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Mutiger als er sich fühlte, trat Gwyn auf den Flur hinaus und stolperte fast augenblicklich zurück in den Raum. Rish betrat in diesem Moment den offenen Flur und er ging davon aus, dass sie nicht allein war. Wie wild zappelte ihm das Herz in der Brust und er hätte sich selbst dafür schlagen können. Wann war es so weit gekommen, dass er nicht mal mehr im gleichen Flur sein konnte wie seine Freunde, ohne buchstäblich die Flucht zu ergreifen? Sein Herz stolperte noch mehr, als es kaum eine Sekunde später an der Türe klopfte. Wie automatisch zurrte sich seine Kehle zu und er hätte alles darum gegeben, sich in Luft auflösen zu können.
Unschlüssig stand er da und musterte die Tür, fragte sich, ob es nur Rish oder gar der Schatten selbst war, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass der klopfte, recht gering war. Sein Anflug von Mut war verfolgen und es kostete ihn alles an Selbstbeherrschung, die Tür zu öffnen und hinauszuschielen.
Mit gerunzelter Stirn stand Rish vor der Tür – allein – und musterte ihn forschend, als er scheu hindurchblickte. Warum war sie nass? Trotz des Zwielichts in dem offenen Flur konnte man gut erkennen, dass ihre Haare feucht waren, und auch ihre Bluse und das rötliche Korsett wiesen dunkle Flächen auf, die eindeutig von einer Flüssigkeit stammten. Was wollte sie von ihm und warum wusste sie, in welchem Zimmer er war?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Harethi, noch immer mit gerunzelter Stirn und klang sehr skeptisch.
Gwyns Zunge wog sicher mehrere Tonnen. Schwer und ungelenk wie ein Stein lag sie ihm im Mund und er traute sich nicht zu, sie zu benutzen. Die Vorstellung, nur unverständliche Laute hervorzubringen, war zwar unrealistisch, machte seine Angst jedoch nur größer. Was war nur los mit ihm?
»Du sitzt nicht in einer Ecke«, stellte sie dann fest und verbannte den skeptischen Ausdruck von ihren Zügen. Eigentlich wollte er sich veralbert vorkommen, aber erstens war nicht viel Amüsement in ihrer Stimme und zweitens hatte sie recht. Davon abgesehen, dass er bis vor wenigen Augenblicken in einer Ecke gesessen hatte. »Wohin wolltest du gehen?«, fragte sie dann und endlich begriff der Gaukler, dass sie ihn gesehen hatte, als er auf lächerliche Weise in sein Zimmer zurückgeflüchtet war. Da er sich dankenswerterweise daran erinnerte, dass er zuvor festgestellt hatte, dass es keine gute Idee war, sie um Hilfe zu bitten oder einzuweihen (und weil die unrealistische Angst, nicht sprechen zu können, nicht verflogen war) zuckte er nur mit den Schultern und wich ihrem Blick aus.
»Gwyn«, murmelte sie und klang plötzlich viel mitleidiger. »Es wird schon alles wieder gut. Erstmal hast du doch jetzt etwas Ruhe und er ist nicht in der Nähe. Dann kannst du dich vielleicht etwas sammeln?«, schlug sie vorsichtig vor und musterte ihn besorgt.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er die Tür einfach wieder zugeschlagen. Wie genau gedachte er, ausgerechnet mit Machairi zu reden, wenn er selbst vor Rish keinen Ton herausbrachte? »Wo ist er?«, fragte er ohne jeden Zusammenhang. Seine Stimme klang furchtbar. Kratzig, belegt und fremd drang sie an seine Ohren und schon wieder wollte er die Tür lieber zuschlagen, als weiter einer netten Person voller Mitleid gegenüberzustehen.
Jetzt zog das Mädchen die Augenbrauen so hoch, dass sie bald mit dem Haaransatz kollidieren würden. »Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was ich dir gerade empfohlen habe«, stellte sie fest und sah ihn prüfend an, als wollte sie sichergehen, dass er nicht endgültig den Verstand verloren hatte. Vielleicht hatte er das ja. Wie sollte er das wissen? Rish seufzte und nickte zu einer Tür am anderen Ende des Flures. »Mach dich nicht verrückt«, sagte sie dann trotzdem und musterte ihn noch immer, als sei er plötzlich an irgendeiner unheilbaren Krankheit erkrankt. »Kein normaler Mensch würde dir einen Vorwurf machen.«
Das war nicht wahr. Was ihn aber viel mehr irritierte, war die Art und Weise wie sie normaler Mensch aussprach, als fasse das Machairi nicht mit ein. Das Thema hatten sie doch schon zur Genüge durchgekaut, oder? »Danke«, presste er hervor und seine Stimme raspelte über die Laute. Dann schob er sich an ihr vorbei, weil er nicht unhöflich genug war, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen, und auch gleichzeitig nicht glaubte, dass er auch nur eine weitere Minute dieser Unterhaltung ertragen wollte. Verstand sie nicht, dass sie alles nur schlimmer machte, wenn sie ihn auch noch Mitleid zuteilwerden ließ in seiner bescheuerten Verzweiflung? Ja, er war in Ungnade gefallen, aber er hatte es mit heiler Haut wieder aus dem Palast hinausgeschafft. Gleiches konnte man von so vielen anderen nicht behaupten. Seine dumme Entscheidung, die er viel zu bewusst getroffen hatte, war so einmalig bescheuert gewesen, dass sie eine ganze Reihe von Schäden ausgelöst hatte. Er war sicherlich nicht die Person, die hier das Mitleid verdient hatte, nur weil er sich selbst seither viel zu leidtat. Schon wieder etwas, wofür er sich hätte schlagen können. Er war so wütend auf sich selbst, dass er nicht wusste, wohin mit all seiner Wut, und schon viel zu oft wäre das beinahe an anderen explodiert und er wollte nicht wissen, wie er sich danach gefühlt hätte. Außerdem fürchtete er das Feuer, das sich irgendwo in seinem Inneren mehr und mehr auflehnte.
Um Rish vor diesem Schicksal zu bewahren, ließ er sie stehen und ging den Flur hinab. Er hatte keinen besseren Plan, also würde er den nehmen, den er hatte. Einfach um irgendetwas zu versuchen. »Viel Glück«, rief die Harethi ihm nach und er hörte die Sorge und das Unverständnis heraus. Dann drehte auch sie ihm den Rücken zu und verschwand in ein anderes Zimmer. Vermutlich ahnte sie sogar, was er fragen würde, und er wusste es zu schätzen, dass sie sich da raushielt.
Im Tunnelblick fokussierte Gwyn die Tür. Bedrohlich ragte das Holz vor ihm auf und wieder schnürte sich seine Kehle zusammen, die sich doch gerade etwas entspannt hatte. Er hatte sich keine Worte zurechtgelegt. Aus Erfahrung wusste er, dass Machairi ohnehin jede geplante Konversation über den Haufen warf, und er befürchtete, dass er die Flucht ergreifen würde, wenn er sich tatsächlich damit auseinandersetze, was er hier gerade tat. Es war ein Akt der Verzweiflung, der aussichtslose Versuch, sich irgendwie aus dem Loch zu ziehen – oder ziehen zu lassen –, das er seit Om’falo nicht mehr verlassen konnte.
Als er die Hand hob, um zu klopfen, hatte er das seltsame Gefühl, einer anderen Person dabei zuzusehen. Irgendwie schien das unbestreitbare Angstgefühl dazu geführt zu haben, dass sein Verstand ihm vorgaukelte, er sei nicht mehr er selbst. Das war zwar vermutlich eigentlich ein schlechtes Zeichen, aber es führte dazu, dass er die Angst besser ertragen konnte. Außerdem ging ein plötzliches Gefühl von Gleichgültigkeit damit einher, Gwyn wusste schließlich, dass diese Aktion vermutlich damit enden würde, dass ihm ein Messer irgendwo aus dem Körper ragte.
Trotzdem hallte das zaghafte Klopfen von Fingerknöcheln auf Holz durch den Flur und vermischte sich mit seinem Herzschlag. Das »Ja«, das kaum einen Moment später erklang, war selbst durch das Holz hindurch noch melodisch und klar. Es brachte Gwyns Knie fast zum Einknicken, während er die bebenden Finger um den Türknauf schloss. Noch einen Moment zögerte er, körperlich so angespannt, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann riss er sich ein letztes Mal zusammen und schob vorsichtig die Tür auf. Leise knirschte das Holz, als es den Weg freigab, und nur sehr vorsichtig schob Gwyn sich durch die Tür. Er fühlte den gnadenlosen Blick der schwarzen Augen und konnte es nicht über sich bringen, den Blick zu erwidern. Als sei er ein Soldat oder ein Diener in einem Schloss stand er gerade und neigte den Kopf, auch wenn alles in ihm am liebsten niederknien wollte. Leider brachte er unter dem eisigen Blick kein Wort heraus. Das war allerdings auch gar nicht nötig, denn erneut durchschnitt klare Melodik den Raum und fuhr Gwyn direkt in den Magen. »Schickt Mico dich?«, fragte der Schatten mit grausiger Kälte in der klaren Stimme und an seinem Tonfall hörte Gwyn, dass er die Antwort längst kannte.
Vorsichtig schüttelte er den Kopf. »Nein«, wollte er sagen, aber es war kaum mehr als ein Flüstern. Kurz überlegte er, sogar eine förmliche Anrede hinterherzuschicken, aber er wusste, dass Machairi bei diesen Dingen sehr empfindlich reagieren konnte. Im Grunde konnte er dahingehend nur die falsche Entscheidung treffen.
»Dann geh«, befahl Machairi und wandte sich ab. Er trat auf das Fenster zu, wie er es so oft tat, anstatt sich mit dem Geschehen im Raum zu befassen. Vielleicht, weil er sich der Wirkung seines Blickes so sehr bewusst war und das lieber sparsam einsetzte, aber in diesem Fall war Gwyn sich sicher, dass er ihm einfach signalisierte, wie unerwünscht er war.
Für einen Moment verschlug es Gwyn erneut die Sprache. Er stand da und öffnete den Mund, ohne dass ein Wort herauskommen wollte. Der Drang, einfach zu gehen, war gewaltig. Überhaupt war stehen zu bleiben und sich einer direkten Aufforderung zu widersetzen genau das, was er gerade schwören wollte, nie wieder zu tun. Doch würde er keine andere Gelegenheit bekommen, bevor der Schatten in die Unterwelt verschwand, und dann war ohnehin alles so anders, dass der Feuerspucker nicht auf Normalität zu hoffen brauchte. Bevor er noch länger einfach nur schweigend hier stand, musste er also etwas unternehmen. »Nimm mich mit in die Unterwelt«, brachte er hervor, bevor er dazu kam, sich die Worte zurechtzulegen. »Bitte«, schickte er hastig hinterher und nur kurz zuckte sein Blick zu dem Mann am Fenster, bevor ihm der Anblick der schwarzen Kleider und des weißen Handschuhs erneut das Fürchten lehrte, besonders als ein Messer sich durch besagten Handschuh bewegte und Machairi sich zurückdrehte.
Gwyn senkte den Kopf noch etwas weiter unter dem Blick, der ihn traf. Er spürte die Wut und die aufkommende Dunkelheit im Raum und seine Knie zitterten nun so sehr, dass man es mit Sicherheit sehen konnte und dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Nichts als diese bodenlose kalte Wut schlug ihm entgegen und das war schlimmer, als erneut fortgeschickt zu werden.
Die Angst wand sich in seiner Brust und schnürte ihm den Atem ab. Umso erstaunter war er, dass er trotz allem weitersprechen konnte, auch wenn er in dieser Situation nicht in der Lage war, zu reflektieren, ob jene Worte eine gute Idee waren, oder ob sie nicht vielleicht genau das Gegenteil bewirken würden. »Bitte«, wiederholte er. »Ich werde tun, was immer du sagst. Egal was es ist. Ich werde nicht noch einmal versagen wie in Om’falo.« Noch immer keine Antwort. »Ich habe mich von meinem schlechten Gewissen überwältigen lassen«, fuhr er fort und für einen kurzen Augenblick knickten seine Knie ein und er fing sich nur äußerst unelegant ab. Machairi ließ sich nicht von Betteln beeindrucken, da war es nicht sinnvoll, es trotzdem zu tun. Das hatte schon beim ersten Mal nicht funktioniert. Das tatsächlich Beeindruckende war, dass Gwyn noch immer seine Stimme hatte, ja, dass die Worte geradezu hervorsprudelten, als hätten sich seit Om’falo zu viele angestaut, die er zuvor gar nicht bemerkt hatte. »Das wird nicht noch einmal passieren«, versprach er und musste plötzlich gegen ein Schluchzen kämpfen. »Bitte lass mich mitkommen und es beweisen.« Nun flehte er doch. Seine Stimme war so weinerlich, dass er sich kaum selbst ernst nehmen konnte. Die Verzweiflung der letzten Tage erschlug ihn förmlich und die Vorstellung zu gehen, hier zu scheitern und in sein dunkles Zimmer zurückzukehren, wo nichts als noch mehr Verzweiflung wartete, war absurderweise noch furchteinflößender als Machairi.
Der sah ihn etwas spöttisch an, aber es war nicht die übliche Form von Amüsement, die er früher häufiger gezeigt hatte, sondern Abfälligkeit. »Du verlässt nicht einmal das Zimmer, wenn ich es sage.« Das war ein gemeiner Einwand, weil es wahr war. Gwyn hatte es schließlich auch schon gedacht, aber was sollte er sonst tun?
»Nur weil es die einzige Chance ist, dich zu überzeugen«, murmelte er und sah nun auch noch schuldbewusst auf den Boden. Niemals glaubte er, dass Machairi ihn von sich aus zurücknehmen würde. Er musste schon einiges leisten, um seine Fehltritte auszuradieren, und irgendetwas musste er doch tun.
»Sehe ich überzeugt aus?« Es fühlte sich an, als blickten die schwarzen Augen ihm direkt in den Schädel und fast hätte Gwyn geglaubt, dass dieser Blick sogar schmerzhaft war. Außerdem sah er die blanke Messerklinge im weißen Stoff liegen, die sich ruhig auf ihn richtete. Nein, der Schatten sah nicht überzeugt aus. Natürlich nicht. Das hatte er vorher gewusst, aber es war sicherlich vielversprechender gewesen, es zumindest zu versuchen, als zu warten. Es führte allerdings auch dazu, dass ihm sein einziges Argument unter den Fingern zusammenfiel.
Du konntest dich immer auf mich verlassen, wollte er sagen, aber sogar er wusste, dass das eine Lüge war. Eigentlich war es eher umgekehrt gewesen. Egal wie groß die Krise, Machairi konnte sie bewältigen. Egal wie groß der Ärger, Machairi konnte ihn beseitigen. Und egal wie groß der Fehler, Machairi konnte ihn ausbügeln. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass der Messerdämon gute Absichten hatte oder das moralisch Richtige tat, aber man konnte sich darauf verlassen, dass er wusste, was er tat, und dass er niemanden von seinen Leuten freiwillig opferte. »Nein«, flüsterte Gwyn und nun hatte seine Stimme ihn wieder verlassen.
»Wenn du mir das nächste Mal ungefragt auf die Nerven gehst, landest du unwiederbringlich in der Unterwelt.« Dieses Mal war die Drohung so konkret und eisig, dass sie Gwyn beinahe den Magen umdrehte. Schockiert sah er auf in Machairis Gesicht und fand so bodenlose Kälte, dass alles in ihm erfror. Da half auch die schönste Stimme nicht, eher im Gegenteil. »Raus«, sagte Machairi in leicht gesenktem Tonfall und bevor er wusste, was er tat, floh Gwyn.
Er dachte nicht darüber nach, wo er hinrannte, aber selbst, wenn er es getan hätte, wäre die Wahl wohl nicht auf sein Zimmer gefallen. Die näherkommenden Wände konnte er jetzt nicht ertragen und so trugen seine Beine ihn aus dem Haus hinaus und durch das Dorf. Es war, als hätte sein Körper nur darauf gewartet, dass er endlich wegrannte. Es war seltsam befreiend zu laufen und er konnte nicht stehen bleiben. Eilig trugen seine bloßen Füße ihn durch den Urwald, immer weiter fort vom kleinen Dorf. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und Bäume streckten ihre düsteren Äste nach ihm aus. Allerlei Kreaturen flohen vor ihm oder fauchten ihn an und kaum etwas davon drang zu ihm durch. Wie von Sinnen rannte er durch den Wald, sah nur immer wieder die eiskalte Drohung auf den Zügen des Dämons und fühlte, wie ihn Furcht, Verzweiflung und Schuld verfolgten.
Gwyn würde sich nie daran erinnern, wie lange er gerannt war oder wann seine Beine einfach nachgaben. Er würde niemals verstehen können, welchen Weg er gerannt war und ob ihn eine innere Stimme hierhergezogen hatte oder ob es reiner Zufall war, dass er genau hier zusammenbrach. Alles, was er später wusste, war, dass er an einem Ort aufwachte, der nichts gleichkam, was er je gesehen hatte.

Fallen
Als die Prinzessin sich im Stande sah, wieder aus dem Holzhaus, in dem man sie untergebracht hatte, zu treten, war es bereits erschreckend spät. Das sanfte Sonnenlicht des Abends war wahrlich viel angenehmer als die stechende Hitze des Tages. Koryphelia hatte mit ihrer hellen Haut große Probleme gehabt. Es war ihr ein Rätsel, wie die anderen Cecilian es aushielten, sich durch diese Hitze zu schlagen. Es war schlimmer als in Hareth und hier kam auch noch hinzu, dass es sich um eine garstig verwilderte Umgebung handelte. Sie musste zugeben, dass es sehr hübsch anzusehen war, doch war der positive Anblick von schwirrenden Insekten, weglosem Wald und natürlich beißendem Sonnenlicht überlagert. Wenigstens einen Hut hätte man ihr doch beschaffen können, oder etwa nicht?
Ihre Gedanken an angemessene Kopfbedeckungen und über den primitiven Zustand des Dorfes waren durch die Aussicht, in die Unterwelt zu müssen, stark in den Hintergrund gerückt. Hätte ihr noch beim letzten Sonnenaufgang jemand gesagt, er wollte sie in die Unterwelt bringen, hätte sie vielleicht gelacht, vielleicht hätte sie die Flucht ergriffen und vielleicht hätte sie diese Person über Bord geworfen. Unter keinen Umständen hätte sie erwartet, dass sie ohne jede Widerrede zustimmen würde. Fast interessiert war sie nun an den infernalischen Tiefen aller Welten. Wie maliziös war jener Ort tatsächlich? Niemals hatte die Prinzessin mit jemandem gesprochen, der sich hinabgewagt hatte. Nicht die ältesten Werke der Bibliothek hatten eindeutige Belege aufzuweisen gehabt, nicht die arriviertesten Schriften vermochten Beweise für ihre Theorien über die Unterwelt zu liefern. Die Hoffnung, all die grausamen Dinge könnten allzu sehr pointiert sein, bestand immerhin. Koryphelia hatte in ihrer kurzen Zeit in Machairis Gegenwart bereits gelernt, dass Entscheidungen des Schattens unumstößlich feststanden. Freiwillig war sie hergekommen und wenn sie nun für diese Reise designiert war, würde sie sich dem stellen. Zudem fühlte sie sich verpflichtet, unter Beweis zu stellen, dass sie eminent nützlich sein konnte. Auch wenn ihr bisher nicht bis ins letzte Detail klar war, wie sie jenen Nutzen selbst erkennen sollte.
Unter anderem deshalb hatte sie die Aufforderung der insolenten Faust angenommen. Ein marginales Grundwissen in diversen Verteidigungstechniken hatte sie bereits über die Jahre akquiriert. Sogar ihr Privatlehrer hatte sich dazu hinreißen lassen, ihr nach langem, höchst unköniglichen Drängeln einige tradierte Kampfstile vorzustellen. Die Umsetzung jener alten Überlieferungen war allerdings sowohl beim Lehrer selbst als auch bei Koryphelia am Talent gescheitert. Ein anderes Mal hatte sie einen jungen Soldaten überzeugen können, ihr ein paar wichtige Kampfschritte zu zeigen. Leider hatte ein doppelzüngiger Diener ihrem Vater davon berichtet und dem Soldaten waren infolgedessen Respektlosigkeit und unhaltbares Verhalten vorgeworfen worden. Die Strafe war so grausam ausgefallen, dass jeder Kontakt mit der Prinzessin von da an unter Soldaten gefürchtet war. So war die Prinzessin nun geradezu erleichtert, dieses Angebot des anderen Mädchens erhalten zu haben, weil sie endlich die Gelegenheit bekam, zumindest ein kleines Maß an Selbstverteidigung in der Praxis zu erlernen. Bedauerlich war nur, dass die Zeit dafür so gering ausfiel.
Es galt also, keine Zeit mehr zu verlieren. Sicherlich würde es schwierig werden, wenn die Sonne erst vollends der Nacht Raum gegeben hatte. Das rothaarige Mädchen lehnte an einem mächtigen Baumstamm. Sie beobachtete eine Gruppe junger Zhaki-Männer dabei, wie sie unter Anleitung einer mittelalten Dame eine höchst skurrile Gerätschaft aufbauten. Der Nutzen der vielen Balken und Seile blieb der Prinzessin verborgen, aber da es sich vermutlich um eine profane Alltagsarbeit handelte, hielt sich die Neugierde des Monarchenkindes in Grenzen. Aufrecht und möglichst würdevoll trat sie auf das andere Mädchen zu. »Ich wäre dann bereit«, erklärte sie und lächelte verbindlich. Ein wenig grauste es ihr doch davor, die nächsten Stunden mit dieser impertinenten Person zu verbringen, aber der Aufenthalt an einem vermutlich garstigen Ort wollte ordentlich vorbereitet sein.
»Ich hoffe, du hast dir nicht allzu viel Mühe gegeben, als du dir die Nase gepudert hast«, spottete die Faust, während sie voranschritt, um den Weg zum Übungsfeld zu weisen. »Es wird mir gehörig Spaß machen, dich in den Dreck zu werfen.«
Das bezweifelte Koryphelia nicht. Ein Schatten wie die Faust empfand gewiss ein absonderliches Maß an Genugtuung, wenn sie die Möglichkeit bekam, ein Mitglied des Königshauses bloßzustellen. In diesem Zuge nahm die Prinzessin sich vor, es ihr nicht allzu leicht zu machen. Haltung zu bewahren war stets von allerhöchster Wichtigkeit. Trotzdem honorierte sie eine solch provokante Aussage nicht mit einer Antwort und folgte dem roten Wirbelwind über ein schmales Brett, das als Brücke über den Fluss fungierte. Eine wackelige Angelegenheit, fraglos. Dennoch schaffte es die Prinzessin, die mit einem guten Gleichgewicht gesegnet war, problemlos trocken auf die andere Seite. Die Sonne versank gerade jenseits des Dorfes und tauchte die Welt mehr und mehr in Zwielicht. Die sogenannte Trainingsfläche war allerdings weiter nichts als eine sehr zertrampelte erdige Wiese.
»Nun gut.« Die Faust nahm eine militärisch anmutende Haltung ein und musterte ihre Schülerin streng. Ein Blick, den auch Koryphelias Lehrer gemeistert hatten. »Grundsätzlich musst du immer davon ausgehen, dass niemand dir etwas Gutes will. Wenn ich so an das Reiseziel denke, kann man denk ich sogar mit Sicherheit sagen: Alles will dich töten!«
Das wagte Koryphelia in Frage zu stellen. Schließlich war man technisch gesehen im Normalfall bereits tot, wenn man in die Unterwelt gelangte. Außerdem empfand die Prinzessin es als reichlich kleingeistig, aus Prinzip nicht an ehrenhafte Absichten zu glauben. Möglicherweise war alles unter Generalverdacht zu stellen ein Nebeneffekt, wenn man unter dem Abschaum des Bienenstocks aufwuchs, auch wenn eine Prinzessin sich nicht selten mit linkischen Personen und pelzigen Zungen konfrontiert sah. Nichts davon sprach die Hochwohlgeborene aus.
»Wir als Frauen müssen uns unseren Respekt meistens härter erkämpfen als die Mistkerle.« Grimmig grinsend warf die Faust die roten Locken zurück. »Deshalb schlage ich immer zuerst.« Etwas herablassend musterten die grünen Augen dann die Prinzessin und sie runzelte die Stirn. »Allerdings wirst du wohl keine Zeit haben, dir dort unten einen Ruf aufzubauen, aber es ist trotzdem ein gut gemeinter Rat, wenn ich so an die Schnösel denke, die dir unter den Rock kriechen wollen.«
Bei allen Göttern, die Frivolität dieser Person war wirklich unglaublich. Mit jedem Wort hatte Koryphelia das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Sie stellte sogar die Theorie auf, dass dies das eigentliche Ziel der Faust war: Sie so sehr zu beleidigen, dass sie sich wehrte. Nun, da konnte der Schatten lange warten. Wenn man als Thredians Tochter eines lernte, war es, herabwertende Tiraden über die eigene Person zu ignorieren, und Koryphelia würde ganz sicher nicht dazu übergehen, bei jeder Kleinigkeit mit Gewalt zu reagieren.
Wieder musterte die Faust sie und seufzte schließlich. »Im Grunde geht es nur darum, die nächsten Schritte des Gegners vorauszusehen und selbst möglichst unberechenbar zu sein. Im Zweifelsfall musst du immer mehr austeilen als einstecken, im Idealfall wirst du gar nicht erst getroffen.« Sie stellte sich etwas breitbeiniger hin und federte auf und ab. Möglicherweise war die Hose, die das Mädchen trug, tendenziell besser geeignet als das Kleid, das Koryphelias zarte Figur einhüllte. Außerdem war sich die Prinzessin sicher, dass es Situationen gab, in denen beides unmöglich war. Wenn sie beispielsweise an den Dämon dachte, schien es wahrscheinlicher, dass sie überhaupt nicht dazu kommen würde, irgendetwas auszuteilen, aber gehörig einstecken würde. Selbstverständlich galt selbiges auch für die Faust selbst. Das rothaarige Mädchen konnte nicht behaupten, dass sie irgendeine Chance gegen den Dämon hatte. Nicht einmal Zedian, der die exzellente Ausbildung eines Prinzen erhalten hatte, hatte auch nur einen einzigen erfolgreichen Angriff gestartet.
Die nächsten Stunden waren vielleicht die anstrengendsten ihres Lebens. Alles an dieser Situation war befremdlich. Niemals ließ die Faust eine Gelegenheit verstreichen, um diverse Sticheleien auszuteilen und auch Korys Schwachstellen nutzte sie gnadenlos aus. War die Prinzessin zu Anfang noch steif und darauf bedacht, sich dieser Übung würdevoll zu stellen, merkte sie selbst, wie ihr eigenes Verhalten ihr immer fremder wurde. Je häufiger der Schatten sie zu Boden warf, desto ehrgeiziger wurde sie, und in diesem Zuge legte sie auch ihre gewohnten Verhaltensmuster ab. Bald schmerzten ihr der Rücken und die Beine von unzähligen Stürzen und ihre Hände waren wund. Die Anstrengung trieb das Blut in ihren Kopf und Schweiß verklebte ihre blonden Haare, die inzwischen wirr und zerzaust in alle Richtungen standen. Niemals hätte ihr Vater sie so sehen dürfen. Doch trotz allem, trotz der ermüdenden Erniedrigungen und der nervenaufreibenden Langwierigkeit, machte es Spaß, mit der Faust zu trainieren. Zum ersten Mal hatte die Prinzessin das Gefühl, dass ihr Titel ihr nicht im Wege zu einer ganz gewöhnlichen Beziehung zu einem anderen Menschen stand. Schließlich war die Faust zu jedem so und hinter ruppigen Gesten und genervten Kommentaren glaubte Koryphelia, eine aufrichtige und gutherzige Person zu erkennen. Es war erfrischend.