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Einen Augenblick verharrte der Schlossknacker in der Tür, versuchte, sich nicht von dem seltsamen Gefühl überwältigen zu lassen, und entschied sich schließlich zu gehen. Es war ohnehin kein Durchkommen zu Gwyn möglich.
Vica an Deck zu bringen war keine dankbare Aufgabe. Die Blinde hatte nichts als den dreifach verfluchten Drachen im Sinn und hielt das kleine Wesen lieber mit beiden Armen fest, anstatt sich einen Weg zu ertasten. Sowohl das Wiesel auf ihrer Schulter als auch Mico starben tausend Tode bei dem Versuch, sie aus der Kajüte, durch den engen Flur, die Treppe hinauf, über das Deck bis zum Beiboot und in eine sichere Position zu bringen. Nicht, dass es Mico wirklich gekümmert hätte, wenn sich das Mädchen mit der großen Klappe mal ordentlich lang machte, aber er wusste auch, dass etwaige Verletzungen auf ihn zurückfallen würden, und er war schon für genug verantwortlich. Er musste sie ganze vier Mal auffangen, weil sie drohte die Treppe herunterzustürzen, und ihr zu allem Überfluss noch ihren Stab hinterhertragen. Auch in das Boot zu steigen, das noch an Seilen jenseits der Reling hing, stellte sich als ein Kunststück heraus. Selten war er so dankbar gewesen, seines Sehsinns noch mächtig zu sein.
Die Hatschi kam ihnen zu Hilfe, als sie sah, wie unbeholfen Vica sich bewegte, aber die Blinde fauchte sie so aggressiv an – »Misch dich nicht ein, Hatschi! Ich brauche deine Hilfe nicht!« – dass das Mädchen zurückzuckte und sie in Ruhe ließ. Mico hoffte auch um seinetwillen, dass Gwyn besser früher als später das verlorene Vertrauen zurückerhalten würde. Dann würde endlich wieder der Zhaki die undankbarsten Aufgaben zugeteilt bekommen und Mico konnte sich darauf konzentrieren, was er wirklich tun wollte. Nur um dem Feuerspucker einen Gefallen zu tun, war er noch hier, und weil er Gwyn nicht unbedingt mitschleppen wollte, wenn er eine Reise antrat, die für ihn selbst schon schwer genug werden würde.
Letzterer betrat das Deck und kniff die Augen zusammen. Nachdem er sich so lange im Dunkel der kleinen Kammer aufgehalten hatte, musste das helle Tageslicht ein Problem sein. Er hatte die Schultern hochgezogen und schaute auf den Boden, um den Blicken auszuweichen. Der einst so fröhliche Gaukler war nicht wiederzuerkennen. Schweigen herrschte, als sie alle gemeinsam an Deck standen (bis auf Vica, die strenggenommen bereits in dem hängenden Boot schaukelte). Seit sie aufgebrochen waren, hatte Mico darauf gewartet, dass sie endlich aufhörten zu nerven. Nachdem sie nun alle nichts mehr sagten, wünschte er sich plötzlich die alte Stimmung zurück. Da hatte er sich immerhin noch effektiv mit jemandem streiten können. Seit Om’falo schien die Gruppe mehr und mehr auseinanderzufallen und die beiden weiteren Mädchen entspannten die Situation nicht. Ihm war bewusst, dass er damit sich selbst widersprach. Besser wurde es dadurch nicht.
Zu siebt in einem elendig kleinen Boot zu schaukeln, machte das Schweigen nicht erträglicher. Es lag so tief im Wasser, dass er befürchtete, die nächste kleine Welle könnte so viel Wasser ins Boot tragen, dass sie einfach versinken würden. Er wollte nicht wissen, wie Gwyn sich damit fühlte, der nach wie vor eine gesteigerte Abneigung gegen Boote und Wasser hatte und ohnehin neben sich stand.
Unentschlossen in ihrem Schweigen saßen sie in ihrer Nussschale. Die Prinzessin und die Hatschi tauschten einen verunsicherten Blick und Gina betrachtete ihre Finger so interessiert, als habe sie gerade erst entdeckt, dass sie mehr als nur Fäuste hatte. Vica wippte vor und zurück und streichelte den sterbenden Drachen. In der Annahme, dass Machairi ohnehin nicht rudern würde, fügte sich Mico in sein Schicksal und griff nach einem der Ruder. Gwyn, der als einziger darauf zu brennen schien, seine Anwesenheit mit Nützlichkeit zu rechtfertigen, übernahm das zweite – wobei er genau darauf achtete, ja niemanden anzusehen – und sie ruderten etwas unkoordiniert auf die Küste zu. Es dauerte viel zu lange, weil das Boot so schwer und die Ruderer so wenig routiniert waren. Da er nun mit dem Rücken zur Küste saß, konnte Mico das fruchtbare Land nicht näherkommen sehen. Alles, was er sah, war ihr Schiff, das sie immer weiter zurückließen und er fragte sich, was sie in diesem Paradies suchten. Er war nicht die einzige Person.
»Was wollen wir eigentlich hier?«, wagte die Hatschi das Schweigen zu brechen, und fühlte sich am anderen Ende des Bootes wohl sicher vor Machairi. Töricht, wenn man wirklich fliegende Messer befürchtete, aber vermutlich schwebte sie in keiner Gefahr. Aus unerkenntlichen Gründen schien der Schatten sie schließlich zu mögen. »Ist das Orakel hier versteckt?«, fragte sie weiter, als ihre Frage in der Luft hängenblieb.
»Gewissermaßen«, antwortete Cail nach einer kurzen Pause und die Hatschi legte die Stirn in Falten und den Kopf etwas zur Seite, als versuche sie, ihren Blickwinkel zu ändern.
»Hat Ila nicht gesagt, dass sie dachte, dass das der letzte Ort ist, an den du gehen würdest?«, fragte sie und zitierte ihre ehemalige Gastgeberin, indem sie mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft malte. »Es sieht doch sehr freundlich aus.«
»Es ist für jeden mit Verstand der letzte Ort, an den man gehen möchte, das ändert auch ein schöner Eingang nicht.« Das war eine erstaunlich ausführliche Antwort. Warum bekam ausgerechnet die Hatschi eine Antwort von ihm, wenn sie fast das neuste Mitglied der Gruppe war? Mico konnte noch immer nicht verstehen, weshalb alle dieses Mädchen so sehr zu mögen schienen. Sie hatte noch nicht viel Gutes mit sich gebracht und er sah kommen, dass es sie alle ins Verderben schicken würde, wenn sie ihr zu nahekamen, spätestens, seit er ahnte, was für eine Fähigkeit sie verbarg. Wollte sie ihnen wirklich weismachen, sie habe nichts davon gewusst?
Es wurde wieder still im Boot. Was war der letzte Ort, an den Mico gehen wollte? Ihm fielen gleich mehrere ein, die in Frage gekommen wären: das Gefängnis, das sich Magierakademie schimpfte, der tatsächliche Kerker des Schlosses, sein Elternhaus … keines davon lag auf dieser Insel. Was würde Cail als den unangenehmsten Ort der Welt wahrnehmen? Vermutlich irgendeinen, an dem nicht einmal er um ein gewisses Maß von Unterwürfigkeit herumkam … also vielleicht ein Zylontempel? Es wirkte immerhin wie ein wirklich schöner Ort für einen Tempel.
Das Beiboot stieß in den Sand und Gwyn sprang geradezu hinaus. Er stand noch bis knapp über den Knien im Wasser, aber es schien ihm so unangenehm in dem Boot zu sein, dass nicht einmal das Wasser ihn abschrecken konnte. Es machte den Eindruck, als wollte er fliehen. Mico hatte keine Lust, ins Wasser zu steigen und in nassen Stiefeln über die Insel zu laufen, egal ob sie so nicht weiterkommen würden.
Gina verdrehte die Augen, als niemand aus dem Boot ausstieg. »Angst vor nassen Füßen, oder was?«, höhnte sie und sprang aus dem Boot. Gegen sie war Vica wirklich eine unheimlich nette Reisegefährtin. Aber mit zwei Personen weniger an Bord lag das Bötchen schon beträchtlich weniger tief im Wasser und sie konnten es noch näher an den Strand schieben. Mico musste einsehen, dass er wohl eine der nächsten Personen sein würde, die aussteigen mussten, und brachte es mit einem Augenrollen hinter sich.
Wasser drang ihm durch die Hose und in die Schuhe, machte sie schwer und unangenehm zu tragen, aber zu dritt schafften sie es, das Beiboot so nah an Land zu ziehen, dass man mit trockenen Füßen aussteigen konnte. Cail kommentierte das nicht. Elegant landete er auf dem Sand und hielt ohne Umschweife auf den Urwald zu, der sich vor ihnen erhob. Blüten in vielen Rottönen schmückten das Dickicht zu ihren Füßen und saftiges Grün erstreckte sich über ihren Köpfen. Allerlei Geräusche – Zirpen, Schnattern, Rascheln und das ein oder andere Zwitschern – drangen Mico an die Ohren und er fragte sich, ob er jemals etwas derart Friedliches gesehen hatte.
Hastig kletterte auch der Rest aus dem Boot und versenkte die Füße im unnatürlich weißen Sand, in dem sie alle ein Stückchen einsanken. Sogar Vica kletterte allein aus der Holzschale, hauptsächlich, weil ihr niemand freiwillig zu Hilfe kam. Eine weitere Aufgabe, die sonst Gwyn übernommen hätte. Eine, die Mico nicht übernehmen wollte. Die Blinde und ihre heidnische Magie sollten ihm so fern bleiben wie möglich.
Der Sand klebte ihm an den nassen Schuhen, aus denen noch bei jedem Schritt Wasser quoll, wodurch hässliche Schmatzgeräusche entstanden. Der herrlich weiße Untergrund verklebte, wurde matschig und deutlich zeichnete sich das Wasser darauf ab. Ein Fleck, den er durch seine Anwesenheit auf der Reinheit dieser Insel hinterließ. Sie gehörten nicht hierher. Keiner von ihnen, am allerwenigsten ein Schatten wie Machairi.
Natürlich störte sich Cail nicht daran. Er hatte den breiten Sandstrand bereits verlassen und der Rest der Gruppe musste sich beeilen, um ihm zu folgen. Es war nicht einfach, über Sand zu eilen. Besonders Vica hatte ihre Schwierigkeiten, stolperte immer wieder und fluchte vor sich hin, den Drachen noch immer in beiden Armen haltend und ohne ihren Stock, den Rish für sie hielt. Es wäre andersherum sicherlich sinnvoller gewesen, aber er hatte keine Lust, sich anblaffen zu lassen. Sollte sie doch durch die Gegend stolpern und stürzen so oft sie wollte. Gegen Stolz war ohnehin noch kein Kraut gewachsen.
Der Wald schlug ihnen seine ersten Äste entgegen und bis auf Cail, der auf wundersame Weise einen optimalen Weg zu finden schien, kämpften sie mit den Ranken. Die Faust schlug unwirsch einen Zweig aus ihrem Weg, der mit Wucht zurückfletschte und Vica ins Gesicht traf. Empört schrie die Blinde auf. »Wer war das?!«, schrie sie durch den Wald und in ihrer Nähe regte sich ein aufgescheuchtes Tier.
»Pass halt auf, wo du hinläufst«, knurrte Gina und duckte sich unter einem weiteren Ast her. »Hast du mir nicht neulich noch entgegengeschrien, dass du genauso gut klarkommst wie alle anderen auch?«
Vica bleckte die Zähne wie ein wütendes Tier und schloss die blinden Augen. Ganz ruhig stand sie da, eine konzentrierte Miene aufgesetzt, und kaum einen Moment später sprang eine Wildkatze aus dem Unterholz. Die Prinzessin schrie auf, stolperte zurück und wollte weglaufen. Auch Rish wich spontan zurück. Beide Mädchen wurden von Gwyn aufgehalten. Er sagte nichts, sah keine von beiden an und ließ sie sofort wieder los. Wie eine Marionette stand er da und nur kurz schienen seine Reflexe seine Melancholie durchbrochen zu haben.
Die Wildkatze warf Gina zu Boden, was auf dem dicht bewachsenen Grund kaum möglich war. Sie war ein rot-schwarz geschecktes Biest in der Größe eines Hausschweins. Krallen schlugen nach Ginas Gesicht, aber die Faust konnte kämpfen. Viel schneller als die Zuschauer überwand sie ihren Schreck und drehte sich elegant zurück auf die Beine. Als sei sie selbst eine Katze, war sie plötzlich leichtfüßig in der unwegsamen Umgebung und ein Fuß landete mitten auf der Nase der Katze.
Vicas Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze und kurz blitzte auch ein Eindruck von Schmerz darüber, als sie mit dem Tier fühlte. Mico, der keine von beiden erreichen konnte, fragte sich, ob er irgendetwas Hilfreiches zaubern konnte, aber spontan fiel ihm nur eine ganze Reihe sehr unproduktiver Dinge ein. »Lasst den Mist!«, fuhr er sie beide an, während das Fauchen der Katze und das Gerangel den ganzen Urwald im Umkreis von vielen Kilometern auf sie aufmerksam machte. Nur weil es friedlich wirkte, musste es noch lange nicht ungefährlich sein!
Es war nicht weiter überraschend, dass keiner von beiden auf ihn hörte. Es wurde sogar noch schlimmer, als Gina ihre Nähe zu Vica ausnutzte, um ihr die Beine wegzuziehen, sodass sie hintenüberfiel. Da sie noch immer den Drachen hielt, der eigentlich aussah, als wäre er schon tot, konnte sie sich nicht auffangen, und ein Wutschrei durchriss den Wald.
Hätte er nicht so viel Angst gehabt, von der Katze attackiert zu werden, die vermutlich zum echten Angriff ansetzen würde, wenn Vica aufhörte, sie zu missbrauchen, wäre Mico dazwischen gegangen. So stand er noch immer am Rande des Kampfes und ärgerte sich. Hilfesuchend wollte er sich zu Cail drehen, aber der Schatten war verschwunden. Niemand außer ihm schien das bemerkt zu haben, zu sehr entlud sich die Spannung der letzten Tage in diesem Moment, während Gwyn, Rish und Koryphelia nur dastanden wie verängstigte – oder in Gwyns Fall abwesende – Statuen und Mico sich fragte, was er tun konnte. »Habt ihr den Verstand verloren?«, fuhr er die beiden Mädchen nochmal an, aber sie ignorierten ihn.
Er hob gerade die rechte Hand, um irgendein Energiefeld zu erschaffen, um sie zu trennen, als die Faust plötzlich unelegant mit den Armen ruderte und die Katze ins Unterholz flüchtete. Die Füße der Rothaarigen waren fast bis zu den Knien mit dem Boden verwachsen. Erde schloss sich wie ein Paar Stiefel darum und hatte sie mitten in der Bewegung arretiert. Auch Vica schien vom Boden gefangen und fast panisch warf Mico einen Blick nach unten. Steckten sie in einer Art Treibsand? Nein, seine Füße standen nur zwischen ein paar Pflanzen, die nicht besonders angriffslustig wirkten. Hier war Magie am Werk. Hastig drehte er sich um und suchte nach einer möglichen Ursache. Da der Kampf nun erloschen war und beide Frauen zu überrascht waren, um sich weiter anzukeifen, war es auf einmal gespenstisch still um sie herum.
»Ni feideri leat agorni aseo.« Die Stimme war freundlich und jung und das Mädchen, zu dem sie gehörte, konnte kaum älter als zwölf sein. Scheu lugte sie hinter einem Baum hervor, die Augen groß und ängstlich vor der Situation und den Fremden. Die dunklen Haare hatte ihr jemand zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und das weiße Gewand, das sie trug, war an einigen Stellen mit kleinen roten Blüten verziert. Sie passte hierher. Ein wundersames Mädchen an einem wundersamen Ort. Die Sprache, die sie gesprochen hatte, erkannte Mico noch gerade als Silou. Die Tatsache, dass sechs Fremde sie perplex anstarrten, schien sie noch etwas unsicherer zu machen und sie verkroch sich etwas weiter hinter ihrem Baum. »A bufli tu?«, hauchte sie und Mico befürchtete, dass sie jeden Moment die Flucht ergreifen würde.
»Was sagt sie?«, fragte er Gwyn so ruhig, wie er konnte, um nicht bedrohlich oder angriffslustig zu klingen. Leider wahr Cizethi eine harte Sprache und klang eher nach scharfkantigen Steinen als nach weichem Sandstrand. Silou war definitiv die sanfteste der drei Sprachen. Hack glich immer dem Singsang eines aufgescheuchten Bienenschwarms.
Gwyns Blick zuckte zu Mico, als er angesprochen wurde, und er schluckte, bevor er sich zum Sprechen zwang. »Dass wir hier nicht streiten dürfen und wer wir sind«, antwortete er und nuschelte noch etwas, von dem Mico verstärkt hoffte, dass es keine höfliche Anrede war. Wenn er anfing, ihn Herr zu nennen, würde er etwas zerschlagen müssen.
»Gut, sag ihr, dass wir nichts Böses wollen und … sag ihr irgendwas, was sie beruhigt«, etwas hilflos sah er wieder zu dem Mädchen und versuchte ein Lächeln. Er war nicht gut mit Kindern. Ganz sicher nicht mit Kindern, die seine Sprache nicht verstanden.
»Sag ihr, dass sie mich ausgraben soll«, verlangte Gina, die ihre erfolglosen Versuche, die Erde abzuschlagen, beendete und die Arme vor der Brust verschränkte. Sie warf dem Mädchen einen so wütenden Blick zu, dass Mico schon Angst hatte, sie könnte das Kind vertreiben.
Man konnte zusehen, wie Gwyn sich zusammenriss. Er tauschte ein paar Worte mit dem Mädchen. Seine Stimme klang belegt und rauer als sonst. Man merkte ihm an, dass er länger nicht gesprochen hatte und auch, dass sich etwas geändert hatte in ihm. Er klang nicht mehr wie Gwyn und sie alle merkten es. Offenbar schaffte er es aber noch immer, einigermaßen vertrauenserweckend zu sein, denn nach einigen Wortwechseln schrumpfte der Boden zurück und gab Vicas und Ginas Füße frei. Äußerst umständlich kam die Blinde wieder hoch. Dabei verfehlte ihr Kopf einen Ast nur um Haaresbreite.
Plötzlich drehte die Fremde sich um und entfernte sich. »He!«, entfuhr es Mico. »Was ist?« Alarmiert sah er zu Gwyn. Er hasste es, die anderen Sprachen nicht zu verstehen. Wohin lief sie? Warum ging sie? War das gut? War das schlecht? Es war zum Verrücktwerden.
»Sie sagt, wir sollen ihr folgen«, murmelte Gwyn und sah wieder auf den Boden, als seien die Ranken interessanter als die Gesichter seiner Mitreisenden.
Seufzend zuckte Mico mit den Schultern. Was sollten sie sonst machen? Wo auch immer sie sie hinführen würde, wären sie vermutlich besser aufgehoben, als hier herumzustehen. Cail war verschwunden. Er würde sie schon wiederfinden, wenn er wollte. Wenn nicht, war es Mico langsam egal, zumindest sagte er sich das so. Er war sich jedenfalls sicher, dass er kein Interesse daran hatte, durch diesen Urwald zu rennen und nach einem Schatten zu suchen, der sie an nichts teilhaben ließ.
Dem Mädchen durch das Unterholz zu folgen, war fast ebenso unmöglich, wie Cail zu folgen. Besonders für die Prinzessin musste das alles hier eine Tortur sein. Sie gehörte hier noch viel weniger zwischen die Büsche und Palmen als die Bienen. Vica ließ sich inzwischen sehr unwillig von Rish führen und Gina hielt absichtlich Abstand von der Gruppe. Mico verstand noch immer nicht genau, warum sie unbedingt hatte mitkommen wollen, was sie dazu bewegt hatte, Cail zu folgen, obwohl ihre eigenen Leute doch den Heimweg angetreten hatten. Vielleicht wollte sie nichts verpassen, vielleicht wollte sie nicht zum schwarzen Fürsten zurückkehren, ohne ihren Auftrag erfüllt zu haben. Vielleicht hoffte sie auch, dass Machairi sie geradewegs zu dem Orakel führen würde und sie zwei Bienen mit einer Faust schlagen konnte. Dass sie mit Vica aneinandergeraten würde, war abzusehen gewesen. Die beiden waren sich auf unangenehme Weise ähnlich, aber nicht ähnlich genug, um sich zu verstehen. Es fiel ihm schwer das zuzugeben, aber er vermisste Gwyn. Der Zhaki hatte stets das Talent gehabt, die Spannungen in der Gruppe deutlich aufzulockern, und irgendwie war es angenehm gewesen zu wissen, dass es wenigstens eine Person gab, die einigermaßen bei Verstand war.
Mico war auf der Hut, während sie sich quälend langsam durch die saftige und summende Natur der Insel schlugen. An manchen Stellen hing ein leichter Glitzer in der Luft, der mehr war als reiner Staub, und das Summen und Schwirren, das gerade in der Nähe der Blumen fast wie eine Melodie klang, war geradezu betäubend. Hier musste man auf seine Sinne aufpassen, um sich nicht benebeln zu lassen von der wundervollen Andersartigkeit dieses Ortes. Om’falo war zwar wundersam, aber für seinen Geschmack viel zu laut, viel zu dreckig und viel zu voll gewesen – fast so schlimm wie der Bienenstock. Hier war es schön. Zu schön.
Das Dorf tauchte so plötzlich auf, dass Mico es trotz seiner gespannten Beobachtung der Umgebung erst bemerkte, als sie mitten zwischen den Hütten standen. Gewaltige Bäume erhoben sich zu allen Seiten und Häuser standen zwischen ihnen und auf ihnen. Zelte, kleine Hütten, große Hütten, Steinbauten und Holzbauten, Pavillons und Baumhäuser, ja sogar Höhlen bildeten dieses Dorf. Alles war ins warme Licht der Sonne getaucht, das auf die Lichtung fiel, und ein Bachlauf glitzerte in der Nähe. Exotische Vögel glitten von Baum zu Baum und gemütliche Feuerstellen waren hier und da zwischen den Behausungen eingerichtet.
Die Menschen, die zwischen alldem umherliefen, trugen die gleichen weiten Seidengewänder wie auch das Mädchen. Manche waren mit echten Blumen verziert, andere wurden nur von einer Kordel gehalten. Überhaupt gab es hier viel zu viele Blumen. Am Wegesrand, auf den Bäumen, auf den Kleidern, auf den Häusern, ja sogar auf Tellern und Werkbänken lagen sie. Das Leben schien sich draußen abzuspielen. Werkstätten waren unter freiem Himmel errichtet und man konnte Schreinern, Webern und Gerbern, sogar einem Schmied direkt bei der Arbeit zusehen. Es war, Mico musste es zugeben, wirklich eindrucksvoll. Die größte Besonderheit war allerdings, dass sämtliche Bewohner Zhaki waren. Nicht ein einziger Harethi stach mit seiner dunklen Haut hervor und auch kein blonder Schopf eines Cecilian war zu sehen. Das war eigenartig. Hieß es nicht, dass die letzten reinen Zhakidörfer schon vor hunderten Jahren aufgelöst worden waren? Das einst wandernde Volk hatte nie viel von Siedlungen gehalten und wenn sie doch sesshaft geworden waren, hatten sie sich einfach zu den Menschen gesellt, die sich schon ein Leben aufgebaut hatten.
Nichts an diesem Ort wollte zusammenpassen und doch schien alles eine seltsame Einheit zu bilden. Aufwendige mehrstöckige Holzhäuser standen direkt neben einfachen Zelten und doch machte das Dorf nicht den Eindruck einer starken Hierarchie. Mit offenen Mündern standen die Bienen und die Prinzessin zwischen all diesen Bauten und sahen sich um. Selbst Vica hatte innegehalten, obwohl ihre Augen den Zauber um sie herum nicht erfassen konnten. Wäre sie etwas angenehmer als Person gewesen, hätte sie einem in solchen Momenten gar leidtun können.
»Gehobait de an manathai«, sagte das Mädchen und lief in eines der Zelte hinein. Mico sah automatisch zu Gwyn, der nur nickte und die Stirn gerunzelt hatte. Immerhin sah auch er sich um und vielleicht, nur vielleicht, war ein wenig Trübsal von ihm abgefallen. In einem Dorf voller Zhaki fühlte er sich sicher wohler und da das Mädchen, so wie es den Kampf zwischen Vica und der Faust unterbrochen hatte, eindeutig eine Elementmagierin war, konnte man hoffen, dass er hier zu sich zurückfinden würde. Ein so friedlicher Ort mochte auf eine empfängliche Seele Wunder wirken.
Mico spürte die Götter an diesem Ort. Es war ein seltsames Gefühl. Sie waren natürlich allgegenwärtig, besonders für magiebegabte Menschen, aber hier war das Gefühl besonders stark. Wie ein Flimmern lag es in der Luft, ließ es in den Ohren klingen und in der Brust vibrieren. So viel Licht umgab sie und die ganzen Wunder dieses Ortes waren sicher kein Zufall. Doch viel Licht bedeutete auch, dass es nicht weit von hier viel Dunkelheit gab. Gleichgewicht war überall in der Natur und er glaubte sogar zu fühlen, wie eine unsichtbare Spannung herrschte. Wieso befürchtete er, dass sie für die Dunkelheit gekommen waren, statt um das Licht zu genießen?
Das Mädchen kam zurück und sie war nicht allein. Eine Frau trat zu ihnen. Die untere Hälfte ihres zarten Gewandes war von einem leichten Rosa. Eine braune Kordel hielt es als Gürtel an der Taille zusammen und ein Teil ihres braunen Haares war mit zahllosen Blüten zu einer Art Krone geflochten, während sich der Rest in leichten Wellen über ihre Schultern ergoss. Sie war vielleicht Ende dreißig und von so unnatürlicher Schönheit, dass Mico spontan die Flucht ergreifen wollte. Mit jeder Sekunde hatte er mehr das Gefühl, dass er nicht hierhergehörte.
»Willkommen, Reisende«, sagte sie huldvoll und in einwandfreiem Cizethi. Lächelnd musterte sie die Fremden einen nach dem anderen und schien sich besonders über Gwyns Anblick zu freuen. »Mein Name ist Reolet. Ich bin die Mutter dieses Dorfes.« Mit einer fließenden Bewegung deutete sie in die Runde der Hütten. Angesicht ihres Alters und aus purer Hoffnung, dass es nichts anderes war, ging Mico davon aus, dass es sich mehr um einen Titel als um eine wörtliche Tatsache handelte. Etwas an ihr war seltsam. Wie alles hier wirkte sie unwirklich und befremdlich. Ihre Freundlichkeit wirkte aufgesetzt und er glaubte, dahinter einen Blick voller Skepsis und vielleicht sogar Abneigung zu sehen. Vielleicht war er allerdings auch zu sehr mit Abneigung vertraut, um irgendetwas anderes zu erwarten.
Keiner von ihnen konnte sich so recht zu einer Antwort durchringen. Selbst Gina und Vica, die sich sonst beide kaum zurückhalten konnten, schienen nichts zu sagen zu haben. Der Blick, den die Faust der Frau zuwarf, war allerdings so tief von Argwohn gezeichnet, dass sie eigentlich nichts mehr sagen musste, um ihr Misstrauen zum Ausdruck zu bringen. Man merkte den Bienen doch an, dass sie sich selten in freundlichen Konversationen versuchten. Einzig die Prinzessin nickte freundlich. Mico seufzte. »Vielen Dank, Reolet«, sagte er und versuchte dabei ihren Namen ebenso zu betonen, wie sie es getan hatte. »Wir sind … nun … wir sind …« Ja, was genau waren sie eigentlich? Sie waren keine Freunde oder auch nur Kollegen. Sie wussten nicht, weshalb sie hier waren, und kaum, wo sie hinwollten. Es wollte ihm nichts einfallen, was er hätte sagen können. »Wir haben uns im Wald verloren«, sagte er schließlich. Sie hatten Machairi verloren, den Weg verloren, teilweise scheinbar den Verstand verloren und ihr Ziel verloren. Es schien ihm die beste Beschreibung zu sein.