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Rebecca klopfte an die Tür zum Sekretariat an und trat ein. »Frau Schneider, Sie haben mir einen Zettel ins Fach gelegt. Ich möchte den Anruf gleich erledigen.« Die Sekretärin nickte und wies ihr den Platz gegenüber ihres Schreibtisches zu. Nach der Übergabe des Telefons wählte Rebecca die Nummer. Es klingelte, aber niemand hob ab. »Komisch. Eigentlich müsste sie zu Hause sein. Ich warte kurz und versuche es dann noch mal.«
Sie fiel in den Stuhl zurück, dessen weiche Lehne sich an ihren Rücken anschmiegte. Für einen kurzen Moment der Ruhe stützte sie den Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte eine Hand an die Wange.
Die Sekretärin hatte sich inzwischen dem Computer zugewandt und begann damit, etwas einzutippen. Die Zeit strich dahin und Rebecca richtete ihren Blick abermals aus dem Fenster hinaus, wo sie noch immer das grau-graue Winterwetter vorfand.
Sie zuckte zusammen, als ein lautes Öffnen der Tür hinter ihr ertönte. Schulleiter Tannenberger trat mit einem Mann, einer Frau und einem Jugendlichen heraus. »Also, wenn etwas sein sollte, Sie können sich jederzeit bei mir melden, wir finden einen Termin«, sagte der Direktor in freundlichem Tonfall und gab den Dreien förmlich die Hand. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Rebecca erblickte.
Sie schaute zu den drei aus dem Büro heraustretenden Personen, die sich am Tresen des Sekretariats befanden und im Begriff waren, den Raum zu verlassen.
Nur flüchtig streifte Rebecca der Blick des etwa zwanzigjährigen Mannes. Er griff in seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare und sah zu Boden, wirkte angespannt.
In dem kurzen Moment, in dem sie sein ebenmäßiges Gesicht wahrnahm, durchfuhr sie eine ungeahnte Sehnsucht, dieses näher zu ergründen. Auch sein Body wirkte wenig jungenhaft. Unter dem schwarzen Pullover zeichnete sich ein gut trainierter Körper ab. Als die Familie das Sekretariat verließ, erwischte sich Rebecca dabei, dem jungen Mann auf den Hintern zu starren, der sich unter der eng anliegenden Hose abzeichnete.
»Frau Peters, wollen Sie zu mir?«, fragte der Schulleiter, der noch immer im Türrahmen stand. Rebecca drehte sich ruckartig zu ihm herum.
»Wie bitte?«
Er lachte auf. »Ich dachte, Sie wollen zu mir, weil Sie hier warten.«
»Nein, ich muss jemanden anrufen«, erwiderte sie knapp.
»Ach so.« Tannenberger verschwand, die Tür hinter sich zuschlagend, in seinem Büro.
»Sagen Sie, Frau Schneider: Kennen Sie die Familie, die eben beim Schulleiter war? Ich habe die Leute noch nie vorher gesehen.« Die Sekretärin schaute im Terminkalender des Direktors nach.
»Familie Klage«, meinte sie, ohne vom Kalender aufzublicken. »Ihr Sohn Elouan wird ab morgen hier zur Schule gehen.«
Rebecca musste bei der Vorstellung, ihrem zukünftigen Schüler ungeniert auf den Po gestarrt zu haben, schmunzeln.
Dann griff sie zum Telefonhörer und wählte erneut. Ohne Erfolg. Das hieß eine Überstunde mehr für heute Nachmittag.
Nach dem Unterricht in Klasse 10 stand Rebecca gedankenverloren am Fenster und starrte in den Schulhof hinab, in dem sich die Schüler trotz der winterlichen Kälte tummelten. Der Wind hatte aufgefrischt und es schneite kräftiger. Die bunten Gestalten auf dem Hof trotzten der Kälte, warfen sich Schneebälle ins Gesicht und seiften sich gegenseitig ein.
Die große Buche, die Rebecca vom Fenster aus sah, wirkte wie ein tausende Jahre altes Bollwerk inmitten der ständig wechselnden Jahreszeiten und Gesichter, auf die sie Tag für Tag, Jahr ein Jahr aus herabblickte. Sie würde die Zeiten überdauern und in hundert Jahren noch behütend über den Kindern wachen.
Aber Gott, was war das für ein Tag! Das war nur einer von vielen! Wo würde sie in verdammten zehn, zwanzig oder mehr Jahren stehen? Würde sie endlich die Lehrerin sein, die sie sein wollte – respektiert und geachtet? Würden die Korrekturen weniger werden? Würde sie mehr Freizeit haben?
Während sie noch darüber nachdachte, leerte sich der Schulhof zum Ende der Pause. Rebecca griff nach ihrer schwarzen Schultasche, holte die Jacke aus dem Lehrerzimmer und ging in Richtung Mensa. Schreiende, aufgeregte Scharen von Pubertierenden kreuzten ihren Weg.
Harald saß schon am Tisch, als Rebecca eintraf. Er hatte einen Teller Nudeln mit Tomatensoße und Wurststückchen vor sich stehen und kaute langsam auf ihnen herum.
»Und wie war dein erster Tag?«, wollte Harald wissen, als sie sich hinsetzte.
Rebecca atmete tief durch. »Ging. Die Siebener haben erwartungsgemäß gestört. Morgen habe ich die Elfer, da ist es ruhiger«, sagte sie leicht lächelnd und schob sich einen Happen Nudeln in den Mund.
Ihr war bewusst, dass die Oberstufenschüler ihre Ruhe haben wollten und daher nicht störten. »Ach siehst du, da fällt mir ein: Ich habe doch einen neuen Schüler bei mir im Kurs sitzen: Elouan Klage. Er und seine Eltern waren heute beim Schulleiter. Ich war zufällig im Sekretariat und habe sie gesehen. Du sagtest doch, du würdest ihn kennen.«
Der ältere Mann räusperte sich, machte eine kleine Kunstpause. »Elouan Klage war schon einmal bei uns.«
»War er ein Jahr im Ausland und kommt jetzt wieder oder was?«
Wieder ein Räuspern. Er legte die Gabel beiseite, beugte sich leicht nach vorn und sagte dann bestimmt: »Nein, Elouan war vor …«, überlegte er, »drei oder vier Jahren bei uns an der Schule. Ich glaube Mitte der elften Klasse war er plötzlich weg. Von der damaligen Klassenlehrerin erfuhren wir, dass der Junge psychische Probleme hatte und daher in eine Nervenheilanstalt gekommen war. Müsste in den Unterlagen noch alles zu finden sein.«
»Verstehe.« Rebecca überlegte kurz. »Wenn er nach drei Jahren in die Klasse 11 einsteigt, dann ist er ja …«
»Auf alle Fälle volljährig«, grinste Harald. »Mal sehen, wie er sich diesmal anstellt …«
Er nahm seine Gabel wieder in die Hand und aß weiter. »Was meinst du damit?«
»Nun ja, Elouan«, sagte er, »war ein cleveres Kerlchen, aber mit seiner verrückten Art hat er sich keine Freunde gemacht. Trat auf, als wäre er der Schulleiter hier, klebte am Lehrer dran, mischte sich ein, während Erwachsene sprachen.«
Schweigen legte sich über sie. Seine Worte hallten in Rebeccas Kopf nach. Auf sie wirkte er ganz normal.
Mit der Wurststulle in der Hand stand Rebecca am Dienstag vor dem Vertretungsplan des Lehrerzimmers, als Heidi, Elouans Tutorin, den Raum betrat. »Und, hattest du schon Deutsch bei Lou?«
Rebecca, die gerade dabei war, das Gewirr an Zetteln am Schwarzen Brett zu sortieren, erschrak und schaute Heidi ins Gesicht. Wen meinte die Biologiekollegin?
»Du unterrichtest doch Deutsch in meinem Kurs. Hast du Elouan schon kennengelernt?«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Nein, die kommende Stunde erst. Aber sag mal, Heidi, ich habe mich gestern mit Harald unterhalten. Über Elouan.«
Heidi lachte auf. »Bestimmt hat er ihn für verrückt erklärt.« Rebecca nickte.
»Du solltest dir ein eigenes Urteil bilden. Bei einem Kollegen ist er so, beim anderen so.«
»Wie alt ist er?«
»Zwanzig.« Heidi schaute auf die Uhr, die auch Rebecca daran erinnerte, dass der Unterricht bald begann. »Wir reden mal, wenn wir ungestört sind, ja?«
Rebecca schulterte ihre Schultasche und verließ das Lehrerzimmer, das inzwischen zu einem Stall voller wild gewordener Hennen und aufgeblasener Hähne mutiert war. Im Gegensatz dazu herrschte auf dem leeren Gang eine angenehme Stille. Nur die Absätze ihrer Stiefel erzeugten einen harten Takt, der an den Wänden des Gebäudes widerhallte.
Am Kursraum angekommen, packte sie das Deutschbuch und ihre Unterlagen aus. Vorfreude erfüllte sie angesichts des anstehenden Kennenlernens mit dem ihr noch unbekannten, aber höchst interessant erscheinenden Schüler.
Während die letzten Stimmen auf dem Schulhof verschwanden, betraten die ersten Elftklässler den Raum. Einer nach dem anderen ging zu seinem gewohnten Platz, packte die Schulsachen aus und wartete auf das Klingelzeichen. Bis auf Elouan waren alle da.
Die Elftklässler wärmten die Stühle an und starrten gelangweilt vor sich hin oder redeten mit dem Banknachbarn.
»Wir bekommen heute einen neuen Schüler. Hat ihn schon jemand gesehen?«, fragte Rebecca in die lustlose Runde, nachdem der Unterricht begonnen hatte. Alicia, ein cleveres, gut aussehendes Mädchen bejahte die Frage.
»Weiß Elouan, wo er jetzt Unterricht hat?« Die Schülerin zuckte die Schultern.
»Ich sehe mal nach«, sagte Rebecca und öffnete behutsam einen Spalt der Klassenzimmertür. Ihr Blick schweifte nach draußen auf den menschenleeren Gang.
Sie trat aus dem Raum und blicke um sich. Aber so wie sie den Schritt hinaus wagte, stand unerwartet ein schlanker junger Mann vor ihr und lächelte sie freundlich an. Er war Rebecca so nahe, dass sie sein männlich herbes Parfum riechen konnte. Er verströmte eine Aura, die nicht mit Worten zu erklären war. Ob er ihre Schüchternheit spürte? Rebecca fühlte die aufsteigende Wärme in ihrem Inneren. Ihre Wangen mussten glühen!
»Guten Tag«, sagte er freundlich, aber bestimmt. Seine Stimme war jugendlich kräftig. Sie strahlte Männlichkeit und Sanftmut gleichermaßen aus.
»Ich bin Frau Peters.«
»Elouan.«
Wie lyrisch weich er seinen ungewöhnlichen Namen aussprach.
»Nennen Sie mich doch bitte Lou.« Dabei schüttelte er ihre Hand. Der Griff war fest, aber nicht so kernig wie bei alten Männern.
Da war dieses vollkommene Gesicht, in das Rebecca eintauchte.
Der Moment dehnte sich. Der Händedruck war eine Sekunde zu lang, genau wie der Blickkontakt. Seine blauen Augen schienen ihre braunen zu durchbohren und für sich einnehmen zu wollen. Den Kampf hatte sie schon jetzt verloren.
Mit einem Male fielen Rebecca die Schüler im Zimmer ein, die auf die Fortsetzung der Unterrichtsstunde warteten. »Komm rein. Such’ dir einen Platz aus«, sagte sie mit gesenktem, hochrotem Kopf. Die Wärme seiner Berührung durchflutete sie noch immer.
Elouan packte seine Unterrichtsutensilien aus und sah sich nach den Mitschülern um. Einen intensiveren Blick widmete er der hübsch anzusehenden Alicia, die er freundlich anlächelte. Dann begann für Rebecca die erste Unterrichtsstunde mit ihrem neuen Schüler.
Kapitel 2
Elouan zog es vor, allein zu sitzen. Abseits von ihm: die übrigen Elftklässler. Der erwachsen wirkende, mysteriöse neue Schüler befremdete sie. Freunde schien der Neuankömmling in der Runde des lustlosen Deutschkurses nicht zu finden. Neuerdings betrat er zusammen mit Alicia den Raum, setzte sich jedoch nicht neben sie. Rebecca interessierte, worüber sie sich austauschten, konnte jedoch nie Wortfetzen auffangen.
Während die Jugendlichen arbeiteten, schaute sie sich im Kurs um und sah, wie Lou zu seiner Mitschülerin schaute. Der Grundkurs bestand fast ausschließlich aus Jungen. Nur vier Mädchen saßen Rebecca gegenüber. Davon zog die leistungsstarke, hübsch anzusehende Alicia die größte Aufmerksamkeit von Elouan auf sich.
In Einzelarbeitsphasen nutzte Rebecca die Gelegenheit, sich Lou aus der Nähe anzusehen. Mit seinen zwanzig Jahren stach er aus der Masse der Jugendlichen deutlich hervor: Sein markantes Kinn mit den robusten schwarzen Bartstoppeln ließ sein Gesicht abgeklärter und reifer wirken als das der anderen Jungs. Mal kam er frisch rasiert in die Schule, mal trug er einen gepflegten Dreitagebart.
Seine blauen Augen lugten des Öfteren von dem Deutschbuch auf und schauten sich im Klassenraum um. Unvermittelt trafen sie auf die von Rebecca. »Frau Peters, könnten Sie bitte zu mir kommen, ich habe eine Frage«, sagte er übertrieben höflich.
»Sicher, was gibt es denn?«
Das aktuelle Thema hob die meisten Jugendlichen nicht sonderlich an, aber Lou schien daran Gefallen zu finden, Reden auseinanderzunehmen.
Inzwischen stand Rebecca an seinem Platz, beugte sich über seine Schulter, um zu schauen, was er ihr zeigen wollte. »Ich komme an dieser Stelle hier nicht weiter. Weizsäcker sagt, nach dem Zweiten Weltkrieg …«
Ihre Augen wanderten zu seinen dunklen, kurzen Haaren, hinab zu dem blauen, eng anliegenden Jeanshemd und von dort nach oben zu seinem Gesicht. Ihr fielen seine tadellos gerade Nase sowie seine leicht geschwungenen Lippen auf. Ihr Verstand wurde zusätzlich durch das maskuline Parfum getrübt, das sie schon oft an Elouan gerochen hatte und das eine ganz eigene Stärke ausstrahlte.
»Und was denken Sie darüber? Kann man dem Autor zustimmen?«
Seine Worte waren verwaschen. »Ich muss das … kurz überfliegen …« Trotz Rebeccas unprofessionellem Stammeln und der wirren Antwort schien Lou mit dem Gesagten zufrieden zu sein, denn er schrieb die Aussagen eifrig auf.
Die übrigen Elftklässler waren in ihre Einzelarbeit vertieft und sahen nicht, wie Rebeccas Augen unablässig Elouan fokussierten, während sie im Raum herumlief und vorgab, sich das Geschriebene der Mitschüler anzusehen. In Wahrheit galten Lous Hinterkopf sowie die schlanke Silhouette, die sich unter seinem engen Hemd abzeichnete, ihrem Interesse. Seinen Anblick in sich aufsaugen, ihm nah sein, seine Präsenz spüren. Einzig diese Gedanken begleiteten Rebecca, als sie den Raum durchschritt.
Es wurde unruhig. Die meisten Schüler hatten die Einzelarbeit abgeschlossen und warteten darauf, die Analyse des Redetextes vorgesetzt zu bekommen. Alicia arbeitete in der Regel als einzige Schülerin aktiv mit. Heute schoss Lous Arm in die Höhe.
»Gut, dann fasse bitte den Text zusammen.« Die Inhaltsangabe gelang ihm problemlos.
Für den nächsten Teilschritt der Redeanalyse nahm Rebecca eine stille Schülerin dran. Während das Mädchen redete, beugte sich Lou nach links und betrachtete sie aufmerksam. Rebeccas Augen schweiften zwischen Elouan und ihr hin und her und eine ungekannte Eifersucht durchflutete sie.
Lou meldete sich erneut, doch Rebecca musste ihn ignorieren, um andere Schüler zu hören. »Max?« Elouan funkelte sie böse an. Da Max kaum ergiebige Fakten lieferte, forderte Rebecca: »Lou, ergänze doch bitte.« Doch seine Deutungen gingen in eine verkehrte Richtung.
»Überlege noch mal, ob das richtig sein kann.«
Die Ermutigungen zogen nicht und Elouan fiel resigniert in den Stuhl zurück. Er blieb bis zum Ende der Stunde stumm und verließ den Deutschraum beinah beleidigt, wortlos.
Zu Hause angekommen, schob sich die Autotür genauso widerwillig auf, wie sich Rebeccas Körper aus dem Wagen bewegte. Die wenigen Schultage lasteten wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihren Schultern. Dabei wollte sie sich mit der Aussicht trösten, dass es nur wenige Wochen bis zu den Osterferien waren.
Beim Aussteigen sah Rebecca die Schneewehen, die sich in der Einfahrt zu kleinen Dünen aufgetan hatten. In den letzten zwei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit. Über der Einfahrt zum Haus hatte sich ein dichter Mantel aus weißem Samt gelegt. Rebecca stapfte durch die Schneedecke, öffnete die Haustür und zog ihre nassen Schuhe aus, die sie zum Trocknen etwas abseits stellte.
Da Paul erst gegen sieben nach Hause kam, musste sie sich in der Zwischenzeit um alles allein kümmern: Schnee wegräumen, den stehen gebliebenen Aufwasch erledigen und Unterricht vorbereiten. Am liebsten hätte sich Rebecca ins Bett verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen und geschlafen. Noch lieber säße sie in genau diesem Moment in einem Flugzeug – irgendwohin, bloß weit weg von der Schule und von Paul.
Doch es nutzte nichts. Um sich trübsinnigen Gedanken hinzugeben, blieb keine Zeit. Sie verstaute ihre Schultasche im Arbeitszimmer, zog sich hohe Stiefel an und trottete nach draußen in die Kälte. Ihre Pelzmütze hatte sie tief ins Gesicht geschoben, da ein eisiger Wind wehte.
Ein Kampf zwischen dem Schieber und dem nassen Schneematsch zeichnete sich ab, doch Rebecca gewann. Eine Schneewehe nach der anderen verschwand vom Hof.
Erst 19:15 Uhr nahm sie von ihrem Arbeitszimmer aus die Scheinwerfer von Pauls Auto wahr. Obwohl sie schon längst Feierabend haben wollte, saß sie immer noch über ihrem Rechner und bereitete den Unterricht in den morgigen Klassen vor.
Paul brachte eine unangenehme Kälte ins Haus hinein. Er begrüßte Rebecca mit einem leichten Kuss auf die Lippen. »Machst du schon wieder so lange?«, fragte er besorgt.
»Hm. Hast du gesehen, dass ich Schnee geschoben habe?« Er verließ das Zimmer.
»Ja«, hörte sie ihn beiläufig murmeln. Rebecca konnte nur müde lächeln. Ob er wirklich registriert hatte, wie viel Arbeit sie auf sich genommen hatte?
Was für ein ignoranter Typ ihr Freund geworden war! Die Frustration steigerte sich, denn in der Vorbereitung auf die Stunde mit ihren Achtklässlern gab es Probleme. Rebecca fand ein wichtiges Arbeitsblatt nicht, das sie für eine Kopie benötigte. Weder in der Ablage noch im Ordner für diese Klassenstufe war es aufzutreiben. »So ein Mist«, fluchte sie vor sich hin.
Paul hörte davon nichts. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, verschwand er ins Schlafzimmer. In der Regel lag er dort etwa eine halbe Stunde, bevor er zum Essen in die Küche zurückkehrte. »Wo zum Henker …« Die Flüche ließen das Arbeitsblatt nicht verängstigt unter dem Blätterstapel hervortreten. Es blieb verschwunden.
Ihr blieb keine andere Wahl, als das Arbeitsblatt noch einmal zu erstellen, in der Hoffnung, es annähernd so zu konzipieren wie ehedem.
Während sie genervt auf der Tastatur herumtippte, näherte sich der dicke Zeiger der Uhr immer mehr der Acht. Entsprechend fiel das Ergebnis aus.
Wie gerädert wachte Rebecca am kommenden Mittwochmorgen auf. Vor allem ihre eigene achte Klasse bereitete ihr bereits am Frühstückstisch Kopfzerbrechen, während sie am Kaffee nippte.
Wann trat endlich das Wunder ein, auf das sie schon so lange Zeit wartete und das sie endlich zu einer respektierten Persönlichkeit heranreifen lassen würde? Heute zumindest kam es nicht zustande.
Es war die zweite Stunde. Die nervigen Siebtklässler lagen hinter Rebecca. Jetzt blieben ihr wenige Minuten, um den Raum zu wechseln und in ihrer eigenen achten Klasse zwei Stunden Kunst zu geben.
Es hatte bereits zur Stunde geklingelt, aber weil sie nicht pünktlich den Raum der Siebtklässler abschließen konnte, war sie zu spät dran und musste über den Gang rennen, um noch pünktlich den Kunstraum zu erreichen. Eine unangenehme, peinliche Situation, die sie auf dem Gang wild vor sich hin fluchen ließ. Sie kam nie zu spät!
Schon von Weitem hörte sie eine aufgebrachte Meute durch die Gänge des Kunstflügels rufen und grölen. »Kommt die Alte heute etwa nicht?«, grölten sie. Wahrscheinlich verrieten sie die Absätze ihrer Schuhe, die laut auf dem Fußboden aufschlugen. Zumindest wurde es leiser, als sich Rebecca dem Raum näherte.
Abgearbeitet und erschöpft erreichte sie die Schülerhorde, fand aber in der Eile ihren Schlüssel nicht, mit dem sie meinte, soeben den Raum der Siebtklässler abgeschlossen zu haben. Wie irr wühlte sie in der – ihr in diesem Moment überproportional groß erscheinenden – Tasche.
Die Unruhe brandete wieder auf und schon schaute Kollegin Fröhlich aus ihrem Raum heraus, wer die Lautstärke auf dem Gang verursachte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Suchens bemerkte Rebecca, dass sie den Schlüssel gar nicht in der Schul-, sondern in ihrer Hosentasche hatte, aus der sie ihn nun umständlich hervorkramen musste.
Genervt schloss sie den Raum auf und wälzte ihre schier endlos erscheinenden Unterlagen, die aus Büchern und A 3 – Blättern bestanden, umständlich auf dem Lehrertisch ab.
Eine schüchterne Schülerin kam nach vorn gelaufen und entfaltete einen Zettel. Dafür hatte sie gerade keinen Nerv! »Was ist denn, Susanna?«
Durch den eisigen Tonfall blieb dem Mädchen der Mund offen stehen. »Ich habe einen …«, stammelte sie vor sich hin, während sie ein Stück Papier auf und zu faltete, »… Krankenschein, den ich Ihnen geben wollte.«
»Ja gut, leg’ ihn auf den Tisch.« Susanna tat wie angekündigt und schlich eingeschüchtert davon.
Warum musste ihre miese Laune über das Zuspätkommen ausgerechnet die falschen Kinder treffen? Die Unruhe wurde nicht weniger und nun fehlte auch noch das Lehrbuch der Achtklässler!
Als Rebecca für einen kurzen Augenblick aufschaute, nahm sie wahr, dass noch immer nicht alle Jugendlichen ihr Schulzeug aus den Taschen und Ranzen geholt hatten. »Packt zügig aus, wir fangen heute mit einem neuen Kunstprojekt an; dafür braucht ihr viel Zeit!«, brüllte sie in die nicht zuhören wollende Schülermeute.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit hatte sich die Klasse insoweit beruhigt, dass der Unterricht beginnen konnte. Zehn Minuten und mit ihnen die gute Laune von Rebecca waren verstrichen.
»Okay. Wie ihr wisst, beginnen wir heute mit einem neuen Kunstprojekt. Es geht um Tageszeiten und ihre Darstellung in der Kunst. Wir wollen uns ein paar solcher Werke ansehen und beschreiben. Ihr findet sie im Lehrbuch, Seite …«
Sie ging an den mittleren Tisch in der vordersten Reihe, an dem ihr »Lieblingsschüler« Martin saß. »Seite 139«, sagte sie zügig, die eben einkehrte Ruhe ausnutzend.
Doch schon hatte Ellen einen dummen Spruch parat, mit dem sie Rebecca aus der Fassung bringen konnte. »Frau Peters hat ihr Lehrbuch nicht mit. Jetzt bekommt sie einen Eintrag ins Hausaufgabenheft«, geiferte sie, dabei siegessicher zu ihrer Clique schauend, die aus Jule, Martin und Andy bestand. Ellen hob eine Hand nach oben, um High-Five zu signalisieren und lachte Jule dreckig an.
Die Schülerin wusste nicht, ob sie sich getrauen sollte, ebenfalls einen Kommentar loszulassen und unterließ es lieber. Weil Rebecca nichts auf Ellens Worte erwiderte, keimte die Unruhe wieder auf.
»Susanna«, überging sie Ellens Kommentar, »lies uns doch bitte auf Seite 139 den Eingangstext zu den Darstellungen in der Kunst vor.« Böse funkelte Rebecca Ellen an, deren Lachen erstarb. Für heute signalisierte sie Standhaftigkeit, aber insgeheim wusste sie: Der Kampf zwischen ihr und den Jugendlichen war noch lange nicht vorbei.