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»Na, denn mal Prost.« Als sie die Gläser abstellten, kicherte Thelen unvermittelt: »So gottverlassen ist der Parkplatz gar nicht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sind Sie mal da oben gewesen?«
»Natürlich.«
»Man kann von dem Parkplatz aus in den Wald fahren und da laufen merkwürdige Dinge ab. Manchmal wenigstens.«
»Ja?« Ein höfliches Desinteresse, Thelen reagierte gekränkt, die guten alten Verhörtricks funktionierten doch immer wieder.
»Vor allem, wenn es dunkel ist«, beteuerte er.
»Liebe findet überall statt«, kommentierte Rogge trocken, doch damit forderte er Thelen endgültig heraus: »Keine Liebe, Herr Rogge. Ganz andere Dinge.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Freunde von mir haben zweimal einen Lieferwagen gesehen, der in dem Wald parkte. Und dann kam über die Wiese ein anderer Wagen, zwei Männer luden etwas um und der Lieferwagen fuhr wieder auf die Autobahn.«
»Nachts? Im Dunkeln?«, zweifelte Rogge höflich und Thelen nickte eifrig, als müsse er den Skeptiker überzeugen.
»Glauben Sie, das hat was zu bedeuten?«
»Sie nicht? Im Dunkeln ein- und ausladen?«
Mit der Antwort ließ sich Rogge Zeit: »Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber eigentlich glaube ich eher an ein harmloses Treffen. In meinem Beruf erlebt man Dinge, die glaubt einem kein Mensch, die kann man gar nicht erfinden.«
Thelen wollte etwas einwenden, aber Monika legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe. Eine Frau kommt auf ein Revier und meldet ihren Mann als vermisst ...« Mit der Geschichte von dem Zwillingsbruder hatte er schon mehrere Runden unterhalten, sie war auch mehr als kurios und unwahrscheinlich, erklärbar nur durch die Tage des Zusammenbruchs 1945. Eine Frau brachte auf der Flucht eineiige Zwillinge zur Welt, die neugeborenen Jungen wurden getrennt, als sich der Treck vor den nachrückenden russischen Truppen zerstreute und in alle Richtungen zerstob. Die Kinder wurden gerettet, von der Mutter gab es keine Spur und die Zwillinge wuchsen in Heimen und bei Pflegefamilien auf, ohne voneinander zu wissen. Dann verließ der eine Zwilling seine Frau, sie meldete ihn auf dem Revier als vermisst und begegnete auf dem Weg zurück in ihre Wohnung dem anderen Zwilling ...
Am meisten amüsierte sich Gertrud, sie besaß, wie Rogge argwöhnte, einen winzigen Hang zum Sadismus, gerade groß genug, um Gefallen an Katastrophen, Pannen und Verwicklungen zu finden. Thelen lauschte scheinbar ungerührt und Monika litt mit. Drei Personen, drei Temperamente. Die beiden Alten am Tresen schienen sich alles gesagt zu haben und dösten stumm über ihren leeren Gläsern. Auf der Bank der jungen Wilden war den Streithähnen die Kraft aus gegangen, einer hatte schon den Kopf auf den Tisch gelegt und schlief, der andere gähnte, dass es ihn schier zerriss. Benno Brockes flüsterte mit Andrea Wirksen, die ihm fast auf dem Schoß saß, und griff ihr dabei ungeniert an den Busen; sie wehrte ihn nicht ab. Plötzlich roch und schmeckte alles schal. Kneipenschluss.
»Eine verrückte Geschichte«, urteilte Thelen und wollte nicht zugeben, dass sie ihn beeindruckt hatte. Monika wischte sich verstohlen zwei Tränen weg und Gertrud holte tief Luft: »Was es nicht alles gibt ...«
»Vor allem gibt es kein Bier mehr«, jammerte Rogge theatralisch und zwinkerte ihr zu. »Ich verziehe mich.«
Als Rogge aufstand, rückte Andrea ein Stück zur Seite, was Brockes mit einem drohenden Grunzen quittierte; seine Augen waren jetzt rot unterlaufen und der tückische Blick, mit dem er Rogge und Gertrud bedachte, verhieß nichts Gutes.
»Soll ich Ihnen helfen ...?«
Die Bedienung hatte sein halblautes Angebot richtig verstanden: »Keine Angst, mit Benno werd ich fertig.«
»Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«
Gertrud klatschte in die Hände, die beiden alten Knaben schossen auf ihren Hockern regelrecht in die Höhe: »Schluss für heute.«
Rogge saß noch am offenen Fenster und rauchte eine letzte Zigarette, als es leise an seiner Zimmertür klopfte. Verwundert, aber auch beunruhigt stand er auf.
»Herr Rogge?« Trotz des Flüsterns erkannte er Gertrud.
»Moment.« Was sollte das denn?
Doch sie schien gar nicht daran zu denken, dass er sie missverstehen könnte, sondern legte erleichtert los: »Gut, dass Sie noch nicht schlafen.«
»Wollen Sie hereinkommen?«
»Gerne.« Gertrud huschte ins Zimmer und wirbelte herum: »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«
»Wofür denn das?«
»Dass sie die - die Sache mit Monika nicht erwähnt haben.«
Ihm ging ein Licht auf: »Thelen weiß nicht, dass Monika ...?«
»Nein. Er darf es auch nie erfahren. Sonst rastet er aus.«
»Ich werde schweigen!«, versprach er großzügig und sofort verwandelte sich der gespannte Zug in ihrem Gesicht.
»Ich hab Blut und Wasser geschwitzt«, bekannte Gertrud. »Das hätte ich Ihnen vorher sagen müssen.«
»Es ist ja alles gut gegangen und jetzt weiß ich Bescheid.«
»Fein.«
»Sagen Sie mal, Gertrud, wenn Sie schon hier sind: Diese Andrea Wirksen, die da mit dem Brockes rumgeknutscht hat, wer ist das?«
»Andrea?« Sie runzelte die Stirn, ihr Blick wurde finster. »Die treibt’s mit allen.«
»Auch mit Benno Brockes?«
»Das war mal, Benno will jetzt nichts mehr von ihr wissen.«
»Und sie? Hat sie was für Benno übrig?«
»Ja, scheint so«, entgegnete Gertrud so zaghaft, dass er aufhorchte. »Manchmal hängen sie wie die Kletten zusammen und dann wieder kracht’s, dass man fürchtet, er schlägt sie tot.« Dabei strich sie unwillkürlich mit beiden Händen über ihren Busen und Körpersignale verstand er besser als sie.
»Der Benno ist hinter Ihnen her, was?«
»Klar«, erwiderte sie, wieder unbefangen. »Benno ist hinter jeder Frau her, und wenn er sie herumgekriegt hat, wirft er sie auf den Müll.«
»Was macht er beruflich?«
»Fahrer bei der Molkerei. So öde wie der ganze Kerl.« Bis jetzt hatte sie spontan geantwortet, aber weil ihm das leise Zögern vor ihren letzten Worten nicht entgangen war, verkniff er sich alle weiteren Fragen.
»Wegen Monika müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen.«
»Danke. Schlafen Sie gut.« Auch nach einem langen, schweren Tag konnte Gertrud nicht langsam gehen, sondern sie stürmte aus seinem Zimmer.
VIII.
»Darf ich vorstellen? - Dieter und Dorothee Wenzel. Gunter von Neumühl.« - »Sehr erfreut.« - »Angenehm.« - »Dieter und Doro haben unser Haus neu eingerichtet.« - »Mein Kompliment.«
Christa Steinberg, die Dame des Hauses, strahlte vor Begeisterung. Schon jetzt stand fest, dass die Party ein großer Erfolg werden würde, an die hundert Gäste, die sich glänzend amüsierten, waren der Einladung gefolgt. Sogar die Presse war gekommen, zwei Stadtverordnete gaben sich die Ehre, der Oberbürgermeister hatte einen riesigen Blumenstrauß geschickt und sich wegen dringender Amtsgeschäfte entschuldigt, Oberstleutnant von Neumühl strich zwar noch wie ein gereizter Tiger durch die Räume, aber seine Stimmung würde sich bessern, sobald Marga eingetroffen war.
Wenzel trennte sich von seiner Frau und steuerte eine Gruppe älterer Damen an, die offenkundig eifrig über die Veränderungen in der Villa Steinberg ratschten. Der Auftrag hatte ihn viel Schweiß gekostet, Christa Steinberg liebte es protzig, sodass er viel Zeit und Diplomatie hatte aufwenden müssen, um sie zu seinen Vorstellungen zu bekehren. In ein hypermodernes Haus mit viel Glas und Holz passten nun mal keine grüngoldenen Tapeten mit Zierkordeln, auf die sie sich so gefreut hatte. Kein falsches Biedermeier. Während er die Hausfrau bearbeitete, hatte Dorothee den Hausherrn bei guter Laune gehalten, was, wie sie klagte, ihrer Leber schwer geschadet hatte; denn Emil Steinberg beherzigte den dummen Spruch, den er einmal von einem Balten gehört hatte: »Von den leichten Tischweinen ist mir der Cognac noch der liebste.«
Weinert hatte den Wenzels eine klare Weisung erteilt: »Ihr lasst euch nicht auf politische Diskussionen ein. Wenn’s losgeht, sondert ihr ein paar markige Sprüche ab, die Gewerkschaften sind der Untergang Deutschlands, warum sollen Menschen, die sich nicht einmal selbst ernähren können, auch noch wählen dürfen, aber danach haltet ihr die Klappe, verstanden?«
Dieter und Dorothee hatten eifrig genickt. Für ihr Einrichtungsstudio D & D fanden sie Auftraggeber eher bei Arbeitgebern denn Arbeitnehmern. Den Teufel würden sie tun, sich den mühsam errungenen Zutritt zu potenziellen Kundenkreisen durch dezidierte politische Äußerungen zu verschütten.
»Steinberg ist ein Reaktionär, aber viel zu gewitzt, um aktiv zu werden. Den dürft ihr vergessen, okay?«
»Kapiert.«
Ob die Wenzels wirklich kapiert hatten, warum er sie einsetzte? Mit großen Bauchschmerzen übrigens, er traute beiden nicht. Dieter war ein Schönling, charmant und gewissenlos, gerissen, aber nicht intelligent, vor hundert Jahren hätte er als Gigolo wohl ein bequemes Leben geführt. Aus Doro wurde Weinert nicht recht schlau, sie hatte ein hübsches Gesicht mit verhangenen Augen und eine biegsame Figur, die sie gern in engen Kleidern vorführte; das Repertoire unverbindlicher Smalltalk-Sprüche beherrschte sie mit einer Geläufigkeit, die Weinert an eine Prostituierte für gehobene Ansprüche erinnerte. Vorjahren hatten sie sich dem Verfassungsschutz angedient und seitdem magere, aber korrekte Informationen geliefert, doch Weinert hätte nie und nimmer bei einer so großen Sache auf die Wenzels zurückgegriffen, wenn ihm ein anderes Paar zur Verfügung gestanden hätte. Sein Misstrauen ging so weit, dass er sie sogar über die Zielperson täuschte: »Achtet auf den Oberstleutnant von Neumühl. Aber Vorsicht, der Knabe wittert Neugierige zehn Meilen gegen den Wind.«
Doro Wenzel plauderte mit einem Weißhaarigen, der Millimeter um Millimeter näher rückte, was sie nicht zu bemerken schien, und verzückt auf ihr enges Oberteil mit dem weiten Ausschnitt schielte. Dieser Oberstleutnant könnte sie auch außerdienstlich interessieren, aber leider war vor zehn Minuten eine junge Frau hereingetrampelt, auf die er mit der Heftigkeit einer Kavallerie-Attacke losgegangen war. Rein äußerlich passten sie gut zusammen, beide groß und mager, und wenn er wirklich so gerne ritt, wie ihr Christa Steinberg anvertraut hatte, musste ihn das Pferdegesicht der strubbeligen Brünetten entzücken. Heimlich seufzte Doro und glitt ihrerseits näher an den alten Lüstling heran. Das war ein erprobter Trick; denn jetzt musste er sich entscheiden, wie weit er die Annäherung treiben wollte, und sie hatte richtig kalkuliert, er wurde nervös, stammelte etwas von alten Freunden und entfernte sich hastig.
Dieter Wenzel erreichte endlich unauffällig die Gruppe um den Hausherrn. Steinbergs Nase glänzte schon rötlich, er hatte sie mit einer halben Flasche Cognac begossen und den Zustand erreicht, alle Welt zu lieben, ausgenommen jene Mitmenschen, die ihm seinen geschäftlichen Erfolg nicht gönnten. Wenn er glücklich schwieg, war Steinberg zu ertragen.
»Nein, davon habe ich auch einmal geträumt, Herr Nehrling. Aber wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? Sie fangen klein in einem Ortsverein an, müssen Kassierer und Schriftführer spielen, die Parteisporen verdienen, bis Sie sich zur Wahl des Ortsvereinsvorsitzenden stellen dürfen. Dann ackern Sie wieder mehrere Jahre, bis Sie den Kreis Vorsitz erreicht haben. Wohlgemerkt, mit viel Glück, denn nebenbei verdienen Sie als anständiger Mensch Ihre Brötchen, während die Pfiffigeren, die schon in der Schule mit ihrer Parteikarriere begonnen haben, die Funktionärsposten besetzen und über viel Zeit verfügen, sich bei den Parteifreunden lieb Kind zu machen.«
»Gut, das alles bestreite ich nicht, aber Sie geben doch zu, dass wir Unternehmer uns engagieren müssen. Sonst sitzen in den Parlamenten nur noch Berufspolitiker, die keine Ahnung
von der Wirtschaft haben und unsere Sorgen und Nöte gar nicht kennen.«
»Engagieren? - Ja, natürlich. Aber müssen es die Parteien sein?«
»An denen führt nun mal kein Weg vorbei, Herr Schönborn«, warf ein kleiner Brillenträger ein.
»Das eben bezweifele ich mittlerweile. Es gibt Verbände, Vereine, Presse und Organisationen. Man muss nicht unbedingt die Parteileiter erklimmen, um oben erschöpft festzustellen, dass der Misthaufen noch höher ist.«
Das beifällige Gelächter ließ Wenzel aufhorchen. Auch Nehrling stimmte ein.
»Wissen Sie, was ich manchmal denke?« Schönborn schaute in die erheiterte Runde. »Diese Flut von Gesetzen und Vorschriften, Regelungen und Ausnahmebestimmungen, alle am grünen Tisch entworfen, signalisieren Angst. Angst unserer Staatsdiener vor der Freiheit, vor individueller Tüchtigkeit. Diesen Sesselhockern fehlt es an Initiative, Selbstbewusstsein, Vertrauen in das, was sie ständig predigen, deshalb wollen sie möglichst alles kontrollieren. Ängstliche Demokraten - ist das nicht ein Widerspruch in sich?«
Wenzel lächelte zustimmend. Auf sein Gedächtnis war Verlass, er konnte ganze Unterhaltungen wörtlich wiederholen, und was dieser Schönborn da äußerte, würde Weinert interessieren.
»Manchmal erlaube ich mir den ketzerischen Gedanken, dass wir bald die Demokratie vor denen schützen müssen, die sich zu ihren Gralshütern aufgeschwungen haben.«
»Oho!« - »Hört, hört!« - »Sie lassen aber auch nichts aus!« Lautes Lachen, aber auch leiser Protest, Schönborn blinzelte siegesgewiss in die Runde. Seine unbändige Lust am Provozieren war allgemein bekannt, aber Schönborn registrierte auch zwei, drei forschende Blicke. Steinberg winkte aufgekratzt einer der hübschen jungen Damen, die sich mit vollen Tabletts durch die Reihen seiner Gäste schoben.
»Und das, meine Herren, nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen demokratischen Europa! Nicht der Euro wird regieren, sondern Paraneuroa.« Schönborns harter Ton wurde durch sein charmantes Grinsen abgemildert.
Dieses zweibeinige Pferd!, dachte Doro erbost. Nicht die geringste Hoffnung, den Oberstleutnant in ein Gespräch zu verwickeln; er marschierte draußen im Garten auf und ab, diese Marga an seiner Seite und das Ganze im militärischen Gleichschritt. Es fehlte nur noch, dass sie die Hacken zusammenschlugen, wenn sie kehrtmachten!
»Sie passen gut zusammen, nicht wahr?«
Doro fuhr herum, sie hatte die Frau nicht kommen hören, die sich neben sie gestellt hatte und stillvergnügt das Paar betrachtete. »Er reitet und sie züchtet Pferde.«
»Wirklich?« Wenn Doro schon mit ihm nicht reden konnte, sollte sie wenigstens Informationen sammeln.
»O ja. Mit viel Erfolg übrigens.«
»Es sieht aber nicht so aus, als unterhielten sie sich ausschließlich über Pferde.«
»Gut möglich. Georg - der Oberstleutnant weiß sehr genau, dass es auch hübsche zweibeinige Geschöpfe gibt.«
»Die sich freilich nicht züchten lassen.«
»Nein. Wenigstens nicht gegen ihren Willen. Ich heiße übrigens Inge Weber.«
»Angenehm, Dorothee Wenzel.«
»Dorothee Wenzel... Ach, Sie sind D & D?«
»Ein Teil davon.«
»Mein Kompliment. Die Steinbergs können stolz auf ihr Haus sein.«
»Vielen Dank.« Eine Frau, die nicht viel aus sich machte, urteilte Dorothee geringschätzig. Aber ganz nett. Und eine gute Tarnung dafür, dass sie weiterhin in den Garten schauen und das Paar beobachten konnte, das äußerst lebhaft diskutierte.
Weinert las den Bericht zwei Tage später und hatte die Blätter schon vor Wut zusammengeknüllt, als er sich besann, sie glättete und in die Akte heftete. Was Dieter Wenzel über Achim Schönborn rapportierte, war längst bekannt, und diese dumme Gans von Doro hatte überhaupt nicht geschnallt, mit wem sie da ins Gespräch gekommen war. Stattdessen kaum kaschierte Anspielungen auf Georg von Neumühl und Marga; er musste den offensiven Offizier einmal anrufen und ihn warnen, dass man ihm eine Beziehung zu Margarete von Wengern andichtete. Einem Kollegen vom MAD half er gerne und ganz und gar nicht uneigennützig.
Also ein Schuss in den Ofen! Und den musste er zum Teil auf sein eigenes Konto verbuchen, weil er Informationen zurückgehalten hatte.
Samstag, 16. September
Die schwarze Schönheit brachte Rogge den Kaffee und sah ihn zum ersten Mal offen an. »Guten Morgen, Herr Rogge.«
»Guten Morgen, Frau Lohse.«
Seine private Neugier hielt sich in Grenzen, aber Rogge hätte doch gern einmal Mäuschen gespielt, um zu hören, wie die Eheleute miteinander umgingen. Die Moralvorstellungen auf einem Dorf mochten noch fester, rigider sein als in der Stadt, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau ihres Kalibers sich mit einem widerlichen Grobian wie Olli verheiraten ließ, nur weil sie ein Kind erwartete. Vor hundert Jahren - vielleicht, doch nicht heute. Ob Gertrud ihm dieses Rätsel erklären konnte?
Der Motor hustete und protestierte, nach so langer Ruhezeit wollte er erst nicht anspringen, Rogge trat der Schweiß auf die Stirn. Er fuhr nicht über die Feltenwiese, sondern benutzte brav die reguläre Autobahnauffahrt Dreschbach/Bellhorner Berge.
Die Freifrau bestaunte ihn wie den Mann vom Mond: »Dich gibt’s noch?«
»In voller Größe und Schönheit. Ich wollte nur meinen Glückwunsch abladen.«
»Für das Urteil gegen Gillbrecht? Dann komm mal rein.«
Im Wohnzimmer umkreiste sie ihn und lobte: »Das trifft sich gut. Du hast zu- und ich hab abgenommen.«
»Was?«
»He? Bist du blind für die schlanke Schönheit, die vor dir steht?«
»Ich will nicht bestreiten, nicht einmal anzweifeln, dass du abgenommen hast, aber ich soll zugenommen haben?«
»Und ob. Es steht dir gut!«
»Dir auch. Aber ansonsten spinnst du wie immer.«
»Nix. Dieser Rock hat zwölf traurige Monate im Kleiderschrank verbracht, weil ich den Nähten und dem Reißverschluss nicht mehr trauen konnte, und nun sieh selbst!«
»Er sitzt so, dass man ihn gerne beseitigen möchte«, antwortete er listig, aber sie schwenkte den ausgestreckten Zeigefinger vor seiner Nase hin und her: »Erstens kommst du zu spät, ich habe eine Verabredung, und zweitens mag ich keine anzüglichen Komplimente.«
Rogge durfte den Verweis nicht schweigend wegstecken: »Alle Menschen werden prüder.«
»Dichtete Schiller und übersah auf der Korrekturfahne den Druckfehler.«
Dass Rogge es vier Tage im Stockauer Bären ausgehalten hatte, beeindruckte Dörte, aber bei der Begründung für seinen Recherchenurlaub schüttelte sie zweifelnd den Kopf: »Das ist verdammt weit hergeholt, lieber Jens.«
»Kein Widerspruch. Aber alles andere hat Grem wirklich gründlich untersucht. Bis eben auf diesen Punkt: Kann es Zeugen auf dem Parkplatz gegeben haben?«
»Und du hoffst...«
»Hoffen ist der richtige Ausdruck.« Jetzt schwenkte Rogge seinen Zeigefinger vor ihrer Nase: »Alles verrate ich nicht, Frau Staatsanwältin.«
»Aber hoffentlich, wie lange du da noch rumhängen willst.«
»Erst mal die nächste Woche noch. Wenn das Wetter so schön bleibt.«
Die Unterredung mit Simon verlief nicht so erfolgreich, wie Rogge sich das vorgestellt hatte. Der Kriminalrat musterte ihn kühl und hörte wortlos zu; dass Rogge sich einfach so für eine Woche verabschiedet hatte, wurmte ihn.
»Sie haben mir den Fall aufgedrängt.«
Nach einer Weile zuckte Simon mit den Schultern.
»Ich decke auch nicht immer alle Karten gleich auf, aber mich stört, dass Sie nicht einmal zugeben wollen, dass Sie noch Karten in der Hinterhand haben.«
»Das vermuten Sie nur«, berichtigte Simon höflich.
Darauf antwortete Rogge nicht und für drei lange Minuten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Beide beherrschten sie die Kunst, den Mund zu halten und sich nicht nervös machen zu lassen. Im Präsidium war Simon immer äußerst korrekt gekleidet, Anzug, einfarbiges Hemd und dezente Krawatte; mit Sakko und Hose fiel er schon auf. Nun hatte Rogge an der Tür geblinzelt: Den Kriminalrat in Kordhosen und Sweatshirt hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Auch nicht, dass sein Chef einem Hobby frönte. Aber Simon hatte ihn ohne jede Erklärung in den Keller des Reihenhauses geführt, wo eine riesige Modelleisenbahn aufgebaut war, an der er gerade bastelte. Die Platte für den großen Rangierbahnhof füllte fast einen ganzen Raum und aus diesem Raum liefen Schienen in die Nachbarkeller, auf schmalen Brettern montiert, die mit Winkeleisen an den Wänden befestigt waren. Das Ganze wurde digital gesteuert, Simon hatte an einer Platine gearbeitet und mit einem leisen Seufzer den Lötkolben ausgeschaltet, auf den er immer wieder sehnsüchtig schielte, während Rogge seine Geschichte vortrug und seinen Wunsch äußerte: »Das ist nicht mehr unser Bezirk und Sie müssten klären, wer den Einsatz übernimmt.«
Die Eisenbahn imponierte Rogge. In der Anlage mussten einige zehntausend Mark stecken.
»Also gut«, urteilte Simon schließlich knapp. »Wenn Sie meinen, es sei einen Versuch wert ...«
»Ich möchte noch die nächste Woche im Bären bleiben. Auf der Feltenwiese werde ich mich nicht mehr blicken lassen, die Amateurprostituierten interessieren nicht.«
»Aber ihre Freier ...«
»Nur so weit, wie man sie befragen könnte.«
»Schön. Sie vermuten Hehlerei?«
»Wenn dieser Junge von dem Ökohof nicht übertrieben hat ja. Aber auch das raubt mir nicht den Schlaf.«
»Mit anderen Worten - Sie glauben, dass diese Inge Weber nicht zufällig auf diesem Parkplatz gestrandet ist?«
»Glauben wäre zu viel gesagt. Aber ich akzeptiere Grems These von der zufälligen Strandung nicht mehr ohne Vorbehalt.«
»Eine solche Formulierung würde Ihre Staatsanwältin begeistern«, kommentierte Simon trocken. »Aber nach meiner Aktenkenntnis scheint Inge Weber nicht in das Schema einer Gelegenheitsnutte zu passen.«
»Nein, das unterstelle ich auch nicht. Aber was, wenn sie Zeugin einer Straftat geworden ist?«
»Sicher, möglich ist fast alles. Aber die Amnesie ist damit noch immer nicht erklärt.«
»Ich bin noch keine Woche dran, Herr Simon.«
Der Einwand vergrätzte den Kriminalrat, weil er nicht widersprechen konnte. »Na schön, ich will sehen, was ich tun kann.«
»Gut, danke, bis zum nächsten Wochenende.«
Oben begegnete Rogge Frau Simon, die ihm erfreut die Hand entgegenstreckte: »Ein seltener Gast. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut, Frau Simon.« Unwillkürlich lächelte er, sie war eine fröhliche Frau mit viel Humor, die wahrscheinlich verhindert hatte, dass aus ihrem ernsten Ehemann ein mürrischer Muffel wurde.
Die Villa in Steinfurth hatte Rogge schon bei seinem ersten Besuch voller Neid betrachtet. Der Bauherr hatte es großzügig geliebt, aber offenbar mit Hilfe eines guten Architekten vermieden, dass der Bau großkotzig ausfiel. Inzwischen verbarg sich das Haus hinter dichten Sträuchern und hohen Bäumen; unten auf der Straße, am Tor, das mit einer Fernsehkamera gesichert war, erkannte man nur die Auffahrt und die Doppelgarage. Um den riesigen Garten zogen sich hohe Mauern und Zäune, und Rogge hatte Grems zynischer Interpretation zugestimmt: Ein Mann wie Schönborn musste sich vor seinen zahlreichen Feinden schützen, die er aufs Kreuz gelegt hatte. Oder betrogen, wie immer wieder gemunkelt wurde, aber gerichtsfeste Beweise dafür waren nie gefunden worden. Für Schönborns Ehrlichkeit und Integrität wollte sich keiner verbürgen, aber die hässlichen Gerüchte hatten sich nie bis zu einem konkreten Verdacht, geschweige denn zu einem Ermittlungsverfahren verdichtet.
Rogge klingelte und schaute zur Kamera hoch. Nach dreißig Sekunden fragte eine Männerstimme: »Ja, bitte?«
»Guten Tag, mein Name ist Rogge, Kriminalpolizei, Ich möchte gerne mit Frau Weber sprechen.«
Nach einer halben Minute knackte der Lautsprecher wieder: »Kommen Sie.«
Zwei Riegel schnurrten mechanisch zur Seite und Rogge stieß das Tor auf. Das hellgrau gestrichene Haus mit den weiß lackierten tiefen Fenstern lag höher als die Straße und er erinnerte sich von seinen früheren Besuchen, dass der Garten auf der Rückseite des Hauses den ganzen Südhang der kleinen Erhebung einnahm. Achim Schönborn stand in der Tür und lächelte spöttisch: »Wir haben Sie schon früher erwartet.«