- -
- 100%
- +
Außerdem war die Faust überraschenderweise eine gute Lehrerin. Sie zeigte Koryphelia, wie sie bestimmten Schlägen am besten ausweichen konnte, verriet ihr Tricks, wie sie ihre mangelnde Stärke ausgleichen konnte, und brachte ihr bei, Angriffe abzuwehren. Viel zu oft machte die Prinzessin Fehler, ärgerte sich darüber und hatte das unfassbare Bedürfnis, in dieser Disziplin Talent zu beweisen. Generell fand sie selbst, dass sie sich für eine allererste Kampferfahrung gar nicht schlecht schlug. Natürlich war sie der Faust hinterher noch immer horrend unterlegen und würde vermutlich auch gegen die meisten anderen Gegner verlieren, was nennenswert an ihrem Selbstvertrauen kratzte. Dennoch musste sie sich auch dafür loben, dass sie es später zumindest schaffte, einigen Schlägen auszuweichen, sich gefährlichen Situationen vorerst zu entwinden und zumindest dazu zu kommen, den ein oder anderen Angriff zu setzen, auch wenn die stets ins Leere trafen. Im Endeffekt hatte Koryphelia das Gefühl, wirklich etwas gelernt zu haben, ob es nun ausreichend war oder nicht.
Erst als sie einander nicht mehr erkennen konnten, weil sich das dunkle Tuch der Nacht endgültig über die Trainingsfläche gedeckt hatte, hielt die Faust inne. Jenseits des Baches schien das Licht zahlreicher Leuchten vom Dorfe herüber und ließ das dunkle Wasser glitzern. »Gut, das reicht.« Die Silhouette der Faust streckte sich und strich sich den weißen Handschuh wieder über, den sie während der Übung abgelegt hatte. Immerhin war auch sie angestrengt. Ein kleines Gefühl von Triumph erfüllte die Prinzessin, während sie sich aufrichtete und den Dreck aus ihrem Kleid schlug, der sich notgedrungen darin verfangen hatte. Ein Bad wäre nun eine angenehme Abwechslung gewesen. Außerdem war Koryphelia so müde, dass sie sich sehnlichst ein Bett wünschte. Schließlich würde sie ihre Kraft am nächsten Tage wohl brauchen.
Ein wenig mutete die Stimmung an, als sei sie gerade aus einem höchst skurrilen Traum erwacht, und die Prinzessin schämte sich, so bereitwillig aus ihrer Rolle gefallen zu sein. Diese Menschen sollten kein Umgang für sie sein und ganz sicher sollte sie keine Sympathien für sie hegen. Es änderte nichts daran, dass es ihr gefallen hatte. Was ein unheimlich schlechtes Zeichen hätte sein sollen, fühlte sich nicht wie eines an. Möglichst schnell versuchte sie, in ihre Rolle zurückzufinden, was nur halbwegs gelang. »Nun, vielen Dank für den Unterricht.« Koryphelia straffte die Schultern. Dummerweise war es so dunkel, dass man keine Gesichtsausdrücke mehr ausmachen konnte.
»Du hast dich gar nicht so dumm angestellt, wie ich erwartet hatte.« Amüsiert schlug die Faust ihr gegen die Schulter, was vermutlich eine freundliche Geste darstellen sollte, allerdings einen dumpfen Schmerz durch ihren Oberarm jagte. Koryphelia war zufrieden mit sich, dass sie die Erwartungen übertroffen hatte. »Vielleicht wäre es trotzdem besser, wenn du vorerst doch nur im Notfall darauf zurückgreifst«, relativierte die Faust dann sogleich.
»Ich bin ohnehin eine Freundin der Diplomatie anstelle von Gewalt«, versicherte die Prinzessin, während sie über das Brett zurückbalancierten und auf das erleuchtete Dorf zuhielten. Nun in den Abendstunden saßen die Menschen um offene Feuerstellen herum oder tanzten sogar zu sehr rhythmischer Musik. Es war ein fröhliches Bild. Auch wenn alles hier primitiv wirkte, war es doch sehr harmonisch und geradezu makellos. Ein seltsamer Gedanke, besonders wenn sie die Situation vor sich mit Festlichkeiten und feierlichen Anlässen zuhause verglich, das so weit entfernt war und dem sie sich mehr und mehr entfremdete, obwohl sie doch noch gar nicht so lange fort war. Unsinnigerweise war das die größte Angst, die sie mit der Reise verband, die noch vor ihnen lag. Eines nicht allzu fernen Tages würde sie in ihr Leben als Prinzessin zurückkehren und wenn sie sich bis dahin so sehr verändert hatte, wie diese ersten Tage suggerierten, dann würde niemand sie wiedererkennen und es war nicht gesagt, dass sie ihren Weg zurück in ihre Rolle überhaupt selbst finden würde. Alles wehleidige Klagen würde da jedoch keinen Unterschied machen und niemand konnte sie davor bewahren, Machairi in die Unterwelt folgen zu müssen. Wozu verschwendete sie also ihre Zeit?
Ein offener Flur säumte das Haus, in dem man sie untergebracht hatte, wie eine Veranda und die einzelnen Räume glichen einem Gasthaus. Die Prinzessin fragte sich, ob vielleicht Pilger und Reisende hierherkamen, um den Frieden und die eindeutige Nähe der Götter zu genießen, die hier an jedem Blatt zu haften schien. Eine andere Erklärung hatte sie nicht für ein Gebäude, das eindeutig für Besucher eingerichtet worden war. Nun, da sie wieder im Fackelschein standen, betrachtete das junge Mädchen die Faust genauer. Liebend gern wollte sie fragen, wie sie dazu gekommen war, zu sein, wer sie heute war. Auch wenn man im Schloss nicht viel über den schwarzen Fürsten und seine Schatten herauszufinden vermochte, war ihr klar, dass man nicht einfach so diesen gefürchteten Titel erhielt. Was konnte ein Mädchen, das nicht viel älter war als Koryphelia selbst, dazu gebracht haben, dass sie bereits seit einiger Zeit unter diesen brutalen Menschen waltete? Es war nicht die einzige Frage, die ihr auf der Zunge brannte. Alle ihre Reisebegleiter waren auf ihre eigene Weise von Rätseln umwoben und auch wenn sie nicht alles voneinander zu wissen schienen, fühlte sie sich noch mehr wie ein Außenseiter, weil sie nichts von dem verstand, was sie verband. Schließlich war sie noch nicht dabei gewesen, als sich die Gruppe durch die gnadenlose Wüste von Hareth geschlagen hatte, um sie zu retten. Wie gerne hätte sie sich etwas effektiver angepasst, anstatt diese Menschen in ihren Annahmen zu unterstützen.
»Nun, ich denke, ich werde mich nun zurückziehen«, sagte sie stattdessen und schenkte der Faust ein verbindliches Lächeln. Etwas auffordernd musterte sie ihr Gegenüber, versuchte noch immer verzweifelt zurückzufinden zum richtigen Verhalten.
»Was schaust du so?«, fragte die andere skeptisch und ihr Tonfall wurde wieder bissiger. »Du erwartest jetzt nicht ernsthaft einen Knicks von mir, oder?« Etwas bedrohlich funkelte sie sie an und in ihren Augen spiegelte sich das flackernde Licht der Fackel, die am Haus hing.
Es sah so einschüchternd aus, dass Koryphelia große Probleme hatte, den Kopf gerade zu halten und die Schultern zu straffen. »Ein ›Gute Nacht, Prinzessin‹ würde schon reichen«, gab sie möglich selbstbewusst zurück und schmunzelte. Sie hatte bereits bei ihrer ersten Begegnung im Palast des Sultans von dem Gedanken Abstand genommen, jemals Respekt von einer der Bienen zu erwarten. So waren diese Leute nicht erzogen und sie tat gut daran, sich dessen zu erinnern.
Schnaubend schüttelte die Faust den Kopf. »Du hast Nerven! Ich hoffe, dass du morgen schrecklichen Muskelkater hast.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, musste allerdings selbst grinsen. »Marsch ins Bett, Prinzessin.« Mit einem letzten Augenrollen wandte sie sich ab und hielt auf eine der Feuerstellen zu. Offenbar war sie noch nicht gewillt, selbst ins Bett zu gehen, aber sie musste ja auch am nächsten Tag nicht in die Unterwelt.
Doch etwas beleidigt, aber auch ein Stück weit amüsiert, hielt Koryphelia auf ihre Tür zu und verschwand in ihrem Zimmer. Ein richtiges Bad hätte ihr besser gefallen, als sich nur in der Waschschüssel vom Dreck zu befreien. Die Vorstellung, jemanden nach einer Wanne fragen und dafür ihr schrecklich schlechtes Silou verwenden zu müssen, war allerdings so abstoßend, dass sie sich lieber mit den Gegebenheiten arrangierte. Als Prinzessin eines Reiches, in dem sowohl Cizethi als auch Silou gesprochen wurde, hatte sie natürlich auch Unterricht in der Sprache der Zhaki erhalten. Da allerdings selbst die meisten Zhaki mehr und mehr dazu übergingen, die Sprache ihres Heimatkontinents zu sprechen, und ihr Vater die Sprache der Gegner als wichtiger ansah, hatte der Fokus häufiger auf Hack gelegen. Infolgedessen sprach sie das nun so gut, dass sie sich auch über komplexe Themen einigermaßen eloquent unterhalten konnte. In Silou dagegen hatte sie nie die Grundlagen überschritten und war entsprechend nicht besonders erpicht darauf, es anwenden zu müssen. Wie hätte sie auch voraussehen sollen, dass sie jemals an einem Ort wie diesem sein würde, wo insgesamt weder Cizethi noch Hack gesprochen wurde?
Das Wasser in der Schüssel war kalt. Eine weitere Unannehmlichkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte. An Bord des Schiffes war sie schon allzu sehr verwahrlost, da es in diesen Kreisen scheinbar unüblich war, ordentliche Körperpflege zu betreiben. Nach langem Drängen hatte der Kapitän sich jedoch dazu durchgerungen, ihr jeden Tag einen Eimer mit Frischwasser zukommen zu lassen, was von der Besatzung mit einem großen Stirnrunzeln quittiert worden war. Dabei war sie sich fast sicher, dass der Schatten etwas Ähnliches in Anspruch genommen hatte, ob seines tadellosen Aussehens. Machairi war ohnehin eine höchst rätselhafte Person. Stets schien er sehr genau zu wissen, was er tat, doch das führte auch dazu, dass er niemandem sonst Fehltritte durchgehen ließ. Alles hatte so zu laufen, wie er es geplant hatte. Niemals hätte sie ihm das sagen dürfen, aber es erinnerte sie stark an ihren Vater. Starrsinn war eine Eigenheit, die viele Mitglieder der Königsfamilie, teils auch Koryphelia selbst, an den Tag legten. Dabei waren Flexibilität und Nachsicht wichtige Tugenden. Zudem wirkte es, als habe gerade Machairi die nötigen Ressourcen und Talente, um Fehltritte ohne großes Risiko auszugleichen. Warum also war er so kleinlich mit denen, die ihm folgten?
Unendliche Gedankenströme hielten die Prinzessin wach, als sie sich endlich in ihr Bett gekuschelt hatte. Auch wenn sie vom Training und der Reise müde war, konnte sie in Anbetracht des kommenden Tages nicht zur Ruhe kommen. Ständig sann sie wieder über die Unterwelt nach, jenen furchtbaren Ort, an dem ihre Götter ihr nicht zu helfen vermochten. Sie dachte an die Angst, die sie verspürte, und an den Messerdämon, über den sie eigentlich zu wenig wusste, um ihm an einen solchen Ort zu folgen. Auch über das Harethimädchen dachte sie nach, das noch mit ihnen kommen würde. Ihre eigenen Veränderungen trieben sie um und als sie es im Bett nicht länger aushielt, weil sie sich nicht nur schlecht vorbereitet, sondern auch uninformiert fühlte, stieg sie aus dem Bett, trat ans Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Friedliches Zirpen klang aus dem nahen Wald und noch immer drangen leise Stimmen und Musik durch die Nacht bis an ihr Ohr. Ob Rish ebenso wach lag wie sie? Das andere Mädchen wirkte stets überfordert, vielleicht gar ängstlich und keiner der anderen schien eine besonders hohe Meinung von ihr zu haben. Trotzdem hatte sie etwas bei oder an sich, was sie für diese Reise qualifizierte. Gegen wie viele Wesen der Unterwelt konnte Machairi kämpfen? Man brauchte keine allzu hohen Kompetenzen im logischen Denken, um zu wissen, dass ihre Reise in beunruhigend vielen Fällen zum Tod führen konnte.
Von neuer Angst ergriffen ließ sich die Prinzessin von Cecilia auf die Knie sinken und begann zu beten. Wenn die Götter sie hörten, dann wohl an einem Ort wie diesem. Sie betete zu Zylon, dass er seinen Schutz über sie legen und sie mit den Kräften seiner Welt lenken möge. Sie betete zu Amila, dass ihr Verstand dort unten nicht vernebeln und zu Jico, dass ihr Körper der Belastung standhalten möge. Sie betete zu Mella, dass ihr Herz nicht verzagen und zu Bico, dass die Dunkelheit ihre Seele nicht korrumpieren möge. Koryphelia betete. Sie betete und betete, bis ihr die Augenlider schwer wurden und sie die Angst nicht mehr so sehr spürte. Die Götter waren nah an diesem Ort und irgendwann senkten sie sie sanft in ruhigen Schlaf.
Es war nicht die Sonne, die das Mädchen mit dem ersten Licht des Tages wachkitzelte. Ein lautes Hämmern an der Tür ließ Koryphelia hochfahren. In einer äußerst unbequemen Position lag sie auf dem Boden und hatte für einen Moment das Gefühl, jeder Muskel in ihrem Körper sei verspannt. Stöhnend setzte sie sich auf und fuhr sich durch den Nacken.
Erneut hämmerte jemand gegen die Tür. »Prinzessin?« Die Stimme des Magiers trug durch das unebene Holz der Tür. »Seid Ihr wach?« Immerhin einer, der ihren Titel anerkannte. Leider übertrieb er es zeitweise, sodass sie sich veralbert vorkam. Seufzend stand sie auf und streckte sich.
»Ja!«, sagte sie laut und versuchte das Gewand zu ordnen, in dem sie geschlafen hatte. »Ich bin allerdings noch nicht fertig.« Es fehlte noch, dass er auf die Idee kam, hereinzukommen und sie in diesem Zustand zu sehen. Waren die Kleider, die man ihr gegeben hatte, auch leicht schmutzig vom Kampftraining und nicht besonders fein, waren sie doch besser als das Unterkleid, das sie in diesem Moment trug. Leider würde das orange Ding ihr in der Unterwelt im Wege stehen, aber eine Alternative hatte sie wohl nicht. Einzig das blaue Kleid, mit dem sie aus dem Palast geflüchtet war, befand sich noch in ihrem Besitz. Das eignete sich wohl noch weniger. Man musste sich zu behelfen wissen.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, erklang die Stimme erneut. »Darf ich eintreten? Ich habe neue Kleider für Euch!«
Mit einem leisen Seufzen griff Koryphelia nach der Decke, die noch auf dem Bett lag und wickelte sich hinein wie in einen Morgenmantel. »Na gut«, antwortete sie und straffte sich, als die Tür sich öffnete. Der Cecilian wurde schrecklich entstellt von einer Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. So frisch wie sie noch war, konnte er immerhin hoffen, dass sie verblassen würde, wenn mehr Zeit verging, doch sie würde stets auf den ersten Blick auffallen. Er trat ein und verneigte sich angemessen. Über einem Arm trug er einige Bahnen Stoff, von denen ein Ärmel hinabhing. Jemand hatte die Gewänder schwarz gefärbt und Koryphelia spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Händler trugen schwarz, Adlige und reiche Männer und jeder, der mit Toten arbeitete. Eine Dame trug Farben und aufwändige Schnitte – je extravaganter desto besser und das nicht nur in Hareth. Das letzte Mal, das Koryphelia schwarz getragen hatte, war zur Beisetzung und Trauerzeit ihrer Mutter gewesen. Der Tod der Königin hatte das Leben der Prinzessin stark verändert und sie dachte noch oft mit Sehnsucht an die liebevolle Frau zurück, die ihre Mutter gewesen war. Ob sie vielleicht dort war? Welch absonderlicher Gedanke. Selbstverständlich war eine rechtschaffene Frau wie Königin Laurena an Zylons Tafel aufgenommen worden. Sie hatte ein Leben voller Ehrfurcht vor den Göttern gelebt und all ihre Pflichten erfüllt. Wie konnte ihre Tochter das anzweifeln?
»Bitte beeilt Euch, Hoheit.« Der Magier riss sie aus ihren Gedanken und legte die Kleider auf das Bett. »Wir erwarten Euch draußen.« Kurz blieb er noch stehen, wie ein Diener, der weitere Befehle erwartete, und Koryphelia schloss erneut, dass man ihn in einem reichen Haushalt zum Diener erzogen hatte oder er anders mit der Oberschicht in Berührung gekommen war. Ein solches Verhalten gehörte bedauerlicherweise nicht zum Grundwissen eines Bürgers.
»Danke«, sagte sie und der Cecilian verschwand mit einer weiteren Verneigung. Es hatte den willkommenen Nebeneffekt, dass sie sich wieder etwas mehr fühlte wie sie selbst. Vielleicht fehlte ihr der Respekt sogar, auch wenn es furchtbar nervenaufreibend sein konnte, niemandem in die Augen blicken zu können. Das Gefühl schwand, als sie sich in die Kleider zwängte. Sie sonderten einen ausgesprochen abstoßenden Geruch nach Färbemitteln ab und fühlten sich hart und schwer auf der Haut an. Außerdem war es kein Kleid, sondern nur eine Tunika, und entriss sie damit erneut der behaglichen Gewohnheit. Eine Hose mochte praktisch sein, war aber keineswegs damenhaft. Wenigstens war das Oberteil lang genug, um ihr fast bis zu den Knien zu reichen. Es war überraschend, dass die Zhaki solche Kleidung bereitliegen hatten, schließlich mussten sie diese gestellt haben. Sie bezweifelte, dass Machairi einen Satz Ersatzkleider für alle Beteiligten in seinen Manteltaschen hatte. Doch lange Ärmel und Schwarz schienen etwa das Gegenteil dessen zu sein, was in diesem Klima angebracht war.
Eine unwillkommene Nervosität überkam die Prinzessin und paarte sich mit einer tiefen ruhelosen Anspannung, als sie aus dem Holzhaus trat und sah, dass sie bereits erwartet wurde. Die Harethi war in ähnliche Kleider gehüllt wie die Prinzessin selbst, auch wenn sie noch eine Tasche bei sich trug. Der Magier und die Faust standen wartend bei ihnen und der Messerdämon sprach in der Nähe mit Reolet, die heute weit weniger lächelte. Schweigen hüllte den Rest der Gruppe ein und die dunkle Haut der Harethi wirkte gräulich, weil sie so blass war. Koryphelia selbst gab sich Mühe, ihre Gedanken nun so weit wie möglich von ihrem Reiseziel fernzuhalten. So hatte sie es schon immer gemacht, wenn das Lampenfieber ihr sonst den Verstand geraubt hätte. Natürlich war dies kein Ball und die Palette an Fehlern, die sie machen konnte, viel größer, doch das Gefühl war sich dennoch ähnlich, auch wenn es albern wirkte.
Als Machairi wieder zu ihnen trat, waren selbst die beiden, die sie nicht begleiten würden, blasser als gewöhnlich, und eine unheimliche Ernsthaftigkeit lag ihnen auf den Zügen. Noch einmal musterte der Messerdämon die beiden Mädchen genau. Ob er nach etwas Bestimmtem suchte? Es war schwer zu sagen, ob er es gefunden hatte, als er sich nach einem nervenaufreibenden Augenblick abwandte. »Wenn wir in drei Tagen nicht zurück sind, macht ihr euch auf den Weg zurück nach Kefa«, sagte er zu den beiden Cecilian, die das Glück hatten, nicht mit ihnen kommen zu müssen.
»Humbug, wenn ihr nach drei Tagen nicht zurück seid, kommen wir euch holen!« Entschieden funkelte die Faust ihn an. »Du glaubst doch nicht, dass ich ohne dich nach Kefa zurückkehre und dem Fürsten erkläre, dass du in der Unterwelt verloren gegangen bist, oder?« Trotzig wie ein Kind schob sie das Kinn vor.
»Ich gehe nicht verloren«, antwortete der Schatten scharf. Es war interessant, dass die Faust erneut so besorgt um Machairis Gesundheit schien, auch wenn der das nicht zu schätzen wusste.
»Das sagst du jetzt«, fauchte die Faust und man konnte ein Flackern von Angst darin hören.
»Gina.« Die klare Stimme wurde noch eisiger und Koryphelia verfolgte die Situation etwas pikiert. »Du gehst nicht in die Unterwelt.« Der Befehl hatte so viel Nachdruck, dass mehr dahinterstecken musste als reines Prinzip. Vielleicht hatte er noch eine Aufgabe in Kefa für sie, wer wusste schon, wie weit ein Verbrecher wie er plante.
»Wehe, du kommst nicht zurück«, knurrte sie und die Prinzessin wunderte sich, ob das wirklich eine Zustimmung gewesen sein konnte. Was sie allerdings viel mehr beschäftigte, war die Aussage, dass sie drei Tage brauchen konnten, um zurückzukehren. Ohne echten Grund hatte sie geglaubt, dass sie vielleicht einen Tag fort sein mochten. Wie groß konnten die Hallen von Ebos‘ Reich schon sein, auch wenn zahlreiche gequälte Seelen dort unten vegetierten?
Es gab keinen echten Abschied, keine großen Worte, keine Umarmungen. Von dem Magier kam ein knappes »Viel Glück« und die Faust nickte ihnen mit bitterem Gesichtsausdruck zu. Dann begann ihre Reise und die Prinzessin hätte, ebenso wie die Harethi, alles darum gegeben hierbleiben zu können.
Die Vulkaninsel war ein wundervoller Ort oder vielmehr eine Ansammlung wundervoller Orte. Die Natur wusste eine solche Vielfalt aufzuweisen, das Koryphelia sie niemals hätte erträumen können. Schon die Farben waren atemberaubend. Abertausende von Blüten und einzigartigen Pflanzen berührten ihren Weg zwischen saftigen Bäumen und exotischen Tieren. Ein süßer Duft lag in der Luft und bizarre Wesen tummelten sich hier. Die meisten von ihnen waren kaum mehr als ein Schatten oder ein Rascheln im Gebüsch, doch manche schienen in keiner Weise menschenscheu. Ein kleiner schwarzgelber Affe schwang sich durch die Bäume über ihnen und ein pelziges Flughörnchen streifte Koryphelias Schulter, bevor es zu einem neuen Baum sprang. Kunterbunte Vögel glitten durch die Luft oder saßen zwischen den Sträuchern und alles brummte vor Leben. Immer weiter hielten sie auf den Vulkan zu und die Erde unter ihnen wurde steiniger. Faszinierend roter Fels lag unter der ergrauten Haut und glasklare Wasserläufe suchten sich ihren Weg durch Ritzen und Fugen. Bald stiegen auch Wolken warmen Wasserdampfes aus Löchern im Gestein auf und dampfende Wasserbecken waren in der Ferne zu erkennen. Hier und da erstreckten sich noch immer saftige Grünstriche und in der Ferne konnte man das Meer glitzern sehen. Nichts an dieser Schönheit ließ vermuten, welchem Ziel sie sich näherten, und Koryphelia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wo der ominöse Eingang liegen mochte.
Sie sprachen nicht. Machairi wählte seine Worte ohnehin sparsam, die beiden Mädchen waren zu eingenommen von der Schönheit um sie herum und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätten sie wohl nicht gewusst, worüber sie reden sollten. Koryphelia konnte die Harethi dabei beobachten, wie sie ab und an den Blick von der atemberaubenden Natur um sie herum losriss, um nachdenklich den Schatten zu mustern, der ihnen unermüdlich voranschritt. Ob er wohl wirklich kein Interesse an dem Paradies hier hatte? Anspannung ging von ihm aus, ergriff auch das Herz der Prinzessin, und je weiter sie gingen, desto weniger konnte sie die Schönheit genießen. Ihr Ziel drängte sich mit belastender Vehemenz wieder in ihren Kopf und schließlich erdrückte das Schweigen sie zu sehr. »Welch bittere Ironie, dass ein Tor zur Unterwelt inmitten solcher Schönheit liegt.«
Machairi ignorierte sie, aber Rish löste den Blick vom Krater des Vulkans über ihnen und wandte sich stattdessen der Prinzessin zu. »Stimmt. Auch wenn ich das gar nicht so überraschend finde… ganz im Sinne des Gleichgewichts.«
Schmunzelnd nickte Koryphelia. »Ein Hort der Dunkelheit, weit ab jeder Zivilisation und umgeben von schier unwirklicher Schönheit.« Noch einmal sah sie sich um und beobachtete einen kleinen Vogel, der eine Nuss gegen den roten Stein schlug. Jeden Moment erwartete sie, alles um sie herum könnte zerfallen. Es wirkte nicht unwahrscheinlich, dass es sich um nichts als ein Trugbild handelte, das mit einem Wimpernschlag vergehen könnte.
»Was meinst du, wie es aussehen wird?«, fragte die Harethi dann und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Inzwischen hatten sie einen echten Aufstieg angetreten und das Gehen wurde anstrengender.
Gerade für eine Prinzessin mit Muskelkater, der sich nun mehr und mehr bemerkbar machte, war langes Gehen äußerst gewöhnungsbedürftig und neu. So wurde der Anstieg zum Problem und ihre Atmung beschleunigte sich, während sie sich bemühte, über die Frage nachzudenken. Daran gedacht hatte auch sie schon, aber eine wirkliche Vorstellung hatte sie nicht. Zunächst hatte sie sich einen schwarzen Strudel vorgestellt, hinter dem sich endlose Schwärze erstreckte, dann eine düstere Höhle im Boden, aus dem Ungeziefer gekrochen kam. Beides erschien ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich und brachte sie daher nicht weiter. »Düster«, antwortete sie deshalb, um sich einer würdelosen Spekulation zu entziehen.
Das andere Mädchen nickte und entfernte sich ein paar Schritte, um einem Felsen auszuweichen, der mitten in ihrem Weg stand. »Wie weit ist es noch?«, fragte sie dann an den Schatten gerichtet, der bisher vorgeben hatte, sie nicht zu hören. Mit unwahrscheinlicher Leichtigkeit schritt er über den steil ansteigenden Untergrund und fand stets sicheren Halt, während die beiden Mädchen mehr und mehr stolperten und ins Straucheln gerieten.
Eine Antwort erhielten sie nicht. So deckte sich wieder Schweigen über ihre kleine Reisegemeinschaft, während Koryphelia versuchte, sich einigermaßen elegant den Vulkan hinaufzubegeben, und die Harethi damit fortfuhr, zwischen Stolpern und Stürzen den Schatten zu mustern. Worüber mochte sie nachdenken? Was sah sie in ihm?
Schließlich endete der Aufstieg abrupt. Gerade als die Prinzessin befürchtet hatte, würdelos keuchend nach einer Pause bitten zu müssen, verschwand der Schatten einfach hinter einem Felsen. Niemand hätte die Höhle sehen können, bevor sie direkt davorstanden. Vollkommen unauffällig durchbrach sie die zerklüfteten Hänge des Vulkans. Obwohl sie Ausschau gehalten hatte, wäre sie einfach daran vorbeigelaufen, obschon das gähnende Loch doch recht breit war. Man hätte bequem eine Kutsche hineinfahren können. Machairi war zielstrebig hineingetreten und bereits um eine Ecke verschwunden und die beiden Mädchen tauschten einen Blick, bevor sie ihm zögerlich folgten. Koryphelia warf einen sehnsüchtigen Blick zurück, sah die Schönheit der Insel, die sich nun weit unter ihnen erstreckte und einen atemberaubenden Anblick bot, und fragte sich, ob sie jemals wieder Tageslicht erblicken würde. Vielleicht würden sie auf ewig gefangen sein in den dunklen Hallen der Unterwelt.