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»Wollen Sie was trinken?«, erkundigte die Frau sich und verschliff die einzelnen Wörter.
»Wenn Sie einen Kaffee für mich hätten ...«
»Kaffee gibt's nicht«, beschied sie ihn verächtlich und glitt in einen Sessel, wobei ein Gutteil ihrer ohnehin spärlichen Bekleidung zur Seite geschoben wurde; die Dame war, vom Gesicht abgesehen, ganz ansehnlich, aber sonst ein Museumsstück, wie Rogge solche Frauen bezeichnete: Schau hin, aber lass die Finger davon. Bewusst dekorativ goss sie sich ein Glas Champagner ein, er betrachtete sie ausdruckslos.
Nach drei unbehaglichen Minuten spazierte ein großer, kräftiger, auffällig gebräunter Mann ins Wohnzimmer. Er mochte Mitte dreißig sein, trug auf der Stirn das Schild Sportfanatiker und unter dem Kinn den Hinweis: Vorsicht, verträgt keinen Spaß.
Rogge war er auf den ersten Blick unsympathisch und deshalb erhob er sich besonders höflich: »Herr Welder?«
»Ja.« Kein Gruß, auch Welder liebte es kurz angebunden da, wo er glaubte, auf Höflichkeit verzichten zu dürfen, und sein Blick verriet, dass er Rogge längst als unbedeutend, außerdem als lästig klassifiziert hatte.
»Mein Name ist Rogge, von der Firma Terrana Immobilien.« Sein erwartungsvolles Lächeln löste bei Welder nur ein Stirnrunzeln aus.
»Ja?«, machte Welder noch einmal, schon hörbar unfreundlicher.
»Ich komme wegen der Hotelanlage in Sunderloch.« Dabei griff Rogge mit großer Gebärde nach seiner Aktenmappe, was den Zweck nicht verfehlte.
»Sunderloch?«
Rogge verlangsamte seine Bewegung und zauberte einen Ausdruck von besorgter Unsicherheit auf sein Gesicht. »Ja, Sie wollten doch mit uns sprechen ...«
»Ich mit Ihnen?« Welder bekam schmale Augen.
»Ja, doch. Wegen der Hotelanlage, der Beteiligung ...« Er war immer leiser geworden.
»Wie heißt Ihre Firma?«
»Terrana Immobilien.«
»Kenne ich nicht.« Welder presste die Lippen zusammen.
»Das verstehe ich nicht. Ich bin doch extra aus Stuttgart ... Arno Welder, Klenzestraße.«
»Ja, der bin ich, aber Ihre Klitsche kenne ich nicht, und nun machen Sie, dass Sie verschwinden.«
Gegen einen sauberen Rauswurf wehrte Rogge sich nicht, langte nach seiner Mappe und verbeugte sich tief verletzt, aber höflich vor ihr und ihm. Sie gluckste, als habe eine Fliege Männchen gemacht.
Auf der Straße grinste Rogge. Hätte er sich ordnungsgemäß bei seinen Hannoveraner Kollegen angekündigt, würde er denen jetzt den Tipp geben, sich um die Einkommensverhältnisse dieses Arno zu kümmern.
Goldkettchen, Goldamulett, Rolex, das Seidenhemd halb bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Und so viele Haare auf der gebräunten Brust, freilich nicht dicht genug, die Tätowierung zu bedecken. Zuhälter-Uniform.
Den durfte er streichen! Seine sexuellen Bedürfnisse konnte Arno jederzeit in nächster Umgebung stillen.
Die Ulanenstraße verriet weniger Geld als die Klenzestraße und die Nummer 35 gehörte zu einer Zeile von Stadthäusern, die offenbar der Zerstörung ringsherum entgangen waren, Wand an Wand errichtet, mit den Giebel-Schmalseiten zur Straße.
Eberhard Böttiger schien über die Störung alles andere als erfreut. Er war Ende vierzig, mittelgroß und schleppte einen winzigen Bauch mit sich herum, der ihn zwar gemütlich aussehen ließ, aber seiner Eitelkeit ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Und eitel schien er zu sein, Rogge erkannte dieses schnelle, nervöse Blinzeln, mit dem Kurzsichtige, die keine Brille aufsetzen wollten, ihre Nöte verbargen.
»Terrana Immobilien? Das muss ein Irrtum sein.«
»Ich habe von der Firma Ihren Namen und Ihre Anschrift erhalten«, stotterte Rogge.
»Hotelanlage in Sunderloch - tut mir Leid, Herr Rogge, davon hab ich nie gehört, das muss eine Verwechslung sein.«
»Ja, wird wohl«, gab Rogge zu und alles Elend einer langen, vergeblichen Fahrt schwang in den drei Silben so vernehmbar mit, dass Böttiger ihn mitleidig musterte. Aber trotzdem nicht ins Haus bat!
Nach zwei Stunden wurde ein günstiger Parkplatz frei, Rogge holte sein Auto und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein, die zum Glück schon eine Stunde später endete. Böttiger verließ das Haus, begleitet von einer jüngeren Frau in einem Umstandskleid, Hand in Hand, und Böttiger bemühte sich um sie, als führen sie direkt zur Entbindung ins Krankenhaus. Was, wie Rogge schätzte, bei normalem Verlauf noch gut zwei Monate Zeit hatte.
Böttiger verfrachtete die Schwangere sorgsam in einer viertürigen Familienkutsche. Danach stürzte er ins Haus und kehrte mit einem Kleinkind auf dem Arm zurück, das er ihr ins Auto reichte, um dann den Klappwagen und eine Kinderliege zu holen, die er auf der Rückbank festschnallte. Dann legte sie das Baby in die Liege, während er den Klappwagen im Kofferraum verstaute und das Haus verschloss.
Rogge schüttelte den Kopf: Wie kompliziert Ausflüge mit Kleinkindern waren, hatte er schon vergessen. Rogge strich Böttiger von seiner Liste.
Sein letzter Kandidat hieß ebenfalls Eberhard mit Vornamen, Eberhard Fuhrmann, Van-Haaren-Allee. Grau angelaufene vier-und fünfstöckige Mietshäuser, die ihren besten Jahren nachtrauerten und aus großen, altmodisch hohen Fenstern triste auf ihn herabblickten. Die Straßenränder bis auf den letzten Zentimeter zugeparkt, ein großer Teil der Bürgersteige zugestellt und auf den beiden verbleibenden Fahrspuren rollte pausenlos der Verkehr.
Zunehmend gereizt kurvte Rogge durch das Viertel, bis er einen Parkplatz fand, und musste sich anschließend zur Van-Haaren-Allee durchfragen.
Zehn Mietparteien, Fuhrmann schien im obersten Stockwerk zu wohnen. Fünfmal klingelte er vergeblich, bis Rogge auf gut Glück den Knopf daneben drückte. Jetzt schnarrte der Öffner.
Im Treppenhaus roch es ungelüftet und die praktische Ölfarbe, ein scheußliches Oliv, blätterte an einigen Stellen ab. Im letzten Stock hatte ein alter Mann seine Wohnungstür einen Spalt aufgezogen und schaute ihm griesgrämig entgegen; Rogge schoss durch den Kopf, dass der Mann neben seiner Klingel unten ein Schildchen anbringen sollte: Verbitte mir jede Störung.
»Guten Tag, Herr Vorwerk, entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Rogge, Jens Rogge.«
»Guten Tag«, quäkte der Alte.
»Ich bin ein alter Bekannter von Herrn Fuhrmann und wollte ihn besuchen, aber er scheint nicht zu Hause zu sein.«
Seine Antwort überlegte sich Vorwerk gründlich. »Nein.« Der Name Fuhrmann hatte bei ihm keine freundlichen Assoziationen ausgelöst.
»Wissen Sie zufällig, wo er ist? Oder wann er zurückkommen wird?«
Unwillkürlich spitzte der Alte die Lippen, als wolle er ausspucken. Zwischen ihm und seinem Nachbarn mangelte es offenkundig an Harmonie.
»Wir haben uns vor vielen Jahren aus den Augen verloren, und weil ich nun mal zufällig in Hannover bin ...«, bat Rogge.
»Keine Ahnung, wo der sich rumtreibt.« Das hörte sich so kratzig und falsch an, als feile Opa Vorwerk Stahl.
»Ich hab’s auch schon in der Firma versucht, aber da nimmt niemand ab.«
»In der Firma?«
Vorsicht, dünnes Eis! »Ja«, bestätigte Rogge verwundert, »wir haben uns bei Phoenix kennen gelernt.«
Das war zu viel für eine zornige Altmännerseele. »Der hat mal fest in einer Firma gearbeitet?«
»Sicher, ja, warum nicht?«
»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Wieso? Was macht er denn heute?«
»Klinkenputzer ist er. Vertreter.«
»Eberhard?« Wenn dramatisches Theater gewünscht wurde, konnte Rogge mithalten und die Rolle des entsetzten Ungläubigen beherrschte er berufsbedingt besonders gut. »Eberhard hat seinen Job aufgegeben?«
»Ich weiß nur, dass er Vertreter ist. Dickes Auto, große Sprüche, Schulden bis obenhin, immer neue Mädchen nebenan und ewig Lärm, rücksichtslos bis zum Es-geht-nicht-Mehr.« Jetzt war es heraus, das hatte er mal loswerden müssen, und was er Eberhard nicht an den Kopf werfen konnte, durfte er wenigstens bei seinem mitschuldigen Freund und Bekannten abladen.
Rogge fasste es nicht: »Eberhard? So kenne ich ihn gar nicht.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass Sie Ihren Freund richtig kennen lernen.«
Rogge schüttelte den Kopf: »Da muss was passiert sein.«
Vorwerk meckerte vorwurfsvoll. »Wetten, dass er wieder unterwegs ist, um sich ein neues Flittchen aufzugabeln?«
»Aufzugabeln? Wo?«
»Meistens in Onkel Toms Hütte.«
Ach nee, er spionierte seinem ungeliebten Nachbarn also doch nach, aber Rogge wollte den Alten nicht darauf hinweisen, dass er sich verraten hatte.
»Das ist ja alles sehr betrüblich«, trauerte er. »Tja, vielen Dank auch und entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Der junge Mann an der Hotelrezeption betrachtete ihn voller Zweifel, der mit Abscheu gemischt war: »Onkel Toms Hütte?«
»Ja, kennen Sie das Lokal?«
»Doch, ja. In der Nähe vom Steintor, im Rotlichtviertel.«
Das Lokal lag im doppelten Sinne des Wortes an der Grenze und Rogge betrat es erst, nachdem er zwei Straßen weiter ein dunkelblaues Coupé mit der Buchstabenkombination H-PE entdeckt hatte. Eine Kneipe mit schlechter Luft und lauter Musik, billig mit Resopaltischen und unbequemen Metallrohrstühlen eingerichtet, an den Wänden ein Spielautomat neben dem anderen, der Holzboden übersät mit Kippen. Einen Moment fürchtete Rogge, Giftzwerg Vorwerk habe sich geirrt, aber dann fiel ihm auf, dass sich keiner nach ihm umdrehte. Das Publikum war ausgesprochen gemischt, alte Männer und junge Frauen, und der Mann hinter dem Tresen fletschte die Zähne so liebenswürdig wie eine ausgehungerte Speikobra.
»’nen Bier«, brummte Rogge und bemühte sich, nicht auf die fleckige Sitzfläche des Hockers zu schielen. Bisher ging der Fall gewaltig zu Lasten seiner Garderobe.
»Zum ersten Mal hier?«, vergewisserte sich der Wirt.
Rogge unterschätzte die Fähigkeit dieser Leute nicht, einen Bullen zehn Meilen gegen den Wind zu riechen. »Ja. Bin mit einem Hardy hier verabredet.«
Das sagte dem Knaben nichts, er zuckte die Achseln und Rogge drehte sich sofort weg, eine Antwort erwartete er nicht.
Nach einer halben Stunde leistete er dem wütenden Nachbarn in einem Punkt Abbitte. Onkel Toms Hütte war tatsächlich eine Anbandelkneipe, zwar auf dem untersten Niveau, aber auf hohen Touren. Ab und zu kamen zwei Frauen zusammen herein, aber nie ein Paar, und wer sich allein an einen Tisch setzte, ob Männlein oder Weiblein, wurde sehr bald angesprochen. Die meisten gingen nach einer halben Stunde wieder, und zwar in Begleitung.
Rogge überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, aber da wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Hinter ihm polterte es plötzlich bedrohlich, und als er herumfuhr, sah er, wie zwei Männer aufeinander einschlugen. Wie der Blitz schoss der Kerl hinter dem Tresen hervor, in der Hand einen gummibezogenen Knüppel, doch es lief nicht so ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Den einen Kampfhahn erwischte er zwar sauber am Kinn, hatte aber eine Zehntelsekunde nicht aufgepasst und wurde deshalb voll von dem Stuhl getroffen, den der andere Streithahn mit mörderischer Wut schwang. Riesengebrüll, der Thekentyp ging zu Boden, riss einen Tisch mit um, andere Männer sprangen auf, Frauen kreischten, Glas splitterte und Rogge glitt eilig vom Hocker, kippte ihn einem Heranstürmenden, der bereits die Übersicht verloren hatte, in den Weg und schlängelte sich vorbei an dem Hektischen, der lang hinschlug, nach draußen. Drinnen tobte jetzt eine mittlere Völkerschlacht. Dass er seine Biere nicht bezahlt hatte, beschwerte Rogges Beamtengewissen nur mäßig.
Er schaute zwei Straßen weiter nach, das Coupé war verschwunden. Er machte sich auf die Suche nach einem Taxi.
X.
Es dämmerte schon, als Glasauge ins Zimmer schlüpfte und geräuschlos die Tür verriegelte. Vor einer halbe Stunde war sie aufgewacht, einer der üblichen Angstträume hatte sie geweckt, in deren Mittelpunkt immer er stand, das Monster, die Maschine. Er trank nicht, rauchte nicht, schwätzte nicht, ermüdete nicht, jemand hatte ihn darauf programmiert, die Papiere zu finden, um jeden Preis, und das würde er erledigen, stur wie ein Panzer, unerbittlich wie ein Roboter. Manchmal hielt sie ihn für einen Killer, dann zweifelte sie wieder, weil er ihr so unsäglich dumm vorkam.
»Vielleicht gibt es diese Papiere gar nicht«, hatte sie einmal zu bedenken gegeben und seinem Glasaugenblick standgehalten, obwohl ihre Lippen zitterten. Eine Antwort bekam sie nicht, hatte sie auch nicht erwartet. Aber mit wem sollte sie reden?
Die anderen, vom Verfassungsschutz, vom Bundesnachrichtendienst, vom Zollkriminalamt, hatten sie doch längst entdeckt, sie und das zweite Team, aber das schien ihn nicht zu stören. War er so verblendet, so beschränkt, dass er die Gefahr nicht erkannte? Warum griffen die anderen nicht zu? Dafür musste es einen Grund geben, doch von ihm würde sie keine Silbe erfahren.
Schritte kamen näher, sie unterdrückte einen Schluchzer. Jeden Abend fiel er über sie her, regelmäßig wie eine Maschine, ein schweigendes Monster. Auf was hatte sie sich da eingelassen? Und das alles nur, weil er nicht aufgepasst und übersehen hatte, dass die Frau doch im Haus war, vor der er dann in Furcht oder Panik weglief, statt auch sie umzulegen. Doch dazu hatte er keinen Auftrag gehabt, und den Bericht hatte er auch nicht gefunden! Eine Leiche, zwei Leichen, lebenslänglich war ihm so oder so gewiss.
Unter seinen Stößen jammerte sie vor Schmerzen auf.
Sonntag, 24. September
Sauna und Gymnastik betrachtete Rogge als konzessionierte Formen von Masochismus, aber Schwimmbecken liebte er, zumal dann, wenn er sie wie jetzt ganz allein für sich hatte. Auch den Frühstücksraum betrat Rogge als Erster.
Nach dem Frühstück zahlte er und quälte sich noch einmal zur Von-Haaren-Allee durch. Auch am heiligen Sonntag litt das Viertel unter akuter Parkplatznot, Rogge lief kreuz und quer, bis er das Coupé entdeckte, und stiefelte anschließend zum Haus. Diesmal schnarrte der Offner und er betete, dass Opa Vorwerk nicht am Türspion klebte.
Fuhrmann sah aus, als plage ihn ein veritabler Kater. Unrasiert, ungekämmt, in einem schmuddeligen Trainingsanzug, die Augen rot unterlaufen, sichtlich nicht ausgeschlafen. Er mochte Mitte vierzig sein und Rogge schätzte, dass er nüchtern und gewaschen, in einem ordentlichen Anzug noch gut genug aussah, um etwas unbedarfte Frauen in Onkels Tom Hütte zu beeindrucken. Fuhrmanns weicher Mund verriet Gemeinheit. In Onkel Toms Hütte war er Rogge gestern nicht aufgefallen, allerdings zuckte Fuhrmann zusammen, bevor Rogge etwas gesagt hatte.
»Morgen«, brummte Rogge. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
»Um was geht es denn?«
Ohne dieses erschrockene Zucken hätte Rogge die höfliche Platte mit dem Immobilienfonds aufgelegt, aber dieses Augenflackern verkündete etwas, das ihn interessierte. Angst?
»Müssen wir das im Treppenhaus klären?«
»Ich habe - Besuch.«
»Na und?«
Fuhrmann zögerte, drehte unruhig den Kopf in die Wohnung, willigte endlich kleinlaut ein: »Meinetwegen.«
Der Flur musste dringend gestrichen werden und der Kokosläufer wies Löcher auf. Fuhrmann ging eilig voran, um eine Zimmertür zu schließen, und Rogge nölte breit: »Netter Besuch?«
»Es geht«, presste Fuhrmann heraus. Das Wohnzimmer verstärkte den ersten Eindruck, die Möbel waren zu alt, um noch als passabel durchzugehen, und noch nicht alt genug, um antiquarischen Wert zu beanspruchen. Nein, hier regierte die leere Brieftasche.
»Was wollen Sie?«
»Können Sie sich das nicht denken?«
»Sie waren gestern Abend in Onkel Toms Hütte, nicht wahr?«
»Ja, bis zu der Schlägerei.«
»Spionieren Sie mir nach?«
»Was heißt schon spionieren. Ich weiß gerne, mit wem ich’s zu tun habe.« Dabei lächelte Rogge in sich hinein, das war nicht gelogen.
Fuhrmann wich einen Schritt zurück. »Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht alles auf einmal zurückzahlen kann.«
Rogge musterte ihn stumm. Gelobt sei Opa Vorwerk, man sollte viel mehr alte Männer bei der Polizei anstellen. Oder als Hausmeister und Informanten engagieren, zwecks Kontrolle der Mieter. Endlich gähnte er: »Sie haben ein sehr großes Auto.«
»Das brauche ich doch.«
»Ein kleineres tät's auch. Überlegen Sie sich das mal.« Damit machte Rogge auf dem Absatz kehrt, er hörte, dass Fuhrmann ihm folgte, trotzdem klinkte er die Tür auf.
Im Bett hatte sich eine junge Frau mit verquollenen Augen aufgerichtet, die erschrocken aufgickste und das Deckbett vor den üppigen Busen presste. Die Wurzeln ihrer blonden Haare schimmerten dunkel.
Rogge drehte sich um, Fuhrmann zitterte vor Wut, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
»Dafür ist offenbar immer noch Geld da!«, grummelte Rogge. »Na, wie Sie wollen, jede Geduld hat mal ein Ende.«
Auf halber Treppe hörte er, wie eine Sperrkette ausgehängt wurde, und deshalb beschleunigte Rogge. Nichts gegen Opa Vorwerk, aber man sollte von Neugier profitieren, sie nicht füttern.
Im Grunde passte nichts zusammen. Der eine hatte viel Geld und war ein ordinärer Zuhälter. Der zweite schien ein ordentlicher Kerl zu sein und gluckte um Frau und Nachwuchs herum. Der dritte riss in billigen Schuppen Frauen auf und fürchtete den Schuldeneintreiber. Zu wem wäre eine Inge Weber freiwillig ins Auto gestiegen? Wenn eine Amnesie nicht auch Geschmack und Prinzipien völlig veränderte - zu keinem.
Da hatte er sich wohl in eine Sackgasse verrannt. Sein Verstand befahl Stopp, das Auto fuhr automatisch weiter, und als er auf den Tacho schaute, zitterte die Nadel über der Zahl 150. Diesen Ausflug hätte er sich sparen können!
Zum Ausgleich klappte es jetzt wie am Schnürchen. Rogge bog in Stockau in die Brückenstraße ein und hielt vor dem zweistöckigen Haus mit dem Arztschild. Als er seinen Wagen abschloss, kam ein Paar auf ihn zu, den Mann hatte er schon einmal gesehen.
Der Mann war breitschultrig und hatte ein freundliches, zerfurchtes Gesicht mit einem Paar zuverlässiger Augen. Er strahlte Gelassenheit und Humor aus. Die Frau neben ihm war höchstens einen Zentimeter kleiner und kaum schmaler als er und das enge, völlig schmucklose dunkelgraue Kleid enthüllte eine eckige, fast männliche Figur. Ihre Haare trug sie extrem kurz geschnitten, wie eine knapp sitzende Kappe, was ihr nicht stand und ihre scharfen Züge betonte. Ein reizloses Gesicht voller Unzufriedenheit.
»Wollen Sie zu uns?«, fragte der Mann gemütlich.
»Wenn Sie Dr. Fuhrmann sind - ja.«
»Der bin ich. Meine Frau. Sie sind Herr Rogge, nicht wahr, der Kriminalbeamte aus dem Bären?«
»Es hat sich wohl herumgesprochen«, seufzte Rogge und gab der Frau die Hand. »Guten Tag, gnädige Frau.«
»Guten Tag«, erwiderte sie hart und er begriff, dass sie ihn mit einem Blick taxiert und für unsympathisch befunden hatte. Ihre Augen waren klein und ihr Blick stechend. Warum fixierte sie ihn so böse? Ihr Händedruck fiel verboten kräftig aus.
»Was können wir für Sie tun?«
»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Herr Doktor.«
»Über was? Über Olli?«
»Indirekt, ja. Sie haben gehört, was ...?«
»Natürlich. Sogar der Pfarrer hat eben darüber gepredigt.« Dabei schüttelte der Arzt den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. »Lene, macht es dir etwas aus, wenn Herr Rogge und ich in die Praxis gehen?«
»Nein«, fauchte sie. Natürlich machte es ihr etwas aus und an jeder anderen Stelle als auf der offenen Straße hätte sie ihm seinen Wunsch glatt abgeschlagen. Ohne ein weiteres Wort an Rogge zu verschwenden, schwenkte sie zur Seite und marschierte auf die Haustür zu. Sie ging ruckartig, als versage sie sich jede Form von Verbindlichkeit oder Weiblichkeit, und diese Bewegung kam ihm bekannt vor.
»Kommen Sie, Herr Rogge.«
In der Praxis zerrte Fuhrmann die Jalousien hoch, und nachdem er im Sprechzimmer hinter seinem Schreibtisch umständlich Platz genommen hatte, schien er sich wohler zu fühlen.
»Was wollen Sie wissen?«
»Herr Doktor Fuhrmann, haben Sie einen Bruder Eberhard, der in Hannover wohnt?«
Dem Arzt blieb der Mund offen stehen, mit allen möglichen Fragen hatte er gerechnet, doch nicht damit. Nach einer Weile schluckte er heftig, als müsse er zu sich kommen, und stammelte: »Ja, den habe ... Ja, Eberhard.« Mühsam riss er sich zusammen; »Warum fragen Sie mich das?«
»Haben Sie bitte noch etwas Geduld? Ich will's Ihnen nachher gerne erklären.«
»Ja ... ja ...« Er hatte sich von seiner Überraschung noch nicht erholt.
Rogge musterte ihn scharf: »Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal getroffen?«
»Wann? - Wann war - im vorigen Jahr.«
»Hier in Stockau?«
»Ja, hier im Haus. Er kam - das war im Mai. Oder Juni.«
Zeitlich stimmte es, die erste Hürde war genommen. Deshalb griente Rogge verlegen: »Ich weiß, was Ärzte übers Rauchen denken, aber würden Sie mir gestatten ...?«
»Sicher.« Komischerweise gab die Bitte seines Besuchers Fuhrmann die alte Sicherheit zurück und er stand auf. »Wir müssen aber das Fenster öffnen. Wenn meine Patienten riechen, dass hier geraucht wird, tun sie noch weniger, was ich Ihnen vorschreibe. Aber für ganz schlimme Sünder habe ich sogar einen Aschenbecher.«
Bevor Fuhrmann sich wieder setzte, schüttelte er ratlos den Kopf: »Eberhard ...«
»Herr Dr. Fuhrmann, ich komme gerade aus Hannover. Ich habe dort mit Ihrem Bruder gesprochen. Es tut mir Leid, wenn ich Sie jetzt verletze: Er lebt mehr als bescheiden, reißt Frauen in billigen Lokalen auf und hat Schulden.«
»Sie erzählen mir nichts Neues.« Das klang so gequält wie bitter.
»Wie stehen Sie zu Ihrem Bruder?«
»Wie ich zu ihm stehe? - Wir schätzen uns nicht sonderlich.«
»Dann besucht er Sie also nicht regelmäßig?«
»Regelmäßig? - Ach nein. Er kann mich nicht leiden und meine Frau hasst ihn beinahe.«
»Warum war er dann im vorigen Jahr hier?«
Der Arzt lehnte sich zurück, sein Gesicht wurde verschlossen, darauf wollte er nicht antworten.
»Gut, ich wilPs Ihnen sagen. Er hat sich Geld von Ihnen geliehen.«
»Wirklich? Wie kommen Sie denn darauf?« Hinter dem gutmütigen Spott schwang etwas anderes mit.
»Heute Morgen hat er mich für einen Geldeintreiber gehalten.« Rogge lächelte zerknirscht. »Ich hab den falschen Eindruck nicht korrigiert, was nicht die feine Art ist, aber so hat er mir unfreiwillig eine wichtige Auskunft gegeben: Ich hab doch gesagt, ich kann nicht alles auf einmal zurückzahlen, so hat er sich verteidigt.«
»Ja?«
»Er fährt einen großen Wagen, etwas zu teuer für seine Verhältnisse, nicht wahr?«
»Eberhards Lebensprinzip: Mehr scheinen als sein.«
»Ja. Er zahlt oder stottert ab, gerade genug, dass ihn seine Gläubiger nicht zwingen, den großen Wagen zu verkaufen. Aber so unregelmäßig, dass er sich vor mir gefürchtet hat.«
»Gut möglich. Mein Bruder steckt immer in Schwierigkeiten, das ist sein Markenzeichen.«
»Er hat Sie also im Vorjahr um Geld angebettelt.« Es war ein Schuss ins Blaue, aber Fuhrmann ließ das Gespräch treiben, wehrte sich nicht, weil er in Gedanken bei einer ganz anderen Sache war, weit weg.
»Wenn Sie's schon wissen ... fünfundzwanzigtausend.«
»Sie haben’s ihm geliehen?«
»Was man Eberhard leiht, ist so gut wie verschenkt.«
»Obwohl Sie ihn nicht sonderlich schätzen?«
»Ach Gott, schließlich ist er mein Bruder. Und wozu - wir haben keine Kinder, wem sollte ich’s vererben?«
»Ihre Frau war einverstanden?«
»Sie weiß nichts davon«, erwiderte Fuhrmann ruhig. »Ich möchte auch nicht, dass sie’s erfährt.«
»Das war im Mai oder Juni vorigen Jahres?«
»Ja.« Fuhrmann blickte auf seine gefalteten Hände.
»Wie oft ist er hier gewesen?«
»Einmal. Um sich das Geld zu holen.«