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Heinrich Bedford-Strohm
Position beziehen
Perspektiven
einer Öffentlichen Theologie
Herausgegeben von
Michael Mädler
und Andrea Wagner-Pinggéra
Claudius
Bibliografische Informationen Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
4. Auflage 2013
© Claudius Verlag München 2012
Birkerstraße 22, 80636 München
www.claudius.de
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Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl
Foto Umschlag: © ELKB/vonweger.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978 - 3-532 - 60002-3
Wolfgang Huber
in Dankbarkeit und herzlicher Freundschaft
zum 70. Geburtstag gewidmet
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
Salz der Erde – Licht der Welt?
Kirche in der modernen Gesellschaft
Braucht die Zivilgesellschaft die Kirche?
Über die Bedeutung religiöser Orientierung
Klar und verständlich
Vier Dimensionen öffentlicher Rede der Kirche
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk ...“
Welche Grundwerte unser Gemeinwesen braucht
Miteinander, nicht nebeneinander
Warum der interreligiöse Dialog wichtig ist
Kompass für die Gesellschaft
Eine wichtige Aufgabe der Kirchen
Technik, Theologie, Naturwissenschaften
Leitplanken für einen Dialog
Engagement für die Demokratie
Öffentliche Theologie und die Rolle der Kirchen im zusammenwachsenden Europa
Anhang
Anlässe und Orte
Vorwort
Öffentliche Theologie spielt sich zwischen Kanzel, Katheder und Kanzleramt ab. Dass in den Schaltzentralen der Politik das gehört wird, was in Theologie und Kirche im Hinblick auf die großen Orientierungsfragen unserer Zeit gedacht und verkündigt wird, ist jedenfalls zu hoffen. Und immer wieder habe ich auch schon in den ersten Monaten meines Bischofsamtes die Erfahrung machen dürfen, dass es gehört wird.
Weder die Anbiederung an die Macht ist dafür die richtige Grundlage noch die pauschale Verdächtigung der Macht. Im Grunde ist es ganz einfach: Wo die politisch Verantwortlichen sich an ethischen Maßstäben orientieren, wo sie in ihren politischen Entscheidungen soziale Gerechtigkeit, die Bewahrung der Natur, den Schutz des Lebens und die Überwindung der Gewalt fördern, verdienen sie Unterstützung. Wo sie dem entgegenarbeiten, muss zur rechten Zeit und am rechten Ort ein klares Wort der Kritik gesprochen werden.
Eines ist jedenfalls klar: Die Kirchen sind es einer Öffentlichkeit, die nach Orientierung sucht, schuldig, das alte und unvermindert kraftvolle Orientierungswissen der biblisch gegründeten christlichen Tradition, das sie durch die Jahrhunderte hindurch bis heute durchgetragen haben, in die aktuellen Debatten einzubringen.
Die hier vorliegenden Texte haben dazu einen Beitrag zu leisten versucht. Sie sind überwiegend in den vergangenen ersten Monaten meiner Zeit als bayerischen Landesbischof entstanden. Einige der Texte stammen noch aus der Zeit als Theologieprofessor an der Universität Bamberg, sind aber immer wieder in meine jetzige Arbeit als Landesbischof eingeflossen.
Die Idee, einige meiner Reden oder Aufsätze zu Fragen Öffentlicher Theologie zu einem Büchlein zusammenzufassen, stammt von meinen Mitarbeitern im Bischofsbüro und im Öffentlichkeitsreferat unserer Kirche. Andrea Wagner Pinggéra und Michael Mädler haben sie ausgeführt und neben der Auswahl der Texte auch die richtigen Kürzungen vorgenommen, sodass am Ende hoffentlich eine Zusammenstellung herausgekommen ist, die auch für Menschen mit wenig Zeit noch lesbar ist. Den beiden danke ich von Herzen und nehme darin mit hinein den Dank für die Atmosphäre herzlicher Zugewandtheit in unserem gesamten Team, die mich beflügelt und die mich meine Arbeit mit Freude tun lässt.
Ich widme dieses Buch einem Menschen, von dem ich viel gelernt habe, mit dem mich aber vor allem eine herzliche Freundschaft verbindet. Wolfgang Huber wird am 12. August 70 Jahre alt. Seit den Tagen, in denen ich bei ihm in Heidelberg studiert habe und dann sein Assistent am Lehrstuhl war, bin ich immer älter und ist er immer jünger geworden. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist schnell zu einem partnerschaftlichen Miteinander und dann zu einer Freundschaft geworden, die auch unsere beiden Familien einschließt. Auf seinem jetzt schon 70 Jahre währenden Leben liegt Segen und aus seinem Leben ist viel Segen für andere erwachsen. Neben herzlicher Freundschaft ist es deswegen große Dankbarkeit, die mich bewegt, wenn ich dieses Buch ihm widme.
In der Hoffnung, dass es in seinem Sinne ist, will ich mit diesen Texten in der Perspektive Öffentlicher Theologie Position beziehen.
München, 15. Juni 2012
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Landesbischof
Salz der Erde – Licht der Welt?
Kirche in der modernen Gesellschaft
„Salz der Erde – Licht der Welt“ – wer diese kraftvollen biblischen Metaphern in den Mund nimmt, um über die Kirche zu sprechen, der geht gegenwärtig durch ein Wechselbad der Gefühle. Das Orientierungswissen der Kirchen – so kann einerseits festgestellt werden – ist selten mehr gefragt gewesen als in den letzten Jahren, da die Vorgänge an den internationalen Finanzmärkten und die globale Wirtschaftskrise, die sich daraus entwickelt hat, vieles grundsätzlich infrage gestellt haben, was noch kurz zuvor allgemeine Geltung besaß.
Aber es gibt auch die andere Seite. Die Diskussion um die im Jahr 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in den Kirchen hat gezeigt, wie sensibel die Öffentlichkeit gerade auf diejenigen Fälle reagiert, die sich im Kontext einer Institution abspielen, für deren Selbstverständnis die Metapher vom Salz der Erde und vom Licht der Welt eine zentrale Rolle spielt. Dass sich in unserer Mitte, hinter den Fassaden der Häuser angesehener Bürger, Dinge abspielen, die die seelische Zerstörung von Kindern zur Folge haben, ist schwer genug begreiflich. Dass sich diese Dinge aber auch im Kontext einer Institution abspielen, die in der Gesellschaft immer noch als öffentliche Stimme für Moral und Menschlichkeit wahrgenommen werden möchte, ist nur schwer erträglich.
Ehrliches Innehalten
Deswegen ist es so wichtig, dass wir an vielen Orten in der Kirche ein ehrliches Innehalten erlebt haben. Wir haben Kirchenleute erlebt, die aufrichtiges Erschrecken zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben eine Bereitschaft zur Aufklärung erlebt, die der Wahrheit den Vorrang vor der Wahrung des Images gab. Wir haben ein authentisches Mitfühlen mit den Opfern erlebt und die Bereitschaft zu helfen, wo noch irgendeine Hilfe möglich ist.
Diese Stimmen, aber vor allem gesellschaftstheoretische und theologische Überlegungen geben mir den Mut, heute tatsächlich von einer Kirche zu reden, die aus dem Bild Salz der Erde und vom Licht der Welt lebt, von einer öffentlichen „Kirche der Freiheit“, die weder erwählungsgewisse Selbstbestätigung pflegt noch sich an zeitgeistorientierte Unternehmensberatungsjargons anbiedert, sondern aus der Kraft Gottes die Welt wirklich liebt und in ihr den Weg Jesu bezeugt und seine heilende Kraft ausstrahlt.
Um deutlich zu machen, was ich damit meine, will ich im Folgenden zunächst einige empirische Daten zur Situation von Religion und Kirche vorstellen, danach einige Punkte markieren, an denen sich die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen, mit denen es die Kirche heute zu tun hat, und schließlich fünf Tropfen geistlichen Lebenselixiers anbieten, die der Gesellschaft nach meiner festen Überzeugung heute neue Lebenskraft geben können.
Religiöse Scham
Wenn wir im Lichte empirischer Daten nach der Situation der Kirche heute fragen, dann ist die Antwort keineswegs so eindeutig, wie das die scheinbare Objektivität empirischer Forschung nahezulegen scheint. Einstellungen über Religion zu erfragen ist schwieriger, als man denkt. Wie die Frage, ob jemand betet, beantwortet wird, hängt immer auch davon ab, was als Gebet bezeichnet wird, und das ist schon unter Theologen eine durchaus umstrittene Frage.
Auch im Hinblick auf die Selbstauskunft der Befragten bewegt man sich nicht auf sicherem Boden. Konrad Fischer hat einmal vor Jahren in einem immer noch hochrelevanten Aufsatz über die „religiöse Scham“ darauf hingewiesen, dass etwa Paare eher in der Lage sind, über ihre Sexualität zu reden als über ihre intimsten religiösen Gefühle.
Zudem begegnen wir häufig dem Phänomen, dass Leute über Einstellungen zu Religion und Kirche im deutschen Kontext sprechen, ohne überhaupt zu merken, wie begrenzt das Flashlight ist, das damit auf die Situation weltweit geworfen wird. So können im Kopf Verfallsvorstellungen im Hinblick auf Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen entstehen, die angesichts des dynamischen Wachstums der Kirchen etwa in China oder auch in Afrika nur wenig mit der Realität zu tun haben. Aber reden wir im Bewusstsein dieser Begrenzung über den deutschen Kontext.
Wir können – all dieser Schwierigkeiten eingedenk – einiges über die Entwicklung von Religion und Kirchenbindung sagen. Neben den regelmäßigen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD hat in jüngster Zeit insbesondere der groß angelegte Bertelsmann-Religionsmonitor Daten dazu geliefert, auf die ich im Folgenden Bezug nehme.
Erstaunlich stabil
Zunächst ist angesichts mancher Alarmmeldung darauf hinzuweisen, dass angesichts der massiven gesellschaftlichen Veränderungen sowohl die öffentliche Stellung der Kirchen als auch ihre Mitgliedschaftszahlen erstaunlich stabil sind. Das gilt sowohl für Westdeutschland als auch – nur auf aus den bekannten historischen Gründen deutlich niedrigerem Niveau – für Ostdeutschland. Auch wenn der Prozentsatz der Nicht-Religiösen nach den Zahlen des Religionsmonitors in Ostdeutschland mit 65,8 Prozent doppelt so hoch ist wie die Zahl der Religiösen (34,2 Prozent), ist auch dort bei einem Teil der Bevölkerung durchaus mit einer intellektuellen Offenheit für religiöse Themen und mit einem (kleinen) Stamm von Mitgliedern zu rechnen, „deren Religiosität bemerkenswert stabil ist“.
Für Westdeutschland, wo sich nach Angaben des Religionsmonitors 78 Prozent der Befragten der christlichen Religionsgemeinschaft zuordnen, fällt die Diagnose trotz rückläufigen Gottesdienstbesuchs und Mitgliederrückgang durchaus nicht so negativ aus, wie das zu erwarten wäre. Die Kirchen in Westdeutschland – so der Religionssoziologe Karl Gabriel auf der Basis der Daten des Religionsmonitors – haben, verglichen mit Ostdeutschland, „im gesellschaftlichen Umbruch der letzten 50 Jahre eine erstaunliche Stabilität bewiesen.
Eine große Mehrheit der Bevölkerung hat an der Mitgliedschaft festgehalten, die Kirchen verantworten Sonntag für Sonntag, besonders aber bei Großereignissen wie Kirchentagen und Papstbesuchen, die öffentlichen Veranstaltungen mit den höchsten Teilnehmerzahlen in der Republik; erkennbaren Einfluss haben sie nach wie vor auf Gesellschaft und Politik, besonders im Bereich sozialer Dienste, Schule, entwicklungspolitischer Verantwortung und Grenzfragen medizinischer Ethik.“ Und Gabriel schließt seine Auswertung mit einer Prognose: „Am wahrscheinlichsten ist die Entwicklung hin zu einem unverkrampfteren Umgang mit einer sich verändernden, in ihrer Existenz aber unangefochtenen religiösen Kultur in einer säkularen Gesellschaft, für die die christlichen Kirchen wichtige, aber keineswegs die einzigen Repräsentanten sind.“
Lässt sich empirisch in irgendeiner Weise erkennen, was theologisch im Hinblick auf die Rolle der Kirche in der Zivilgesellschaft mit Recht postuliert wird, dass die Kirche nämlich tatsächlich einen erkennbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen kann? Der Soziologe Richard Traunmüller hat im Hinblick auf diese Frage jüngst erstmals den größten in Deutschland existierenden Bestand empirischer Daten, den sogenannten „Sozio-ökonomischen Panel“, in seinem Buch „Religion als Ressource sozialen Zusammenhalts?“ ausgewertet und ist dabei zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen.
Stärker zivilgesellschaftlich engagiert
Er kann tatsächlich nachweisen, dass sowohl subjektive Religiosität als auch öffentliche religiöse Praxis einen positiven Einfluss auf strukturelle Aspekte der Sozialintegration in Deutschland ausüben. Er stellt dabei zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen fest.
Während etwa regelmäßiger Gottesdienstbesuch für alle Religionen mit einem größeren Freundschaftsnetzwerk einhergeht und zu häufigerem Treffen mit Freunden und Nachbarn führt, wird die Einbindung in formelle Netzwerke zivilgesellschaftlichen Engagements vornehmlich in christlichen Konfessionen und hier insbesondere im Protestantismus gefördert.
Religiöse Protestanten – so Traunmüller – sind „in stärkerem Maße zivilgesellschaftlich eingebunden als religiöse Katholiken.“ Evangelische Gemeinden – so fährt er fort – „stellen einen fruchtbareren Nährboden für soziales Engagement und Beteiligung dar als katholische. Dies steht in Einklang mit einem zentralen Argument der Sozialkapitaltheorie, wonach die horizontalere Organisation protestantischer Gemeinden mehr Raum für Engagement zulassen sollte als die hierarchische Organisationsstruktur der katholischen Kirche.“
Auch wenn sich Protestanten über diese Beobachtung des von konfessionellen Standortdebatten völlig unbelasteten Soziologen durchaus freuen dürfen, ist das Interessante an dieser Diagnose nicht seine konfessionelle Zuspitzung.
Bemerkenswert ist vielmehr, dass hier ein Zusammenhang zwischen dem theologischen Selbstverständnis einer bestimmten christlichen Konfession und dem Sozialverhalten ihrer Mitglieder empirisch dingfest gemacht werden kann. Theologische Debatten – so könnte man daraus schließen – sind möglicherweise relevanter für die Lebenswelt, als auf den ersten Blick deutlich wird.
Starke Überzeugungen
Zwei ganz unterschiedliche Deutungsmuster sind möglich, wenn wir nach der Bedeutung von Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft fragen. Entweder wir verstehen Gemeinschaft als Gegenbegriff zur Gesellschaft, wie das der große Soziologe Ferdinand Tönnies, Nestor der deutschen Soziologie, in seinem vor über hundert Jahren erschienenen Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ getan hat.
Gemeinschaft ist dann der Ort, wo Menschen, die Verwandtschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl oder starke gemeinsame Überzeugungen verbindet, Geborgenheit finden angesichts einer Gesellschaft, die geprägt ist von Egoismus, kalter Zweckorientierung und ökonomischer Nutzenmaximierung. Es überrascht nicht, dass im Lichte dieses Gemeinschaftsbegriffes die Entwicklung zur modernen westlichen Gesellschaft im Wesentlichen als Verfallsgeschichte gedeutet werden muss: Gemeinschaft geht immer mehr verloren. Der Egoismus nimmt immer mehr überhand.
Die andere Deutungsmöglichkeit teilt diesen Pessimismus gegenüber der Moderne nicht. Sie ist in der Soziologie zum ersten Mal eindrucksvoll von einem Zeitgenossen von Tönnies ausgearbeitet worden, der mit guten Gründen als Begründer der französischen Soziologie gelten kann: Emile Durkheim. In seinem Werk über die soziale Arbeitsteilung sieht er, ähnlich wie Tönnies, die alten von starker innerer Übereinstimmung getragenen Formen von Gemeinschaft („mechanische Solidarität“) erodieren. Er sieht aber gleichzeitig neue Formen von Gemeinschaft an ihre Stelle treten („organische Solidarität“).
Gemeinschaft durch Verschiedenheit
Die Stärke des Deutungsangebots, das Durkheim schon vor mehr als einem Jahrhundert geliefert hat, liegt darin, dass uns die Augen geöffnet werden für die vielen neuen Formen von Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt, die erst in der modernen pluralistischen Gesellschaft möglich geworden sind. Nur so können wir über eine, übrigens in allen politischen Lagern zu findende, Position konservativer Kulturkritik hinausgelangen, die beim Blick auf unsere Gesellschaft nur noch Werteverfall, Verlust von Gemeinschaft und allgemeinen Egoismus sieht. Es ist wahr: Die alten Formen von Gemeinschaft, die starke Verbindlichkeit und oft lebenslanges Engagement implizierten, verlieren an Bedeutung. Wer wüsste das neben Parteien und Sportvereinen nicht genauer als die Kirchen!
Aber das heißt eben nicht automatisch, dass die Menschen nur auf dem Ego-Trip sind. In veränderter Form nehmen die sozialen Kontakte zu und auch die Bereitschaft zum Engagement nimmt keineswegs ab, sondern verändert sich vielmehr in ihrem Anforderungs- und Erwartungsprofil. Gemeinschaft wird heute zunehmend in Netzwerken erfahren, in Formen von Gemeinschaft also, die als genuine Produkte der modernen Gesellschaft gesehen werden können.
Was das Leben in Netzwerken kennzeichnet, will ich noch ein wenig erläutern: Das Charakteristische solcher Netzwerke lässt sich am besten anhand von drei Aspekten beschreiben, die ich Pluralisierung, Individualisierung und Gegenseitigkeitsorientierung nenne.
Starke und schwache Beziehungen
Pluralisierung bedeutet, dass nicht mehr von der einen gemeinsamen Grundlage ausgegangen werden kann, von der traditionelle Gemeinschaften lebten und der alles andere untergeordnet wird, seien es die Familienbande, die politische Überzeugung oder die religiöse Orientierung.
Die Menschen leben heute in einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinschaften, die alle das Leben mitprägen, vom Sportverein, dem Kegelklub oder auch dem Literaturkreis über die Schulgemeinschaften der Kinder mit ihren jeweiligen Sommer- oder Weihnachtsfesten bis hin zu Nachbarschaftskreisen, Bürgerinitiativen oder eben auch der Kirchengemeinde. Diese Vielzahl von Gemeinschaften bildet das Netzwerk, in dem wir leben. Wie zentral diese Pluralisierung für die sozialen Unterstützungsleistungen des Einzelnen heute ist, zeigt eine faszinierende Untersuchung des amerikanischen Soziologen Mark Granovetter, die ich hier vorstellen möchte.
Granovetter unterscheidet „starke“ und „schwache“ Beziehungen und weist ihnen jeweils unterschiedliche Funktionen zu. Starke Beziehungen sind die Beziehungen in den Intimgruppen, die traditionell am deutlichsten mit dem Begriff „Gemeinschaft“ verbunden waren. Sie vermitteln vorrangig tiefere Gefühle wie Liebe und Geborgenheit, sie verlangen viel Zeit und sind geprägt durch einen hohen Grad von Verbindlichkeit.
Schwache Beziehungen sind im Gegensatz zu starken Beziehungen weniger zeitaufwendig und mit weniger emotionalem Engagement verbunden. Ihre größte Stärke liegt darin, dass sie eher am Rande eines persönlichen Netzwerks angesiedelt sind und deshalb eine Art Brückenfunktion zu anderen Gemeinschaftskontexten erfüllen können. Über schwache Beziehungen entstehen Einstiegsmöglichkeiten in andere soziale Milieus.
Pluralisierung bedeutet nicht Abbruch von Gemeinschaft
Die schwächstmögliche Form der sozialen Beziehung – das kann über Granovetter hinaus zur Erläuterung gesagt werden – ist heute die „Gefällt mir“-Taste bei Facebook. Wenn Sie sich – sofern Sie bei Facebook registriert sind – heute bei einem Ihrer Facebook-Freunde mit dem minimalstmöglichen Zeitaufwand in Erinnerung bringen wollen, drücken Sie die „Gefällt mir“-Taste bei einem dort eingestellten Bild oder irgendeiner Aussage Ihres Freundes. Mit einem einzigen Click sagen Sie: Es gibt mich noch und es ist mir wichtig, dass du mich nicht vergisst. Und wenn es Gründe gibt, die entsprechende soziale Beziehung wieder neu zu aktivieren, gibt es jedenfalls eine kommunikative Basis dafür.
Das kann insofern ganz handfeste Dimensionen haben, als die Untersuchung von Mark Granovetter auch gezeigt hat, dass die schwachen Beziehungen von besonderer Bedeutung sind, wenn es um soziale Unterstützungsleistungen im Alltag geht: In einer Studie über Menschen, die ihren Arbeitsplatz wechselten, stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen den neuen Job nicht über Freunde, sondern über lockere Bekannte gefunden hatten.
Losere Netzwerke scheinen also für die sozialen Unterstützungsleistungen im Alltag eine größere Rolle zu spielen, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Die durch schwache Beziehungen ermöglichte Pluralisierung eröffnet Zugang zu zahlreichen anderen Gemeinschaften, die ansonsten verschlossen gebliebene Horizonte eröffnen. All diese Überlegungen zeigen: Pluralisierung bedeutet nicht Abbruch von Gemeinschaft, sondern zunächst nur Veränderung von Gemeinschaft. Für die Kirche ist es von zentraler Bedeutung, dass sie auch die schwachen Netzwerksbeziehungen als Formen von Gemeinschaft würdigt und sich mit ihren Angeboten darauf einstellt.
Bewusste Entscheidung
Der zweite Aspekt, den ich nennen möchte, ist die Individualisierung. Sie bedeutet keineswegs, wie manchmal angenommen, automatisch selbstzentrierten Individualismus. Vielmehr heißt Individualisierung zunächst nur, dass die Menschen heute im Prinzip die Freiheit haben, ihr Leben selbst so zu gestalten, wie sie es wollen, anstatt vorgegebenen Rollen und Lebenswegen zu folgen. Das Wort von der „Bastelbiografie“, erfunden von dem Soziologen Ronald Hitzler, ist fast schon in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen und bezeichnet den mit Chancen wie Risiken verbundenen Versuch, sein Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten.
Das Engagement zahlloser Ehrenamtlicher in Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs in Egoismus und Vereinzelung führen muss. Der in solchem Engagement zum Ausdruck kommende solidarische Gebrauch der Freiheit ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass Individualisierung und Gemeinschaft nicht in Gegensatz zueinander stehen müssen. Wer sich heute in der Kirche engagiert, tut das aus einer bewussten Entscheidung heraus und nicht, weil er oder sie im Grunde kaum eine andere Wahl hätte.
Und auch Kirchenaustritte erscheinen in einem neuen Licht, wenn sie auch als Ausdruck einer zu bejahenden Individualisierung gesehen werden. So schmerzlich Kirchenaustritte als Konsequenz von bewussten Entscheidungen sind, so gewichtig und auch erfreulich ist gleichzeitig die Tatsache, dass eine erstaunlich hohe Zahl von Menschen unter den Bedingungen von Individualisierung offensichtlich nach wie vor der Kirche die Treue hält!
Ehrenamtliche wollen mitreden
Als Drittes zeichnet sich ein Charakteristikum ab, das ich Gegenseitigkeitsorientierung nenne. Der Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit tritt als Grundlage für das Engagement in der Gemeinschaft mehr und mehr an die Stelle des Opfergedankens. Auch hier ist Vorsicht angebracht: Gegenseitigkeitsorientierung heißt keineswegs automatisch, dass die Leute heute, ganz am ökonomischen Denken orientiert, nur noch eine Leistung erbringen wollen, wenn sie auch eine vergleichbare Gegenleistung bekommen. Es heißt vielmehr, dass die Menschen sich für andere engagieren, dies aber nicht mit dem Gefühl tun, sich aufzuopfern und selbst zu verleugnen, sondern mit dem Gefühl und der Erwartung, auch selbst davon zu profitieren.