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Gina schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie die Locken nach hinten schüttelte. Es reichte noch immer nicht für einen Kommentar, aber sie war offenbar schon wieder kurz davor. Reolet ließ sich davon nicht beeindrucken. »Dann ist es ein wahres Glück, das Katyre euch gefunden hat, bevor ihr noch mehr verloren gehen konntet.« Sie warf einen liebevollen Blick auf das Mädchen, das einen halben Schritt hinter ihr stand und die Fremden noch immer neugierig musterte. Ihre Scheu war verständlich und ein Zeichen von Intelligenz.
Mico zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Wahrlich«, antwortete er so verbindlich, wie er konnte, und wollte am liebsten gehen. Etwas stimmte hier nicht. Dieser Ort brummte vor Magie und doch, oder vielleicht gerade deswegen, fühlte er sich unwohl.
Reolets dunkle Augen musterten ihn wissend und er fühlte sich fast bedroht, obwohl sie lächelte. Es jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken, ein Effekt, den sonst nur Machairi hervorrief. »Bizarr, so verloren könnt ihr doch nicht gewesen sein, wenn ihr so zuverlässig hergefunden habt.« Hatte sie nicht eben selbst noch gesagt, dass das Mädchen mit dem seltsamen Namen sie gefunden hatte? Warum hatte er das Gefühl, dass sie eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte? »Kommt«, fügte sie dann nach einem weiteren Moment, in dem sie ihn nur bohrend musterte, hinzu und drehte sich um. Mico schielte nach links und rechts. Fand noch jemand, dass irgendetwas komisch war? Es war schwer zu sagen. Schweigend und mürrisch folgten sie der Frau in das Zelt, aus dem sie gekommen war. Sie schob die Zeltplane zur Seite und hielt sie fest, während ihre Gäste sich einer nach dem anderen in das Zelt schoben. Tatsächlich waren sie inzwischen eine große Gruppe, das wurde spätestens jetzt deutlich, weil das Zelt unangenehm voll wurde, obwohl es recht geräumig war. Als Gwyn eintrat, schmunzelte Reolet wieder. »Du hättest erwähnen sollen, dass du einen so außergewöhnlichen Jungen bei dir hast. Ich wäre wesentlich leichter zu überzeugen gewesen.«
Gwyn fuhr zusammen, als er verstand, dass es um ihn ging, und zog den Kopf ein, als schwarze Augen ihn trafen und eisig musterten. Machairi stand mitten im Zelt und schien gewartet zu haben. Ausgestattet war das Zelt für Micos Geschmack etwas zu blumig. Der Boden war hölzern und es standen Bänke im Kreis vor einem bedeutend gemütlicher aussehenden Stuhl - vielleicht war es eine Art Thron. Cail stand direkt daneben und er wollte so gar nicht hierher passen in seinen schwarzen Kleidern. »Ich hätte eher verzichtet.« Der Schatten hatte die Augen nicht länger auf Gwyn gerichtet, sondern musterte nun die ganze Runde.
Reolet lächelte wissend. »Es muss schon ein Wunder geschehen, dass meine Hilfe überhaupt einen Unterschied macht.« Mit einer Geste deutete sie auf die Bänke. »Du kannst sie aber unmöglich alle mitnehmen wollen.« Fragend sah sie Machairi an, während sie endlich die Zeltplane losließ und zwischen gestreuten Blütenblättern hindurch weiter in den Raum trat.
Bevor Machairi dazu kam zu antworten, platzte Ginas Geduldblase und sie fuhr dazwischen. »Ich glaub’s nicht! Jetzt weiß schon die verrückte Urwaldtante, was hier läuft?« Wütend funkelte sie Machairi an und schob den Unterkiefer vor. »Du erklärst mir jetzt, was hier vorgeht, oder ich nehme deine dumme Nussschale und fahre nach Hause!«
»Niemand hat dich gebeten, mitzukommen, Gina«, erinnerte Cail ruhig und musterte sie gleichgültig. »Das Schiff bleibt hier«, fügte er jedoch hinzu und schien die Diskussion damit beenden zu wollen.
Die Faust stampfte in den Kreis der Bänke, auf dem sich der Rest von ihnen stillschweigend niedergelassen hatte, und trat direkt vor den Messerdämon. Das wütende Funkeln in ihren Augen hätte jeden anderen mit Verstand wenigstens ein paar Schritte zurückweichen lassen, aber natürlich begegnete Machairi ihr mit kalter Ruhe. Sie griff nach seinem Kragen. »Du bist ein unglaubliches Arschloch, weißt du das?«, fauchte sie und schien sehr bereit, auf ihn einzuschlagen.
Er reagierte nicht, wich nicht einmal aus und ließ zu, dass sie die Finger im dunklen Stoff vergrub. Eisig und strafend sah er auf den kleineren Schatten hinab und plötzlich wirkte es wesentlich dunkler im eigentlich so übertrieben freundlichen Raum. Mico sah das Blitzen einer silbernen Messerklinge in beiden Handschuhen, aber Machairi regte sich nicht.
Einen Moment war die Szene wie gefroren, dann löste die Faust den eigenen weißen Handschuh aus dem dunklen Stoff und trat einen halben Schritt zurück. »Wohin geht diese bescheuerte Reise?«, fragte sie noch einmal, weiterhin wütend, aber nicht mehr kochend genug, um sich noch ein zweites Mal so weit vorzuwagen. »Du kannst nicht erwarten, dass dir alle weiterhin blind hinterherrennen.«
Die Faust sprach Mico aus der Seele und nicht nur ihm, das konnte er sehen. Seufzend stützte er die Arme auf die Knie und musterte die Runde. »Sie hat recht«, sagte er so ruhig und verbindlich er konnte. »Wir sind immer noch hier und viel schlimmer kann die Reise eigentlich nicht werden. Es ist kaum jemand hier, an den wir dich verraten könnten. Was schadet es dir, uns einfach zu sagen, was wir hier tun?«, fragte er vorsichtig und hoffte, dass er im Zweifel den Rückhalt der Gruppe hatte. Bei dem Wort verraten, schienen alle Blicke kurz zu Gwyn zu zucken, der möglichst unauffällig am äußersten Ende der Bank hockte und den Boden anstarrte.
Die Hatschi räusperte sich, als es still wurde und Mico Machairis eisige Stille kaum noch ertragen konnte, obwohl seine schwarzen Augen weiterhin die Faust ansahen. »Suchen wir noch nach diesem Orakel?«, fragte die Hatschi ganz leise, die Schultern hochgezogen und scheu, als befürchte sie, dass im nächsten Moment ein Messer auf sie fliegen würde.
Kurz war es still. Das geschäftige Treiben des Dorfes drang durch die Zeltwand und durchbrach die angespannte Stille im Inneren auf unwirkliche Art. »Er weiß, wo es ist«, sagte Vica, die Hände um den Drachen gelegt und die leeren Augen in die Richtung des Schattens gerichtet.
»Wo ist es?«, fragte Koryphelia, die sich etwas unbeholfen in die Gruppe einfügte, aber genauso von der Spannung beeinträchtigt war. Alle Blicke lagen nun erwartungsvoll auf dem Schatten und vielleicht fühlte zur Abwechslung einmal er sich bohrend gemustert.
Seine klare Stimme durchschnitt die Spannung in der Luft und fuhr durch Mark und Bein, als er endlich antwortete und damit doch nichts besser machte. »Es ist in der Unterwelt.«

Ein Funke Menschlichkeit
Bleischwer hing die Antwort in der Luft. Unterwelt. Für einen Moment fragte sich Leén erneut, ob sie wirklich daran glaubte. Es klang noch immer so … unglaublich. Konnte sich tatsächlich ein sagenumwobenes Artefakt in den grausigsten Tiefen aller Welten verstecken? Wie war es dort hingelangt? War es dort nicht vielleicht sogar … sicher?
Am Anfang ihrer Reise – es schien Jahre her zu sein – hatte Gwyn ihr erklärt, dass sie das Orakel suchten, damit es niemand sonst fand und einen neuen Krieg damit anfangen konnte. Die Könige dieser Welt hätten die Beantwortung einer Frage genutzt, um einander zu zerstören. Das hatte einleuchtend geklungen. Auch, dass der Zustand der Bienen ein guter Indikator dafür war, wie es dem Land oder der Welt ging, hatte irgendwie Sinn ergeben. Doch nun? Wenn das allwissende Orakel in der Unterwelt verborgen war, war es doch keine Gefahr, oder etwa doch? Wenn Ebos selbst es hätte benutzen können, wäre es doch längst so weit gekommen, und für die Menschen war es vollkommen außer Reichweite. Nein, sie konnte keinen guten Grund sehen, wieso sie es zurück in die sterbliche Welt bringen sollten.
Zurückbringen. Das klang zuversichtlich, dabei war Leén alles andere als zuversichtlich. Eigentlich schüttelte sich ihr Innerstes allein bei der Vorstellung eines Ortes, der der Inbegriff des Leidens und der Schlechtigkeit war. Der Gedanke, hinabzugehen, wenn es denn einen Weg gab, nur um ein Artefakt zu holen, das besser aufgehoben war, wo es jetzt war … das Licht selbst schien sich zusammenzukrampfen. So wahnsinnig konnte doch nicht einmal der Messerdämon sein, oder?
Da war sie wieder: die Furcht, dass die Gerüchte über Machairi vielleicht doch der Wahrheit entsprachen. Was, wenn er wirklich dunklen Mächten entstiegen war? Gerade erschien nichts unmöglich.
»Ich bin nicht sicher, ob ich lachen oder dich erschlagen möchte«, sagte Gina und warf die roten Locken zurück. »Wenn es da ist, ist es ohnehin verloren. Wir können in aller Seelenruhe nach Hause fahren und den Bienenstock wieder einigermaßen unter Kontrolle bringen. Ich wette, es läuft längst alles aus dem Ruder.«
Vica schnaubte und wiegte Spítha in ihren Händen. » Sind die Tore nicht ohnehin schon seit ein paar hundert Jahren zu?«, fragte sie und schob sich weiter unter ihre Kapuze. Von der Seite konnte Leén ihr Gesicht dadurch nicht sehen, aber sie glaubte, Angst in der Stimme der Naturistin mitschwingen zu hören. Das war viel wert, weil sich ihr eigenes Herz noch immer nicht beruhigen konnte. Immerhin verstand sie nun, weshalb der Schatten nichts gesagt hatte. Er hatte kaum mit Zuspruch rechnen können und unwissend beleidigt war die Gruppe bestimmt einfacher zu manipulieren als wissend und von Angst geplagt.
Korys Blick war ins Nichts geschweift und sie saß stocksteif auf der Bank, was nicht nur ihrer unnatürlich geraden Haltung geschuldet war. Es machte die grausige Angst ertragbarer, wenn man sah, wie auch die anderen erschauderten bei dem Gedanken. Micos abgrundtiefe Abscheu war auf seine Züge zurückgekehrt und Leén erinnerte sich daran, dass er als Magier und als Cecilian vermutlich der Gläubigste von ihnen war. »Ungeachtet der Sage, dass es noch offene Tore geben soll … selbst wenn sich hier eines befindet, hast du nicht vor, uns alle da runter zu zwingen, oder?« Der Cecilian hatte die Hände aneinander festgehalten, aber sie zitterten trotzdem und er schob sie in die weiten Ärmel, um es zu verbergen.
Plötzlich schien sich die ganze Gruppe recht einig zu sein. Nicht weiter überraschend, dass keiner von ihnen auf einen Trip in die Unterwelt brannte. Der Einzige, der eher nachdenklich als verschreckt aussah, war Gwyn und der blickte hauptsächlich weiterhin abwesend auf den Boden. Trotzdem konnte Leén es in seinem Kopf rattern sehen. Vielleicht sah er darin eine Chance, seinen zerstörten Ruf wiederherzustellen und wenn dem so war, hätte sie ihm gerne auf den Kopf gehauen.
Wieder starrten sie alle Machairi an, hoffend, dass er etwas anderes vorhatte, vielleicht sogar einen wild-willkürlichen Plan, um irgendwie anders des Orakels habhaft zu werden. Doch plötzlich fiel Leén wieder ein, was Machairi zu Ila gesagt hatte, und ihr wurde so flau im Magen, dass sie beinahe zwischen die Blüten gekotzt hätte. Ich brauche nur einen Weg zurück. Die Worte erwartend kniff sie die Augen zusammen, als würde das irgendetwas aufhalten, wenn sie es nur nicht länger sehen konnte.
»Nein«, sagte der Schatten schließlich und die schwarzen Augen streiften einmal durch die Runde. »Wir gehen zu dritt«, sagte er und die Harethi musste nicht sehen, um zu wissen, dass seine Augen auf ihr lagen.
»Geht es für die Blinden unter uns vielleicht etwas genauer?«, fragte Vica, die Stimme so triefend vor Sarkasmus, dass man die Befürchtung dahinter deutlich hörte. Beinahe hätte Leén verzweifelt aufgelacht.
»Ich weiß, dass es eine unnötige Frage ist, aber hast du den Verstand verloren?«, fragte Gina und schüttelte den Kopf. »Das ist tatsächlich die unlogischste Wahl überhaupt!« Leén blinzelte und sah, wie die Faust die Hände in die Luft warf und fassungslos den Kopf schüttelte. »Da komm ich ja lieber selbst mit. Willst du dich umbringen?«
Gwyn hatte den Kopf gehoben, er sah vielleicht noch verletzter aus als vorher, weil er nicht einmal für eine Todesmission ausgesucht worden war. Auch Mico hatte sich zwar erleichtert zurückgelehnt, aber die Stirn in Falten gelegt.
Koryphelia selbst sah überrascht und schockiert aus, dass die Wahl auf sie gefallen war, und das erste Mal überhaupt hatte Leén das Gefühl, zu verstehen, was keiner außer Machairi sonst verstand. Sie hatte diese Wahl vollkommen vorausgesehen. Koryphelia und Leén waren die einzigen Personen, die er nicht mitgenommen hatte, weil er sie als Personen schätze oder geschätzt hatte oder sie in Om’falo gebraucht hatte. Für die Prinzessin war er in einen fremden Palast eingebrochen und damit war eigentlich schon klar gewesen, dass er sie für etwas Entscheidendes brauchte, und Leén selbst hatte er von vornherein als Werkzeug benutzen wollen. Sie sah sogar ein, dass Magie, die Licht und Gleichgewicht spenden sollte, in der Unterwelt sehr hilfreich sein konnte. Deshalb biss sie sich nur auf die Lippe und versuchte, das kalte Schaudern zu unterdrücken. Für einen Moment war sie versucht, den Kommentar abzuwerfen, den sonst Gwyn an dieser Stelle gebracht hätte: Ihr wisst doch, wie er ist, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Hallo?«, fauchte Vica, als alle sich nur ansahen und Sorge, Angst und Fassungslosigkeit ihre Züge zeichneten. Leén presste die Lippen aufeinander. Die seltsame Genugtuung, die Ungläubigkeit mal einmal nicht zu teilen, verschwand binnen kürzester Zeit wieder vollständig und wich grauenvoller Angst. Es fehlte eigentlich nur noch, dass die Dunkelheit sie wieder erschlug, wie so oft, wenn die Angst in ihren Knochen etwas zu groß wurde. Auf dem Schiff, als das gewaltige Seemonster aus den Tiefen gestoßen war, hatte sie sie für einen kurzen Moment zu spüren geglaubt, aber sie war so gebannt gewesen, dass sie sich kaum mehr sicher war, ob es tatsächlich so gewesen war, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte.
Wieder musste jemand die Lücke füllen, die Gwyn hinterließ, obwohl er mitten in ihrer Runde saß. Leén schluckte und hoffte, dass ihre Stimme normal klingen würde. »Koryphelia und ich«, krächzte sie und als sie Machairis Blick begegnete, erschauderte sie. Prüfend musterte er sie und sie wollte wissen, was er wohl dachte.
Vica lachte auf, aber es war ein frustriertes Lachen. Puki sprang vor Schreck unter ihrer Kapuze hervor und rollte als kleiner Zylinder über den Boden und aus Spíthas bebenden Nüstern rauchte es. »Natürlich. Ich nehme an, dass wir keine Erklärung bekommen, warum du genau die Fähigsten ausgesucht hast?« Ihr Sarkasmus schlug in Wellen durch den Raum und Gina schnaubte. Vermutlich war sie nicht damit einverstanden, dem Mädchen zuzustimmen, das ihr kaum vor einer halben Stunde eine Waldkatze auf den Hals gejagt hatte. Tatsächlich waren sich die beiden wohl ähnlicher, als sie verkraften konnten.
Leén konnte ihnen den Gedanken allerdings nicht einmal übelnehmen. Von der Gruppe waren Koryphelia und Leén vermutlich tatsächlich die am wenigsten geeigneten Kämpfer und Abenteurer. Interessanterweise war es wieder Mico, der plötzlich einlenken konnte. »Naja. Ich weiß nicht, ob man davon ausgehen kann, dass Vicas Fähigkeiten in der Unterwelt überhaupt nutzbar sind, ebenso wie meine. Und Gina ist zu … impulsiv.« Einen nach dem anderen musterte der Cecilian sie. Zuletzt blieb sein Blick an Gwyn hängen, aber bevor er etwas zu dem Feuerspucker sagen konnte, erfüllte wieder Machairis kalte Melodik den Raum.
»Wenn sie nicht beide notwendige Attribute hätten, würde ich niemanden mitnehmen«, stellte er klar und musterte die beiden Mädchen genau. Koryphelia straffte die Schultern unter diesem Blick noch mehr. Sie hatte sich noch immer nicht geäußert. Vielleicht war ihre Kehle ebenso trocken wie Leéns. Natürlich wollten sie nicht in die Unterwelt hinabsteigen, aber wenn Machairi das so beschlossen hatte, gab es vermutlich kaum einen Weg darum herum. Immerhin standen die Chancen gut, dass nicht einmal der Messerdämon ohne unumstößliche Notwendigkeit in die Unterwelt hinabstieg.
Gina verdrehte die Augen. »Du hast überhaupt keine kampffähige Unterstützung und willst drei Personen beschützen?« Sie schnaubte. »Das klingt sinnvoll.« Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Das ist bescheuert. Ich komme mit!« Überraschte Blicke trafen sie und ein abfälliges Schnauben kam aus Vicas Richtung. Der Schatten sah sie strafend an und sie alle wussten, was er von der Aussage hielt. Dabei wusste Leén nicht wirklich, was ihn daran so sehr störte. Eigentlich schienen sich die beiden doch ganz gut zu verstehen und vielleicht würde sogar die Faust ihr loses Mundwerk zügeln können, wenn sie an einen solch gefährlichen Ort gingen. Leén hätte jedenfalls nichts dagegen gehabt, eine weitere kampffähige Person bei sich zu haben. Das schien auch Gina so zu sehen. »Du musst weder deine Künste noch deine Männlichkeit unter Beweis stellen.« Sie versuchte, ebenso strafend zurückzusehen – natürlich ohne Erfolg. »Lass mich einfach helfen«, knurrte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du hilfst, indem du hier aufpasst«, vertröstete der Schatten sie und die Harethi fand es schon beachtlich, dass er ihr überhaupt eine Alternative bot. Gleichzeitig fragte sie sich, warum Vica, Mico und Gwyn die Faust als Kindermädchen brauchten und konnte sich gut vorstellen, dass keiner von denen das gut fand.
»Die sind erwachsen, die können ganz allein auf sich aufpassen«, schnaubte sie und warf die Haare zurück. Erneut nahm sie ein Blickduell mit dem Dämon auf und eine Weile war es still, während alle beobachteten, wie lange es dauerte, bis Gina verlor. »Verdammt, na gut!«, stieß sie schließlich hervor und wandte sich ab, beleidigt und gedemütigt. »Dann bekommt eine von euch beiden jetzt einen Selbstverteidigungsschnellkurs von mir!«, beschloss sie und sah zu Kory und Leén.
Letztere zog instinktiv den Kopf ein, weil sie sich an ihre letzte Kampfstunde erinnerte und überhaupt nicht das Bedürfnis hatte, sich vor der Faust auch noch zu blamieren. Sie war leider ein hoffnungsloser Fall und das würde sich nicht in kürzester Zeit ändern lassen. Die Prinzessin hingegen schmunzelte. »Das klingt in der Tat nicht nach einer schlechten Idee«, sagte sie. »Bevor ich mich auf diese fragwürdige Mission einlasse, wüsste ich allerdings gerne genauer, was uns dort unten erwartet.« Fragend sah sie zu Machairi, die blauen Augen funkelnd und das Kinn gestreckt, in dem Versuch, ihre Unterlegenheit zu verbergen.
»Dunkelheit«, antwortete der Schatten, aber sein Blick traf Leén statt Koryphelia. Ein Schauer schüttelte die Harethi und das Licht selbst schien zu erzittern. Dunkelheit war ein gefährliches Thema mit ihr. »Wir gehen morgen früh. Rish, komm.« Damit schien er die Runde auflösen zu wollen, auch wenn mit Sicherheit noch lange nicht alle Fragen beantwortet waren.
»Bevor ihr geht«, Reolet, die wie eine Statue am Zelteingang gestanden hatte, trat zu ihnen und blickte in die Runde, »möchte ich euch bitten, in diesem Dorf keine Magie zu üben und keine Kämpfe auszutragen. Es ist ein heiliger Ort.« Mahnend sah sie besonders zu Vica und Gina, die diese Reglung bereits gebrochen hatten. »Es gibt eine Übungsfläche jenseits des Baches, wo ihr jede Abstrusität ausüben könnt, wie es euch beliebt, solange es sich nicht um schwarze Magie handelt. Ansonsten könnt ihr in einem der Häuser unterkommen.« Lächelnd sah sie in die Runde. Irgendetwas an dieser Frau war sonderbar. Ihr Gesicht glänzte leicht, als habe sie besonders stark geschwitzt oder als sei es aus weichem Wachs geformt und sie wirkte auf seltsame Weise unecht. Sie war Leén trotz ihrer Freundlichkeit unheimlich.
»Abstrusität«, wiederholte Vica und es klang, als schmecke das Wort ekelhaft bitter auf der Zunge. Der Spott, den sie hervorbringen wollte, ging darin unter und man musste sich spontan fragen, wie oft Vica sich schon aufgrund eines Urteils über ihre Fähigkeiten geärgert hatte. Dabei war Leén sich nicht einmal sicher, dass Reolet tatsächlich hatte ausdrücken wollen, dass sie abnormale Magie wirkten. Vielleicht hatte die Frau auch einfach sagen wollen, dass ihr egal war, was sie taten, solange sie es nicht im Dorf taten.
»Du kannst mit mir kommen«, sagte die Frau ungerührt freundlich und warf einen Blick auf den Drachen, als habe sie den Kommentar der Blinden gar nicht gehört. »Wir werden deinem Drachen sicher helfen können.« Ein schlauer Zug. Für Spíthas Wohl würde sogar Vica ihren Stolz vergessen, so verzweifelt, wie sie zuletzt über seinen Zustand gewesen war. »Katyre wird dem Rest zeigen, wo ihr unterkommen könnt.« Katyre war der Name des kleinen Mädchens gewesen, das sie im Wald gefunden hatte. Hoffentlich wusste das Kind auch, dass es ihnen helfen würde, denn außer Gwyn schien niemand ihre Sprache zu sprechen.
Vicas Kiefer malmte, aber sie stand auf und hielt den kleinen Drachen sanft fest. »Wo ist mein Stock, Hatschi?«, fragte sie mühsam beherrscht und klang trotzdem noch immer patziger, als Leén es je zustande gebracht hätte.
Wortlos hob sie den Stock vom Boden auf, reichte ihn Vica und sah zu, wie die Blinde etwas unbeholfen Reolet folgte, während Puki sich aus seiner Rolle löste und ihr hinterherhüpfte. Ob er wohl eifersüchtig war auf den neuen Begleiter, der so viel mehr Aufmerksamkeit bekam als er?
Damit war die Runde aufgelöst. Die Prinzessin verkündete, dass sie zunächst Quartier beziehen wollte, bevor sie sich irgendeiner Form von Training hingab, und Gina war einverstanden. Obwohl sie nur vom Schiff hierhergekommen waren, schien schrecklich viel passiert und auch Leén hatte das Bedürfnis, sich irgendwo hinzusetzen und die verstörenden Neuigkeiten zu verarbeiten. Leider war sie wohl die Einzige, der das nicht vergönnt war, denn sie hatte nicht vor, ausgerechnet Machairi zu erklären, dass sie erst eine Pause brauchte, bevor sie ihm irgendwohin folgen wollte.
So fand sie sich wenig später erneut durch den Wald stolpernd wieder, während die anderen von dem kleinen Mädchen in eines der Holzhäuser geführt wurden. Palmwedel hingen ihr ins Gesicht und exotische Pflanzen wanden sich ihren Weg an Bäumen hinauf und umeinander herum. Allerlei sonderbares Getier tummelte sich hier: Erstaunlich große Bienen schwirrten umher, Vögel mit langen Schnäbeln tranken aus Blumenkelchen und einmal glaubte sie sogar ein winziges menschenähnliches Wesen zu sehen, das fast durchsichtig und mit Flügeln ausgestattet hastig davonschwirrte. Vermutlich floh es vor allen Menschen, aber selbst weniger scheue Wesen ergriffen wohl die Flucht vor Machairi. Der Schatten passte nicht hierher. Das Dunkel seiner Kleider und seiner Haare hob sich deutlich von der bunten Umgebung ab und schien doch zwischenzeitlich mit den Schatten zwischen den Pflanzen zu verschmelzen. Die dicken Stämme gewaltiger Bäume führten hinauf zu dichten Blätterkronen und an manchen Stellen drang kaum ein Sonnenstrahl zu ihnen hinab.
Irgendwann trafen sie auf einen größeren Wasserlauf. Es war hier schon mehr ein Fluss als ein Bach und in vielen kleinen Wasserfällen stürzte er eine Felswand hinab. Es sah hübsch aus und für einen kurzen Moment dachte sie daran, dass man auf der Wiese am Fuße der Fälle ein hervorragendes Picknick hätte veranstalten können. Eine innere Stimme sagte ihr allerdings, dass Machairi kein Picknick mit ihr machen wollte. »Was tun wir hier?«, fragte sie, als Machairi endlich stehen blieb.
»Du kannst nicht weiter bei Dunkelheit in Ohnmacht fallen«, antwortete er und drehte sich zu ihr. »Ich habe wenig Interesse daran, dich durch die Unterwelt zu tragen.« Spontan wurde sie verlegen. Tatsächlich wäre es ihr unheimlich peinlich gewesen, wenn es so weit käme. Leider wusste sie auch nicht, was sie dagegen tun sollte. Ein Ort, den die Dunkelheit regierte, war sicherlich nicht der beste Aufenthaltsort für jemanden, der beim kleinsten Kontakt das Bewusstsein zu verlieren drohte. »Da Ila es dir nicht rechtzeitig beibringen konnte, wirst du es jetzt üben«, erklärte er dann weiter.
»Und wie?«, fragte Leén vorsichtig und bekämpfte das Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen. Vermutlich hätte sie nicht einmal den Weg zurück zu dem kleinen Dorf gefunden durch das Dickicht des Waldes. Vielleicht war das der Sinn der Sache gewesen, sonst sah sie nämlich keinen Grund hierherzukommen, wenn es doch eine Übungswiese gab. Das Problem, das Leén mit jener Fläche gehabt hätte, wäre höchstens die Möglichkeit, dass Gina und Kory dort auftauchen würden, um selbst zu trainieren, und sie konnte auf Zuschauer verzichten. Besonders wenn die eine ihre spöttischen Bemerkungen kaum zurückhalten würde und die andere bisher noch eine recht gute Meinung von ihr hatte, die man leicht ruinieren konnte.