konnte.
»Ich habe auch gesagt, dass ich ihn nicht mitnehmen will, und trotzdem ist er hier«, erwiderte Cail mit einer Kälte, die Mico niemals hätte imitieren können. Unwillkürlich trat der Magier ihm aus dem Weg.
»Du weißt, dass er die letzte Person ist, die dich verraten wollen würde.« Mico seufzte. »Reicht das Schuldgefühl nicht als Strafe?« Es war sinnlos, an ein Gewissen zu appellieren, wenn sein Gegenüber so geübt darin war, seines zu ignorieren.
»Er hat es trotzdem getan. Was sagt das über den Wert von Vertrauen?« Eine Messerklinge blitzte in der Dunkelheit auf und Mico seufzte. Er spürte, wie der Schatten an ihm vorbeiging, und startete einen letzten Versuch.
»Hat er nicht eine zweite Chance verdient?«, fragte er ihm etwas lauter hinterher, aber Machairi verschwand nur die Treppe hinauf und würdigte seinen schwachen Versuch nicht mit einer Antwort. Mico wusste genauso gut wie er, dass Gwyn schon mehr als zwei Chancen bekommen hatte. Allein auf dieser Reise hatte er den gleichen Fehler doppelt gemacht und auch im Bienenstock hatte er sich einen ähnlichen Fehltritt erlaubt. Beide Male hatte sein gutes Verhältnis zu dem Messerdämon ihn gerettet. Dieses Mal würde es wohl nicht ausreichen. Seufzend hielt Mico auf die Besenkammer zu und klopfte. Er würde sich eben beeilen und beide Reisebegleiter mit an Deck bringen. Vica beanspruchte in einem engen Schiffsbauch mit einem verletzten Drachen sicher alle Aufmerksamkeit, aber Gwyn würde es wohl schaffen, sich selbst eine Treppe hinaufzuschleppen.
Er erhielt keine Antwort, aber er öffnete die Tür trotzdem. Es war fast unmöglich, Gwyn zum Reden zu bringen, seit er erfolglos um Vergebung gefleht hatte. »Wir steigen jetzt gleich in das Beiboot. Du solltest an Deck gehen«, informierte der Schlossknacker und ignorierte das seltsame Gefühl, das sich aufdrängte.
Mico fühlte sich unwohl. Er fühlte sich unwohl, weil Gwyn die Beine unter den Körper zog, als er die Stimme erkannte, und konzentriert auf den Boden starrte. Der kleine Zhaki kniete auf dem Boden und nickte stumm, als Mico mit ihm sprach. Immerhin verkniff er sich eine Höflichkeit. Der Magier hatte keine Ahnung, wie er mit der Situation umgehen sollte, und hatte sich entsprechend möglichst von Gwyn ferngehalten, seit sie an Bord des Schiffes waren. Er mochte die braunen Kleider nicht und den unnatürlichen Gehorsam. Keiner von ihnen hatte es ausgesprochen, aber sie waren sich leider sehr einig, dass Gwyn ein Sklave sein musste, um hier bleiben zu dürfen. Micos Sklave. So hatten sie es zumindest verstanden. Es war ein grässlicher Gedanke, zu grässlich, um es an- oder auszusprechen.