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»Das stimmt nicht, Herr Dr. Fuhrmann. Er ist mehr als einmal in Stockau gewesen.«
Rogge hielt es ihm ganz freundlich, fast besorgt vor und Fuhrmann hob den Kopf. »Warum soll das nicht stimmen, Herr Rogge?«
»Es gibt Zeugen dafür, dass er mehr als einmal hier war.«
»Zeugen?«, wiederholte der Arzt resigniert.
»Ja.« Drei, vier Züge rauchte Rogge schweigend, Fuhrmann rang mit sich, als müsse er mit sich ins Reine kommen, eigentlich wollte er was verbergen, aber zugleich schämte er sich dessen.
»Er war ein paar Mal hier«, gab Fuhrmann endlich zu und sah Rogge prüfend an.
Nein, ein schlechtes Gewissen wegen seiner Lüge hatte er nicht; was ihn beschäftigte, konnte mit seinem Bruder Zusammenhängen, vielleicht wusste oder ahnte er etwas und wünschte nicht, dass der Kriminalbeamte davon erfuhr. Ein weniger beunruhigter Mann hätte sich längst erkundigt, was diese Fragen nach seinem Bruder mit den Aktivitäten des Bärenwirtes zu tun hatten.
»Würden Sie mir den Grund nennen?«
»Geld. Was denn sonst! Er hatte sich ganz tief in die Schei..., er hat Probleme. Und ein paar brutale Geldeintreiber waren die kleinere Sorge, die er hatte.« Unvermittelt lachte der Arzt böse auf. »Aber immer Auftritte wie Graf Kotz der Große, Blumen für meine Frau, Pralinen für Monika, diskreter Hinweis auf großartige Geschäfte, die er gerade angeleiert hatte.«
»Wer ist Monika?«, fragte Rogge leise und spürte, wie ihm ein Ring den Brustkorb einschnürte.
»Monika Ziegler. Meine Helferin.«
»Ihr Bruder hat im vorigen Jahr Monika Ziegler kennen gelernt?«
»Sicher. Und ich kann Ihnen flüstern, er hat sie mächtig beeindruckt.«
Mit letzter Kraft behielt Rogge sein Gesicht unter Kontrolle. Fuhrmann hatte nichts bemerkt, er schien mehr mit sich selbst zu reden als mit Rogge, der heftig die Zigarette ausdrückte, um seinen Kopf zum Aschenbecher senken zu können.
»Na ja, was kann’s schon verderben - vier Mal ist er hier gewesen und hat mich um Geld erleichtert.« Jetzt schnitt Fuhrmann eine Grimasse, aber die Verachtung galt nicht Rogge. »Zweimal offen, zweimal heimlich, weil Lene mir die Pistole auf die Brust gesetzt hatte - dieser Mensch, Schwager hin oder her, käme ihr nicht mehr ins Haus.«
»Das letzte Mal - das war im September?«
»Ja«, bestätigte Fuhrmann zerstreut. »Danach hat er Ruhe gegeben.«
»Wenn er Sie besuchte, ob offen oder heimlich - ist er dann über Nacht geblieben?«
»Wo denken Sie hin!«, spottete Fuhrmann zornig. »Hier übernachten? Lene hätte mir was gehustet! Nein, er kam am späten Nachmittag und ist abends immer wieder zurückgefahren. Ein schnelles Auto leistet er sich ja.«
Rogge lächelte flüchtig. Hier war noch längst nicht alles ausgesprochen, natürlich verheimlichte der Arzt etwas, aber Rogge hatte erfahren, was er wissen musste, und deshalb erhob er sich: »Vielen Dank, Herr Dr. Fuhrmann, ich will Sie nicht länger aufhalten.«
Beim Anblick der Frau in der Tür fiel Rogge nur das Wort farblos ein. Eine blasse Frau, die man anschaute und sofort wieder vergaß. Dazu etwas ängstlich, fast wie geduckt, immer besorgt, sie könne etwas falsch machen. Die Kittelschürze schien ihr am Leib festgewachsen.
»Meine Tochter ist nicht da«, sagte sie unruhig. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, seinen Dienstausweis gründlich anzugucken.
»Oh, das ist schade. Wissen Sie, wo ich sie finde?«
Jetzt zeichnete sich trotzige Verlegenheit in ihrem Gesicht ab. Sie hatte sandfarbene, strohige Haare und vor zwanzig Jahren lautete wahrscheinlich das größte Kompliment, das man über sie verbreitete, ganz niedlich. Aber das war lange her.
In der Wohnung rumorte jemand, sicherlich ihr Mann, und
seinetwegen würde sie Rogge nicht hereinbitten. Deshalb trat Rogge näher heran und senkte die Stimme: »Sie ist draußen auf dem Scherkenhof, bei Jo Thelen, nicht wahr?«
Die Frau nickte verstohlen und drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite.
Papa Ziegler schätzte es wohl nicht, wenn sich seine einzige Tochter mit einem gescheiterten Elektriker herumtrieb. Frauen gehörten ins Haus und sein Verhältnis mit Angi Lohse, der schönen Bärenwirtin, betrachtete er bestimmt als sein gutes Recht.
»Vielen Dank, Frau Ziegler.«
Man konnte den Scherkenhof auch auf einer schmalen geteerten Straße erreichen; mühsam war nur das Entziffern der Hinweisschilder, die alle so aussahen, als hätten Generationen von Schulkindern sie als Zielscheiben für ihre Katapulte genutzt, und zwar erfolgreich. Kaum ein Hofname war wegen der abgeplatzten Farbe oder Löcher deutlich zu lesen und der Rost erledigte den Rest.
Zwei große Hunde trotteten gemütlich auf Rogge zu, als er ausstieg, und beschnüffelten ihn gründlich. Erst nach der Inspektion bellte jeder einmal kräftig. Auf das Signal hin kam ein großer Mann aus dem Haus geschlendert.
»Guten Tag, mein Name ist Rogge. Ich müsste unbedingt einmal mit Monika Ziegler sprechen - wenn sie hier ist.«
»Sie hilft in der Küche. Wollen Sie nicht hereinkommen?«
»Nein, vielen Dank, es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie Monika herausschicken würden.«
»Mach ich!«, versprach der Mann etwas verwundert.
Monikas Lippen begannen zu zittern, als sie Rogge erkannte. »Guten Tag, Herr Rogge.« Sieh mal an, seinen Namen hatte sie also behalten.
»Tach, Monika. Ich muss mit Ihnen einmal unter vier Augen sprechen.«
»Das passt - wir sind gerade beim Kochen ...«
»Tut mir Leid, aber es muss sein.«
»Ja - ja ... Ich sag nur Jo Bescheid.«
»Unter vier Augen, Monika!«, warnte er und sie nickte kläglich.
Offenbar dauerte es länger, Jo Bescheid zu sagen; denn Rogge wartete fast zehn Minuten, bis Monika Ziegler wieder herauskam, den Reißverschluss ihres Anoraks hochziehend. Jetzt ähnelte sie auf fatale Weise ihrer Mutter, blass und unscheinbar.
»Gehen wir ein paar Schritte? Ich bin heute Morgen ein ganzes Ende Autobahn gefahren, von Hannover bis hierher, ich muss mir die Füße vertreten.«
Den schnellen Blick von der Seite konnte sie nicht unterdrücken und Rogge sah, wie sich ihr Gesicht verkrampfte.
»Ja, ich habe mich mit Eberhard Fuhrmann in Hannover unterhalten.«
Jetzt lief sie wie ein Automat, der Fuß vor Fuß setzte, und ihre Furcht war fast körperlich zu greifen. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.
»Was wir jetzt bereden, bleibt unter uns. Deine Eltern erfahren nichts und auch Jo Thelen nicht. Aber du musst jetzt alles erzählen. Einiges kann ich mir schon zusammenreimen, nicht alles, aber doch den größten Teil.« Ein Bluff, zugegeben, und sogar ein ausgesprochen hässlicher, aber Rogge wollte diesen Schutzpanzer durchbrechen. »Du hast im vorigen Jahr den Bruder deines Chefs kennen gelernt?«
Nach einer Weile nickte sie und schaute auf ihre Schuhspitzen.
»Er hat dich ziemlich beeindruckt, nicht wahr?«
»Ja.« Ein Hauch nur, aber immerhin.
»Wie weit ist das zwischen euch gegangen, Monika?«
Eine Minute Schweigen. Eine zweite Minute.
»Hat er dich oben auf der Feltenwiese vergewaltigt?«
»Woher wissen Sie ...« Angesichts der Panik in ihrer Stimme schämte er sich. Doch sie hatte sich verraten, sie würde selbst einsehen, dass sie nun reden musste. Zwei Minuten, drei Minuten.
»Nein, er war es nicht.«
»Wer dann?«
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Geduld, mahnte Rogge sich und musterte sie von der Seite; sie wagte nicht, ihn anzusehen, und ihr Gesicht war kalkweiß. Es musste einen Grund geben, warum sie den Täter nicht nennen wollte, und ihre Furcht brachte ihn auf den richtigen Gedanken: »Der Mann hat gedroht, dir was anzutun, wenn du ihn anzeigst?«
»Ja.«
»Monika, ich verstehe, dass du Angst hast. Trotzdem musst du jetzt reden. Wir nennen den Täter einfach mal den Mann, einverstanden? Du musst mir seinen Namen nicht verraten, er ist einfach der Mann. Okay?«
»Aber wenn Sie ihn verhaften, weiß er doch, dass ich ihn angezeigt habe.«
Komisch, dass er sie automatisch geduzt hatte! Bei Gertrud wäre ihm das nicht passiert. Aber der Wirbelwind Gertrud wirkte auch viel erwachsener als dieses verschreckte Kind neben ihm. »Nein. Ich kann ihn nur verhaften, wenn du vorher eine Aussage bei der Polizei gemacht und unterschrieben hast.«
»Und das muss ich nicht ...?«
»Nein, ich werde dich zu nichts zwingen.«
Wenigstens hob sie jetzt den Kopf. Ihn schaute sie immer noch nicht an, aber sie blickte geradeaus.
»Wo soll ich ...«
»Bei Eberhard Fuhrmann.«
Kili, die Kodderschnauze, pflegte in solchen Fällen zu lästern: Gib jedem die Zeit, seine Schleuse aufzukurbeln, und vergiss nicht, je fester und länger sie geschlossen war, desto eher ist sie verrostet und erfordert Kraft und Zeit. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sie anfing zu erzählen.
Im Mai war Eberhard zum ersten Mal zum Doktor gekommen, da hatte sie ihn kennen gelernt, weil er sich ganz brav ins Wartezimmer gesetzt hatte und abwehrte, es handele sich um eine private Sache mit seinem Bruder, und deshalb wolle er nicht stören, kein Patient solle seinetwegen warten. Sie hatten sich sehr nett unterhalten.
Bei ihrem Tonfall seufzte Kogge heimlich. Bruder Eberhard hatte sie eingewickelt. En passant, weil er gerade nichts Besseres vorhatte. Wer wie er Frauen abschleppte, erkannte ein bequemes Opfer auf den ersten Blick.
Einen Monat später war Eberhard wieder gekommen und hatte Monika eine große Schachtel Pralinen mit gebracht. Ja, und abends hatten sie sich auf der Feltenwiese - getroffen. Ernsthaft hatte sie gar nicht geglaubt, dass Eberhard so lange in seinem großen Auto auf sie warten würde. Aber er hatte es getan. Weil sie - sie war erst hochgelaufen, als es schon dunkel wurde. Im Juli hatten sie sich wieder - getroffen. Auch im August, mehrmals, da waren der Doktor und seine Frau in Urlaub gefahren, und Hardy meinte, es wäre besser, wenn sein Bruder nichts von ihrer Liebe erführe. Ja, immer auf der Feltenwiese, wenn es dunkel geworden war. Eigentlich ging sie nicht gerne dort hoch, wegen - Sie hielt inne und Rogge lachte leise.
»Wegen Andrea Wirksen. Ja, ich weiß Bescheid, sie ist eine kleine Hure.«
Monika Ziegler zuckte zusammen, fuhr aber tapfer fort. Ja, wegen Andrea. Sie hatte immer aufgepasst, Andrea hatte sie nie gesehen. Und im September, als der Doktor aus dem Urlaub zurück war, hatte sie sich zum letzten Mal mit Hardy - getroffen. Wieder in seinem Auto, oben auf der Feltenwiese. Hardy hatte Monika in der Praxis zugeflüstert, er habe ein Geburtstagsgeschenk für sie, das wolle er ihr - nachher überreichen.
»Wann hast du denn Geburtstag, Monika?«
»Am 16. September.« Rogge schnappte nach Luft, aber sie hatte nichts bemerkt. Also war sie - sie hatten sich wieder - getroffen. In seinem Auto, auf der Feltenwiese. Hardy schwor ihr, er Würde gern bleiben, sie in der ersten Sekunde ihres Geburtstages küssen, aber er müsse fort, es habe Krach mit seinem Bruder gegeben, ganz scheußlichen Streit, und deswegen bekomme sie ihr Geschenk jetzt schon. Sie hatte trotz seines Protestes das Päckchen ausgepackt, eine goldene Armbanduhr, und dann - und dann - sie kämpfte mit den Tränen. Hardy wollte schon beim ersten Mal mit ihr schlafen, aber sie konnte doch nicht, sie nahm keine Pille und Hardy hatte kein Kondom dabei, sie hatte Angst, aber er wollte so gerne, und wenn sie Angst vor einem Kind hätte, dann könnte sie doch - sie hatte sich ausgezogen und - getan, um was er sie bat.
Schweigend ging Rogge neben Monika her.
Ja, sie hatte es getan. Und dann fuhr Hardy fort, er war immer über den Parkplatz auf die Autobahn gefahren, sie schaute dem Auto noch nach, als der - Mann plötzlich neben ihr auftauchte. Und sie zu Boden warf und sie - sie wollte schreien, aber der Mann hatte ihr den Mund zugehalten, sie hatte sich aus Leibeskräften gewehrt, aber er war ja viel kräftiger als sie. Und dann war der Mann auf gestanden und hatte ihr gedroht: Wenn sie nur einen Mucks verraten würde, ginge es ihr schlecht. Außerdem würde er allen Menschen erzählen, was sie in dem Auto getrieben hatte, ihren Eltern, Jo, ihrem Chef.
Monika machte sich nicht klar, was sie damit preis gab: Sie kannte ihren Vergewaltiger also genau.
Sie hatte geweint und versprochen, den Mund zu halten, und der - Mann war weggegangen.
»Wohin, Monika?«, fragte er gleichmütig.
»Zum Parkplatz.«
»Und wann ist das alles passiert?«
»Abends. Im Dunkeln.«
»Am Tag vor deinem Geburtstag?«
»Ja.«
»Weißt du noch, wie spät es war?«
»Ich bin ins Dorf hinuntergelaufen und da hab ich die Gertrud vor dem Bären getroffen, es war fast Mitternacht.«
»Und weil es dir so schlecht ging, hast du der Gertrud alles erzählt?«
»Ja.« Sie musste sich doch - ihr Höschen war zerrissen und das Blut an ihren Beinen ...
Gertrud hatte den Hauptschlüssel für das Gästehaus geholt und einen Slip, und Monika hatte sich in einem der Bäder gewaschen und Gertrud hatte den Riss in dem Kleid genäht. Und Gertrud hatte sie nach Hause gebracht, sie musste doch ihren Eltern erklären, wo sie so lange geblieben war ...
»Hast du Gertrud den Namen des - Mannes genannt?«
»Ja, ich war so durcheinander.«
Eine ganze Weile liefen sie stumm nebeneinander her. Rogge konnte sich nicht vorstellen, dass Gertrud herumgetratscht hatte, was Monika passiert war, das traute er ihr einfach nicht zu. Aber die Krakeeler-Truppe wusste Bescheid, an das höhnische Schweigen, als Monika den Bären betreten hatte, konnte er sich noch gut erinnern. Und an diese halb lüsternen, halb geringschätzigen Blicke, guck mal, die kann man sich nehmen, die lässt sich das gefallen, über die ist schon mal einer rübergerutscht ... Nein, Monika musste den Namen des Mannes nicht aussprechen, Rogge wusste, wer es gewesen war. An Monikas Stelle würde er Benno Brockes auch fürchten, der keine Hemmungen kannte, sie gnadenlos zu verprügeln, sollte sie ihn anzeigen.
»Wollen wir umkehren, Monika?«
»Ja.«
»Es bleibt dabei - von mir erfährt niemand etwas. Auch der - Mann nicht. Aber eines überlege dir bitte: Wenn du den Mann nicht anzeigst, wird er noch andere Frauen überfallen. Ohne eine Aussage seiner Opfer können wir ihn nicht hinter Gitter bringen. Ich weiß, es ist scheußlich und sogar entwürdigend, in einem Prozess auszusagen und nach den intimsten Dingen befragt zu werden, aber ich weiß nicht, ob du das nicht durchstehen solltest. Wenn du dich zu einer Anzeige entschließt, rufe mich an. Ich schicke dir eine Polizistin aus meinem Kommissariat, sie ist ebenfalls vergewaltigt worden und hat den Prozess durchgestanden, sie versteht, wie du dich fühlst.«
»Ich kann nicht ...«
»Lass dir Zeit. Du hast mir schon sehr geholfen.«
Später musste Rogge sich ein Lächeln verkneifen, Jo Thelen eilte ihnen entgegen, und die Mischung aus Empörung und Besorgnis auf seinem Gesicht reizte zum Schmunzeln; Rogge hörte, wie Monika scharf nach Luft rang.
»Guten Tag, Herr Thelen.«
»Tach!«, knurrte der junge Mann und konnte sich nicht entscheiden, ob er Rogge an die Kehle springen oder Monika umarmen sollte.
»Tut mir Leid, dass ich Monika entführen musste. Aber Sie haben doch sicher gehört, was mit Olli geschehen ist?«
»Ja, sicher ...«, stammelte Jo, aus dem Konzept gebracht.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir den Täter suchen müssen.« Thelenx verstand die Welt nicht mehr und Rogge stieß Monika an: »Danke, das war ein guter Tipp. Daran hätten wir früher denken sollen.«
»An Olli?«
»Den Wirt, Jo«, antwortete Monika schnell und nur Rogge hörte die Mischung von Angst und Erleichterung aus ihrer Stimme heraus. »Der Kommissar hat mich nach Olli und Gertrud ausgefragt.«
»Olli und Gertrud?«
»Vielen Dank, und noch einen schönen Sonntag.«
Die beiden Hunde saßen vor der Tür und schauten Rogge gelangweilt zu, wie er rasch in sein Auto stieg. An Besucher, die nichts im Hofladen erwarben, verschwendeten sie nicht einmal ein kurzes Wuff.
Auf dem Revier in Herlingen herrschte Hochbetrieb. Zwei junge Kerle in abgerissenen Jeans und geflickten Lederjacken hatten am helllichten Tag einen dreisten Wohnungseinbruch riskiert und nur die Dauer des Gottesdienstes falsch eingeschätzt. So waren sie dem Vater und dem Schwiegersohn in die Hände gelaufen - oder besser: vor die Fäuste, die den Fall erst einmal privat bereinigten, bevor sie die Einbrecher aufs Revier schleppten; jetzt wuselte die ganze Familie einschließlich dreier Kleinkinder hin und her und kaute die Szene immer wieder laut und zunehmend begeistert durch. Ein junger Wachtmeister schimpfte: »Halt doch endlich still, du blöder Hurenbock!«, und mühte sich mit Verbandsmull und Pflaster ab. Der Schichtleiter schmunzelte, und als Rogge an den einen Kerl herantrat, der immer noch nicht geschnallt hatte, was ihm geschehen war, und wie beiläufig Jacken- und Hemdsärmel hochschob, grölte der Schichtleiter vor Vergnügen: »Na klar, wissen Sie, warum die nach Herlingen gekommen sind? - Die wollten endlich mal Jnen kalten Entzug erleben.«
»Ein echtes Sonntagserlebnis«, pflichtete Rogge bei. »Kann ich mal telefonieren?«
»Nebenan.«
An Kilis Apparat flötete eine Frauenstimme: »Bei Haindl.«
»Ich fiebere dem Tag entgegen, an dem Sie das bei weglassen.«
»Jens!« Sie schrie vor Entzücken leise auf und Rogge konnte sie sich gut vorstellen: Küsschen ins Telefon hauchend und dabei auf den vor Eifersucht zerspringenden Kili schielend. Jasmin - so hieß sie - war die Rache des weiblichen Geschlechts an seinem schürzenjagenden Adlatus. Ausnahmsweise strampelte der nämlich in einem Netz und Jasmin, Diplomingenieurin der Fachrichtung Maschinenbau, zahlte ihm genüsslich heim, was Kili allen Frauen durch seine Untreue bisher angetan hatte. »Wann sehen wir uns endlich wieder?«
»Ich verschmachte auch, liebe Jasmin, aber jetzt muss ich euer trautes Beisammensein brutal beenden. Geben Sie mir bitte den Nichtsnutz.«
Kili knötterte: »Ich hab keine Bereitschaft...«
»Der gute Pfadfinder ist allzeit bereit. Du holst meine Dienstwaffe aus dem Präsidium, vergiss deine eigene nicht und in meinem Schreibtisch unten rechts liegen zwei Totschläger. Handschellen, Feldstecher, den üblichen Krams.«
»He, was ist los? Willst du einen Bürgerkrieg anzetteln?«
»Wenn’s Not tut, auch das. Und dann wartest du auf dem Revier in Herlingen auf mich.«
»Chef, hat das nicht Zeit? Jasmin ist ...«
»Jasmin liebt und verehrt Männer, die ihre Pflicht über ihr Vergnügen stellen. Frag sie ruhig!«
Nebenan hatte der Schichtleiter das Chaos unter Kontrolle bekommen: »Den Oberkommissar finden Sie bestimmt in seinem Garten ...«
Wibbeke kroch auf den Knien unter einem riesigen Busch herum und schnitt vertrocknete Halme und Zweige. Über eine Unterbrechung schien er nicht böse zu sein, teilte sogar großzügig den Kaffee aus seiner Thermosflasche und hörte sich schweigend an, was Rogge berichtete. In den Nachbargärten wurde noch fleißig gewerkelt, die beiden Männer saßen in der Sonne und genossen die Wärme.
»Glauben Sie, dass Brockes auf Sie geschossen hat?«
»Keine Ahnung. Trauen Sie’s ihm denn zu?«
»Tja«, murmelte Wibbeke unschlüssig. »Wenn ich da nur ... ich will’s mal so formulieren: Dass Benno eifersüchtig wird, weil sich die Gertrud so gut mit Ihnen versteht, kann ich mir ja noch vorstellen. Aber dass er deshalb auf Sie schießt - Nee, also, bei allem Schwachsinn, den ich Benno zutraue, das will mir nicht in den Kopf.«
»Vielleicht gibt’s noch einen anderen Grund?«
»Möglich. Aber welchen?«
»Vergessen Sie nicht, dass sich Olli und Benno ganz gut verstehen.«
»Ja, das stimmt wohl. Ich würde mal sagen: gleiches Kaliber.« Wibbeke brummte gereizt. »Olli hat gesungen wie die Nachtigall. Und den armen Eckard gewaltig reingeritten.«
»Aber weil Olli einen festen Wohnsitz hat ...«
»... ist er wieder draußen.« Wibbeke kicherte bösartig. »Ich bezweifele nur, dass er sich an diesem Wohnsitz noch lange freuen wird.«
»Die schöne Angi rafft sich auf?«
»So munkelt man.« Dabei lachte Wibbeke still in sich hinein, sein Bauch wackelte. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass dicke Erdklumpen an seiner Hose klebten, er bückte sich und klopfte sie ab. Als er sich wieder aufrichtete, schimmerte eine Spur Feindseligkeit in seinem Blick: »Herr Rogge, ist Ihnen auch aufgefallen, dass sich Angi und Gertrud gut verstehen? Und haben Sie sich schon mal gefragt, ob die Ehefrau nie etwas von der Hehlerei des Ehemannes bemerkt hat?«
Während Rogge vor dem Revier hin- und hertigerte und auf Kili wartete, kaute er mehr an Wibbekes Tonfall als an seinen Worten herum. Der versteckte Vorwurf beschwerte ihn nicht, aber ihm missfiel, dass Wibbeke plötzlich bereit schien, seine gute Meinung über Gertrud zu ändern. Hegte Wibbeke einen bestimmten Verdacht oder ärgerte er sich nur, dass ein Fremder etwas aufgedeckt hatte, was in seinem Bezirk geschehen war? Michael würde nicht ewig bleiben, Rogge musste noch mit Gertrud reden.
Kili brummte. Jasmin hatte sich über ihn lustig gemacht, jawohl, herzlos und ungeschminkt, und Rogge hatte ihm eine mühsam herbeigeführte Chance durchkreuzt.
»Hatte sie die Schuhe schon ausgezogen?«, erkundigte Rogge sich sarkastisch.
»Schuhe? Du hast es nicht mit einem Anfänger zu tun!«
»Umso besser. Wir müssen einen Schläger überrumpeln. Er hinkt, aber täusch dich nicht, er soll verdammt schnell sein.«
»Deswegen die Nahkampfausmstung, ich kapiere. Vielleicht kann mir Jasmin nachher die Wunden verbinden und dabei ihr weiches Herz entdecken.«
»Offenbaren, Kili.«
»Ein Chef hat immer das letzte Wort.«
Als sie in die Zufahrt der alten Schäferhütte einbogen, sah Rogge, dass sich eine Gardine bewegte. Wenigstens war jemand zu Hause.
Kili schaute sich um und schauderte: »Das ist ja ein grässlicher Stall.«
Benno öffnete die Tür, bevor sie ganz herangekommen waren, und stierte sie an. »Was wollen Sie?«, knurrte er und versperrte den Eingang.
»Mit Ihnen reden.«
»Ich wüsste nicht worüber.«
»Entweder lassen Sie uns herein oder wir nehmen Sie mit aufs Revier.« Rogge erklärte es ganz freundlich, aber Benno schaute auf Kili, der wie zufällig seine Waffe herausholte und durchlud, und wurde blass.
»Was soll das ...?«
»Das wirste alles hören. Drinnen, Benno.« Damit schob Kili ihn zur Seite und Benno gab nach.
Er hatte plötzlich Angst und verstand die Welt nicht mehr.
Der Wohnraum lag direkt hinter der Tür, es stank nach ranzigem Fett, links führte eine Tür in eine Küche, von der Rogge nur den bis mit Geschirr obenhin voll gestellten Ausguss sehen konnte. Das Mobiliar schien sich Benno auf dem Sperrmüll zusammengeklaubt zu haben und überall flog etwas herum,
Socken, Hemden, Handtücher, Zeitungen. Auf dem wackligen Tisch standen zusammengequetschte Bierdosen und eine fast leere Flasche Apfelkorn.
»Also, was wollen Sie?« Benno dachte nicht daran, ihnen Platz anzubieten, aber Kili räumte schon einen Sessel leer und hielt dabei einen schwarzen Spitzen-BH in die Höhe. »Schönes Stück, Benno.«
»Das geht Sie nichts an!«
»Abwarten. Mein Boss hat ein paar Fragen an dich. Hängt ganz von dir ab, wie lang wir brauchen.«
Aus Kili wurde der Riese nicht schlau, er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und runzelte die Stirn. Kili sah aus und trat auf, als sei er einem Modejournal für Männer entsprungen, tadelloser hellgrauer Anzug, dunkelblaues Hemd, Seidenkrawatte, nicht einmal das obligate Ziertuch in der Brusttasche fehlte. Solche Lackaffen stieß Benno normalerweise mit einer Hand aus der Wäsche, aber dieser Laffe legte demonstrativ die Waffe auf den Tisch und juchzte dabei so fröhlich, dass man nicht wusste, was ihm gleich noch einfiel. Benno ahnte nicht, dass es Kili gerade auf diesen Eindruck anlegte. Benno ließ sich auf einen der quietschenden Sessel nieder und griff nach einer Bierdose.