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»Dann is ja gut.« Und weg waren sie.
»Der Ritterschlag«, belehrte Sibylle Wagner Rogge und amüsierte sich.
Der restliche Tag verging wie im Fluge, und am meisten erstaunte und rührte ihn sogar, dass ihm die Kinder freiwillig die Hand gaben, als er sich verabschieden musste.
»Sie waren eine große Hilfe«, dankte die Lehrerin ernsthaft und Rogge verbeugte sich: »Das vernimmt man gerne.«
Gertrud schien ein wenig beleidigt: »Kein Essen heute?«
»Nein, danke, ich musste über Mittag eine Riesenportion Erbsensuppe mit Würstchen essen.«
»Nicht doch eine Kleinigkeit? Die Chefin hat falschen Hasen gebraten, der ist wirklich gut.«
»Also eine winzige Portion Bärenhase und einen gemischten Salat.«
Zufrieden spitzte sie die Lippen und wirbelte davon. Der Bär war mittelprächtig besucht, die schwarze Schönheit stand hinter dem Tresen und zapfte, Olli schien sich einen freien Abend zu gönnen. Zwei aus Bennos Bande hockten rechts auf der Bank und ödeten sich an, den einen zierte ein prächtiger, wenn auch schon schmuddeliger Kopfverband und Rogge musste an die Diskoschlägerei vom Wochenende denken.
Der falsche Hase schmeckte wirklich ausgezeichnet und Gertrud freute sich über das Lob: »Ich richt's der Chefin aus.«
Was sie auch sofort tat, die Schwarzhaarige suchte seinen Blick und verneigte sich ungezwungen. Was Rogge brav erwiderte und sich wieder einmal fragte, was sie über ihr Leben mit Olli denken mochte. Wenn sie lächelte, war sie verführerisch schön.
Olli erschien gegen 23 Uhr und löste seine Frau am Zapfhahn ab. So weit es ihm überhaupt möglich war, eine Stimmung zu zeigen, wirkte er heute selten zufrieden, fast aufgekratzt; er verzichtete sogar darauf, sich mit einer Hand abzustützen.
»Tja, Gertrud, wir müssen uns auch auf Wiedersehen sagen. Ich fahre morgen Vormittag.«
»Die Chefin hat’s schon erzählt.« Gertrud nickte betrübt.
»Ich komm bestimmt noch einmal vorbei.«
»Ja, sicher«, sagte sie zögernd und musterte ihn verlegen, bevor sie sich vorbeugte und hauchte: »Können wir - ich meine, ich würde Sie gern noch - also, haben Sie nachher noch Zeit für mich?«
»Ja, natürlich«, entgegnete Rogge ruhig.
»Fein, ich komm dann zu Ihnen.« Sie huschte davon, und als er ihr nachsah, fing Rogge von Olli einen wütenden, gehässigen Blick auf, der ihm zu denken gab. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Gertrud einen Moment so vertraulich mit Rogge gesprochen hatte.
Der Wirt merkte, dass Rogge ihn beobachtet hatte, und schaute ihn ausdruckslos an. Dem Kerl würde ich nicht gern allein im Dunkeln begegnen, schoss Rogge durch den Kopf.
Das Telefon hörte er, als er sein Zimmer aufschloss.
»Rogge.«
»Hei, Chef, hier spricht Kili. Wir erwarten dich dringend auf dem Revier in Herlingen.«
»Wir?«
»Simon ist auch da. Beeil dich!«
Nachdenklich legte Rogge auf. Wenn Simon und Kili nach Herlingen gefahren waren, musste es wichtig sein. Wichtig genug, um sich mit drei Gläsern Bier im Bauch ans Steuer zu setzen.
Rogge parkte direkt vor der Wache und Wibbeke hielt ihm die Tür auf. »Sie werden mir eine sehr lange Geschichte erzählen müssen«, bemerkte Wibbeke trocken.
»Meinen Sie?«
»Nein, das weiß ich. Der Besuch sitzt in meinem Zimmer.«
Im Bereitschaftszimmer füllte eine Streifenwagenbesatzung Formulare aus. Der Schichtleiter löste ein Kreuzworträtsel, ein Radio dudelte kaum vernehmbar. Die meisten Lampen wären ausgeschaltet und der düstere Raum wirkte kalt und abweisend.
Als Rogge die Tür zu Wibbekes Zimmer öffnete, gähnte Kili, dass seine Gelenke knackten, und Simon schreckte aus einem Halbdusel hoch. Der Besuch entpuppte sich als ein spindeldürres Männchen, das vor Unruhe schlotterte. Seine wässrigen Äuglein flitzten hin und her, während er sich nervös die Handflächen an der Hose trockenrieb. Die grauen Haare waren dünn geworden, Rogge schätzte ihn auf zweite Hälfte fünfzig und wunderte sich, dass man ihn wegen dieses Würstchens hierher zitiert hatte.
»Hans-Peter Eckard, 57 Jahre alt, verheiratet, wohnhaft Neustadt an der Eltz, Wiesenstraße 122, Lagerist bei der Firma Elektro-Markt in Neustadt«, leierte Kili herunter.
»Guten Abend«, sagte Rogge leise und Eckard zog den Kopf ein.
Simon schlenkerte seinen eingeschlafenen Fuß, und sobald Wibbeke sich zu Eckard gesetzt hatte, verzogen sie sich zu dritt ins Nebenzimmer, Kili schloss die Tür.
Simon verbreitete schlechte Laune: »Wir haben ihn heute Abend geschnappt, auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese.«
Rogge hockte sich auf eine Tischkante und zog seine Zigaretten hervor. Deshalb also!
»Er war dort mit einem anderen Mann verabredet.«
»Der euch entkommen ist«, flachste Rogge, aber das bekam Simon in die falsche Kehle, er schnarrte vor Wut: »Sparen Sie sich Ihre witzigen Bemerkungen. Der andere wartete bereits mit einem Kombi in dem Wald hinter dem Parkplatz, und weil es noch hell genug war, haben wir sein Kennzeichen entziffern können.«
»Und über Funk abgefragt«, warf Kili schnell ein; die Spannung zwischen den beiden Männern, die sich sonst so gut verstanden, irritierte ihn. »Der Kfz-Halter heißt Anton Lohse, Stockau, Hauptstraße 29.«
»Olli!« Verblüfft schüttelte Rogge den Kopf, was Simon zu besänftigen schien, jedenfalls fuhr er in halbwegs normalem Ton fort: »Und weil mir Ihre Vorzimmermedusa mitzuteilen geruhte, dass Sie sich in einer Gastwirtschaft Zum Bären, Stockau, Hauptstraße 29, einquartiert haben, habe ich angeordnet, den Mann laufen zu lassen. Um Ihnen Schwierigkeiten zu ersparen.«
»Danke«, murmelte Rogge.
»Dieser Eckard kam mit seinem Lieferwagen auf den Parkplatz gefahren, ist in den Wald eingebogen und dann haben die beiden Männer umgeladen.«
»Hinter dem großen Ilexstrauch«, riet Rogge und Simon räusperte sich: »Sie wissen wieder mal mehr?«
Er wehrte ab: »Ich habe nur Ihre Anweisungen befolgt, Herr Rat.«
»Ja, sicher. Botanisiert, wie? Kartons mit Elektrogeräten.«
Ein Lagerist bei einem Elektromarkt, ja, da blieb nicht viel zu rätseln.
»Der Lohse ist dann mit seinem Kombi aus dem Wald herausgefahren, über eine Wiese hinunter ins Tal.«
»Sie heißt Feltenwiese und hat dem Parkplatz den Namen gegeben«, erläuterte Rogge.
Kili atmete durch: »Diesen Eckard haben die Kollegen dann auf dem Parkplatz hops genommen.«
»Für das Umladen gibt es Zeugen?«
»Vier Beamte, ihre Aussagen sind bereits protokolliert. Und genügend Fotos, die Filme sind schon im Labor.«
»Fein. Ich würde Eckard gerne etwas unter Druck setzen.«
»Von mir aus!« Simon starrte einen Moment zur Decke. »Ich verdufte.«
»Ein fester Wohnsitz - kann ich ihn laufen lassen?«
»Natürlich. Sonst liegt nichts gegen ihn vor, sagt der Computer.«
»Und wegen der Hehlerware ...«
»Soll Wibbeke erledigen. Das ist sein Revier. Gute Nacht.«
»Der hat es aber eilig!«, knurrte Kili, vorsichtshalber so leise, dass Simon nichts hörte.
Rogge grübelte. Für Simons hastigen Abgang gab es nur eine vernünftige Erklärung: Die ganze Geschichte sollte so lange wie möglich inoffiziell, auf dem kleinen Dienstweg, behandelt werden. Wogegen Rogge nichts einzuwenden hatte.
Eckard schwitzte vor Angst, er konnte einem Leid tun, aber Rogge musste die Gelegenheit nutzen: »Tja, da haben Sie sich ja ganz schön in die Scheiße geritten, Herr Eckard.«
»Was soll das heißen, wieso hab ich mich in etwas ...«Er war immer langsamer geworden, weil Rogge energisch den Kopf schüttelte: »Bitte kein Theater jetzt! Wir haben Zeugen, dass Sie Diebesgut in Ollis Wagen umgeladen haben, wir sind gerade dabei, Olli auffliegen zu lassen, an Ihrer Stelle würde ich ganz schnell und ganz brav auspacken.«
Wibbeke stand auf: »Ich besorg mal Kaffee, was meinen Sie?«
»Eine sehr gute Idee!«, pflichtete Kili bei. »Ich helfe Ihnen.«
Rogge schwieg eine Minute, in der sich Eckards Gesicht grau verfärbte. »Nun machen Sie schon! Wir werden Ihren Arbeitgeber verständigen müssen, das ist Ihnen doch klar.«
Daran hatte Eckard noch gar nicht gedacht, erst jetzt wurde ihm das ganze Elend in seinem vollen Ausmaß bewusst und nun sprudelte es nur so aus ihm heraus. Den Olli habe er auf dem Rennplatz kennen gelernt, na ja, wie man so ins Gespräch kommt, wenn die Pferdchen immer anders einliefen, als man getippt hatte. Geld konnten sie beide gebrauchen, beim Bier hatte Eckard Olli erzählt, wo er arbeitete und wie lässig diese Reklamationsfälle gehandhabt würden. Olli hatte beiläufig bemerkt, dass er viele Bekannte und Gäste habe, die sich gerne mal einen neuen CD-Spieler leisten würden, aber mit den Mäusen seien sie halt auch klamm. Vielleicht könne man sich ja gegenseitig helfen.
»Und wann war das?«
Vor drei Jahren. Bis jetzt sei ja auch alles glatt gelaufen. Wenn Eckard etwas beiseite geschafft hatte, rief er Olli an und sie trafen sich in dem Wald hinter dem Parkplatz. Ware gegen Geld, Eckard fuhr auf die Autobahn und über die B 111 gleich nach Hause zurück. Manchmal packte ein großer Mann mit an, dem man den Mund zugenäht hatte, aber Olli hatte nur gebrummt, der wüsste Bescheid und wäre in Ordnung.
»Wie oft haben Sie sich getroffen?« Rogge fragte gleichmütig und Eckard räusperte sich ausgiebig.
»Ein-, zweimal im Monat«, krächzte er.
Wibbeke und Kili hatten tatsächlich Kaffee aufgetrieben und Rogge lobte: »Herr Eckard ist sehr kooperativ.«
»Wie uns das freut«, knurrte Wibbeke. Einer musste ja den Part des hässlichen Bullen übernehmen und Wibbekes Uniform beeindruckte den Kleinen.
Nach der Pause beugte Rogge sich vor: »Also immer auf der Feltenwiese?«
»Ja.«
»Und das ist immer glatt gegangen?«
»Nei-ein.« Eckard schluckte verzweifelt.
»Nein? Warum denn nicht?«
»Manchmal war da zu viel Betrieb.«
»Abends? Auf dem Parkplatz? - Das glauben Sie doch selber nicht!«
Doch, bestimmt. Nicht direkt auf dem Parkplatz, auch nicht im Wald, aber auf der Wiese dahinter. Mein Gott, was da herumgevögelt wurde - da trieb sich so eine Dorfschönheit herum, eine richtige kleine Hure, die hatte Freier von wer weiß woher, manchmal hatte Eckard eine Stunde oder länger warten müssen, bis sie ihre Kunden abgefertigt hatte und die Luft rein war» Einige Male hatte sie so lange auf dem Parkplatz gesessen, weil sich wohl ein Freier verspätet hatte, dass Eckard weitergefahren war und Olli über Handy abgesagt hatte; Olli schimpfte auch immer über diese läufige Hündin, die ihn wohl kannte. Olli traute sich deshalb erst über die Wiese zu fahren, wenn er sich vergewissert hatte, dass auf der Wiese kein Wagen mehr parkte und die kleine Hure ins Dorf zurückgegangen war. Aber das war zum Glück nicht oft passiert.
Rogge erhaschte Wibbekes Blick und winkte unauffällig ab.
»Na schön, Herr Eckard, dann beschäftigen wir uns mal mit einem bestimmten Monat. Mit dem September im vorigen Jahr.«
Wibbeke schaltete sofort, Kili brauchte einige Sekunden, bis er glänzende Augen bekam, also hatte er die Akten auf Rogges Schreibtisch gelesen.
»Was soll da gewesen sein? Im September?«
»Am 15. September ist auf dem Parkplatz Feltenwiese eine Frau gefunden worden ...«
Er brach ab, weil Eckard eine heftige Bewegung machte: »Die ihr Gedächtnis verloren hat?«
»Ja, woher wissen Sie das?«
»Aus der Zeitung. Und später ist sie im Fernsehen gewesen.«
»Genau die. Also: vorigen September.«
Bei Rogges drohendem Ton rang das Männchen nach Luft: »Was hab - denken Sie etwa - damit hab ich doch nichts zu tun.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Das soll ich Ihnen glauben?«
Wibbeke fuhr grob dazwischen: »Der Kerl lügt doch, Herr Kollege.«
»Moment mal, ich lüge nicht, im September bin ich gar nicht - im September war ich im Urlaub. Mit meiner Frau. In der Eifel. Sie können sie fragen.« Vor Erregung begann er zu stottern und zu sabbern.
»Pff. Seine Frau. Die wird uns Märchen erzählen, dass sich die Balken biegen.«
»Nein, warum denn - sie weiß doch gar nichts von meinen - warum sollte sie - wir waren wirklich in der Eifel.« Jetzt jaulte Eckard vor Verzweiflung, schaute flehend von einem zum anderen.
Rogge drohte leise, sodass der Kleine erneut zusammenfuhr: »Es gibt Zeugen, Herr Eckard.«
»Die können mich doch gar nicht gesehen haben, ich war doch gar nicht da!«
»Wer denn sonst?«
»Das weiß ich doch - vielleicht dieser Hinkende. Oder dieser Kerl mit dem großen Mercedes.«
»Ach, jetzt ist es auf einmal ein Mercedes«, höhnte Rogge, noch wie betäubt von dem Wort Hinkender. Wer das gewesen war, konnte er sich gut vorstellen.
»Ja, ein S 500 Coupé, blau metallic.«
»Toll!«, brüllte Kili los. »Was Sie nicht alles im Dunkeln sehen. Und das Kennzeichen?«
»H-PE und drei Ziffern, aber die hab ich mir nicht gemerkt.« Unter Kilis gespielter Wut hatte Eckard sich regelrecht geduckt; Wibbeke hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»Aber die Buchstaben, die hat er sich gemerkt. Für wie dumm halten Sie uns eigentlich?«
»Es sind doch die Anfangsbuchstaben von meinem Namen!«, schrie der Kleine in heller Verzweiflung.
»Seine Initialen!«, jaulte Kili auf und schien zusammenzubrechen. »Nein, ich halt’s nicht mehr aus.«
»Mach du mal weiter, Kili!«, befahl Rogge düster und winkte Wibbeke. »Wir gehen ein wenig vor die Tür. Und wenn er nicht reden.will ...«
Wibbeke nahm eine Zigarette und fluchte leise: »Den Hinkenden kennen Sie?«
»Höchstwahrscheinlich Benno Brockes. Und die kleine Hure ist Andrea Wirksen, ich hab sie bei ihrem Geschäft beobachtet.«
»Und Sie glauben, Benno oder Andrea haben etwas gesehen?«
»Ich weiß nicht, Herr Wibbeke. Irgendetwas ist da faul an der ganzen Geschichte. Es kann mit dieser Frau zu tun haben, aber vielleicht auch mit einer ganz anderen Sache ...«
»Benno und Andrea, das ist ein Pärchen ...«
»Ja, schon, aber was ist mit Ollis Hehlerei? Da läuft was unter der Decke, Gertrud scheint zu wissen, um was es sich handelt, heute Abend wollte sie noch mit mir reden.«
»Gertrud ist in Ordnung«, betonte Wibbeke langsam.
»Ich hoffe«, erwiderte Rogge bedrückt.
Hinter der Tür erhob sich Kilis Stimme zum Gebrüll eines gereizten Löwen. Wibbeke griente verächtlich.
»Ich überlasse Ihnen das Würstchen«, entschied Rogge. »Diebstahl, Veruntreuung, Unterschlagung, machen Sie mit ihm, was Sie wollen. Im Protokoll soll nur nicht auftauchen, dass ich mich für die Leute interessiere, die sich im vorigen September auf der Feltenwiese herumgetrieben haben.«
»Geht in Ordnung. Er hat einen festen Wohnsitz, ich muss ihn laufen lassen. Wie haben Sie Ihren Rat dazu gebracht, vier Leute zur Bewachung des Rastplatzes abzustellen?«
»Simon hat ein schlechtes Gewissen. Deshalb diese Aktion.« »Und Olli?«
»Ich habe schon angekündigt, dass ich morgen früh abreise. Können Sie so lange warten?«
»Kein Problem. Zwei meiner Leute passen vor seiner Garage auf, falls Eckard ihn sofort anruft.«
»Er ist um 23 Uhr wieder im Bären erschienen.«
»Dann hat er keine Zeit gehabt, die Ware irgendwo hinzubringen«, sagte Wibbeke zufrieden.
Rogge grunzte: »Lassen Sie mir Brockes? Den brauche ich für meine Zwecke.«
Wibbeke nickte und Rogge fragte spontan: »Wissen Sie, dass Ollis Frau einen Liebhaber hat?«
»Nein, aber es verwundert mich nicht.«
»Na fein, dann sind wir uns einig.«
»Einschließlich des Versprechens, mir irgendwann einmal eine lange Geschichte zu erzählen.« Wibbeke schmunzelte und drückte die Zigarette aus. »Mein Schwiegersohn baut Wein an. Ganz ordentlich für hiesige Breitengrade.«
»Ich sage nicht nein.«
Als sie den Raum wieder betraten, schaute Rogge auf das Tonbandgerät und Kili drückte unauffällig die Aufnahmetaste. »Also, Herr Eckard, das Ganze noch einmal von vorne ...«
In sehr manierlichem Tonfall stellte Kili seine Fragen nach den Diebstählen und der erleichterte Eckard wiederholte bereitwillig sein Geständnis. An einem bestimmten Punkt schüttelte Rogge leicht den Kopf, Kili stoppte das Band und gemeinsam nahmen sie den Kleinen noch einmal in die Zange. Aber es lohnte die Mühe nicht. Ja, er hatte einen großen, hinkenden Mann gesehen. Und eine Frau, die zu Männern ins Auto stieg. Und mehrmals diesen Mercedes mit dem Hannoveraner Kennzeichen, im vorigen Sommer. Nein, sonst nichts.
Rogge schaute auf die Uhr.
»Was geschieht jetzt mit mir?«
»Das werden Sie von Oberkommissar Wibbeke erfahren.« Damit stand er auf und Kili kannte seinen Herrn und Meister gut genug, einen prächtigen Abgang hinzulegen: »Aber glauben Sie ja nicht, Sie seien uns los.«
Auf dem Marktplatz schöpften sie beide tief Luft. Die Wolken hatten sich verzogen, den Mond verdeckte leider ein Dach zur Hälfte, aber die Sterne funkelten. Es war sehr still und sehr friedlich.
»Was machst du jetzt?«
»Ich muss in den Bären zurück, Wibbeke wartet bis zum Morgen. Vielleicht können wir Olli täuschen, dass er mich mit seinen Scherereien nicht in Verbindung bringt.«
»Und ich peste das Kraftfahrzeugbundesamt.«
»Okay, wir sehen uns dann morgen - nein, verdammt, heute schon.«
»Ich glaube, die Staatsanwaltschaft hat Sehnsucht nach dir.«
»Gute Nacht, Kili.«
Rogge fuhr sehr langsam, müde und zugleich aufgekratzt. Hannover - das waren drei Stunden Fahrtzeit. Zwei, wenn man auf einer leeren Autobahn Tiefflug üben konnte. Etwas lang und weit, nur um eine Bordsteinschwalbe aufzupicken und zu vögeln. Eine Frau, die teure Unterwäsche trug und mit Schmuck für mehrere tausend Mark behängt war, passte eher in ein 500er Coupé.
Der Bär lag im Dunkeln, irgendwo mussten Wibbekes Männer warten und ihn jetzt beobachten, aber Rogge sah niemanden. So leise wie möglich rangierte er seinen Wagen auf den reservierten Streifen neben dem Garagentor und ging rasch zum Gästehaus. Alle Türen waren verschlossen. In seinem Zimmer fand er einen Zettel, unter der Tür durchgeschoben: Tut mir Leid, dass ich Sie versetzen muss, aber Michael ist noch gekommen. Ihre Gertrud.
Michael war wichtiger, stimmte Rogge belustigt zu.
Freitag, 22. September
Lautes Gebrüll weckte Rogge, das Geräusch von Schritten, Männer schrien, Türen knallten, er fuhr hoch, sein Herz raste, und erst nachdem sich der Schwindel gelegt hatte, verstand er: Wibbekes Männer hatten zugegriffen und sich Olli geschnappt. Rogge zog sich langsam an, lauschte auf ein Martinshorn, das sich entfernte, und packte gemütlich. Je später er nach vorne kam, desto besser.
Die Polizeiaktion hatte den Fahrplan des Bären völlig durcheinander gebracht, die beiden Frühstückstische waren wohl schon gedeckt, aber kein Mensch ließ sich blicken.
Nach einer Viertelstunde machte Rogge sich auf die Suche, öffnete die Tür zu den Privaträumen und rief laut: »Hallo?«
Die Tür zur Küche ging auf und die schöne Wirtin starrte ihn an, als sehe sie Rogge zum ersten Mal.
»Guten Morgen«, grüßte Rogge munter. Offiziell wusste er ja von nichts.
Sie runzelte die Stirn, ihr Blick kam aus weiter Ferne zurück und dann haute es ihn fast um: Sie lächelte, nicht mühsam oder höflich, sondern herzlich, geradezu fröhlich. »Guten Morgen«, erwiderte sie.
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören ...«
»Nein, nein. Es tut mir Leid, ich habe mich verspätet, Ihr Kaffee kommt sofort.«
Sieh mal an, dachte er amüsiert. Frau Wirtin schien von der Tatsache, dass die Polizei ihren Mann einkassiert hatte, nicht gerade erschüttert. Eher erleichtert. Ob sie etwas von Ollis Hehlerei geahnt hatte? Oder nur auf einen solchen Vorfall gewartet hatte?
Als sie das Tablett absetzte, hatte sie sich jedenfalls wieder gefangen. Ein Monatsgehalt für das, was hinter deiner schönen Stirn vorgeht, schoss Rogge durch den Kopf.
Aber sie sagte nichts außer »guten Appetit«, und als sie zum Tresen ging, musterte Rogge sie etwas aufgebracht. Enge Samthosen und ein enges, dünnes weißes Oberteil, für sie ging das gewohnte Leben weiter. Er zahlte und sie behielt das verträumte Lächeln bei.
»Grüßen Sie bitte Gertrud von mir«, bat er, was sie versprach: »Gerne, Herr Rogge. Alles Gute.«
Um zwei betrat Rogge sein Büro, bereit, die unvermeidliche Papierkriegsschlacht zu bestehen. Drei Stunden saß er vor dem Computer und tippte seinen Bericht, tastete die Druckbefehle und ging ins Dienstzimmer, wo der Drucker leise summte. Seine Leute hatten ihn nicht zu stören gewagt oder nicht bemerkt, dass er wieder an Deck war. Kili belämmerte Hertha mit einer langen Erzählung, sie schmunzelte, eigentlich mochte sie den Filou ganz gut leiden, aber sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.
»Gibt’s schon Ergebnisse von der KTU?«, unterbrach Rogge den Kaffeeplausch.
»Nein. Lohse und Eckard kriegen wir dran, aber das ist ja wohl nicht das, was dich im Moment beschäftigt. Ach ja, hier sind die drei Anschriften. Und dann hat vorhin Wibbeke angerufen, das Labor wolle sich nicht festlegen. Was meint er damit?«
»Lies meinen Bericht - ach, und schick einen Durchschlag an Wibbeke. Oder bring ihn hin, ich verreise übers Wochenende.«
»Schon wieder?«, argwöhnte Kili, die Stirn wie ein Dackel gefaltet.
Rogge holte tief Luft: »Weißt du, Kili, in diesem Laden ersticke ich manchmal.«
Samstag, 23. September
Um sechs Uhr ordnete er sich auf der Autobahn ein und staunte. Tiefflug konnte er zwar nicht üben, das gab sein betagter Wagen nicht mehr her, aber bis Hannover brauchte er nur ziemlich genau drei Stunden, obwohl die Autobahn kurz vor Hildesheim doch voll geworden war. Er folgte den Hinweisschildern ins Zentrum und stieg auf gut Glück im erstbesten Hotel ab; der junge Mann beglückwünschte ihn gemessen zum Wochenend-Sonderpreis, Sauna und Gymnastikstunde inklusive, und organisierte im Handumdrehen einen Stadtplan.
Drei Männer hatten im vorigen September einen Mercedes S 500 Coupé mit dem Kennzeichen H-PE xxx gefahren. Eine Adresse lag direkt an der Eilenriede, eine Straße fand Rogge in Hainholz, die dritte in Linden.
In der Klenzestraße musste er sein Auto in eine winzige Parklücke rangieren und sich wie ein Aal heraus schlängeln. Das Haus Nummer 19 war ein Neubau, bei dem an nichts gespart worden war, weder an Glas, Kupfer noch an Holz. Jede Wette, das waren Eigentumswohnungen, und zwar in der Preislage, die sich normale Sterbliche nicht leisten konnten, erst recht keine Hauptkommissare. Ein Coupé entdeckte er nicht, das Tor zur Tiefgarage war geschlossen.
Arno Welder schien das Penthouse zu bewohnen, Rogge rückte die Krawatte zurecht, übte noch einmal kurz das beflissene Gesicht und klingelte.
Eine etwas nörglerische Frauenstimme meldete sich; »Ja?«
»Guten Morgen, mein Name ist Rogge, ich bin mit Herrn Welder verabredet.« Zehn Sekunden später summte der Türöffner.
Der Architekt musste selbst beim Aufzug überlegt haben, was er an zwar überflüssigem, aber teurem Schnickschnack einbauen konnte. Rogge schnaufte mäßig beeindruckt und verließ den Käfig mit, wie er hoffte, serviler Eile und dienstbeflissener Miene. In der Tür stand eine leicht bekleidete Schönheit, die ihn geringschätzig musterte; eine brennende Zigarette hing achtlos zwischen ihren Fingern, was Rogge als starken Raucher vergrätzte, und während er sich vor ihr verbeugte, hüllte ihn eine Wolke eines schweren, süßlichen Parfüms ein. Kunstblonde Gespielin kurz vor dem Verfallsdatum, taxierte Rogge.
»Sie wollen zu Arno?«, quengelte sie und er nickte demütig: »Bitte.«
»Er kommt gleich.« Damit trat sie zur Seite.
Über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten, ebenso wenig darüber, dass diese Sammlung von nicht zueinander passenden Scheußlichkeiten ein aasiges Geld gekostet haben musste. Welder besaß mit Sicherheit keinen Stil, aber ohne jeden Zweifel ein dickes Bankkonto.