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»Wenn da drinstehen würde, dass es Hinweise auf die Identität des flüchtigen Fahrer gibt, die jetzt durch Zufall ans Licht gekommen sind - nichts dagegen.«
»Und mehr nicht?«
»Wie ich Sie einschätze, können Sie schon aus der Tatsache, dass ich vor Ihnen sitze, einen Aufmacher schreiben.« Absichtlich hatte Rogge es in seinem trockensten Ton vorgebracht, aber Ilse Matussek besaß ein dickes Fell und entschied selbst, wer sie beleidigte.
»Okay, kapiert, Sie wollen den ehrwürdigen Stockerboten missbrauchen und eine Mine legen.«
»Soll ich aus Prinzip widersprechen?«
»Nein.« Sie lachte kurz. »Sogar bis zu uns hat sich schon herumgesprochen, was mit dem Bärenwirt geschehen ist. Und dass Olli Lohse den Sohn seiner Frau nie leiden mochte, ist bekannt. Es gab sogar böse Gerüchte, dass er ihn selbst überfahren hat, aber natürlich haben wir uns gehütet, das zu schreiben. Verdächtigen Sie Olli?«
»Nein«, erwiderte Rogge bedächtig, »nicht Olli. Der ist viel zu gerissen. Aber Olli hat Freunde und Helfer.«
»Einen Namen wollen Sie mir nicht nennen? Zuflüstern? Unter dem dicksten Siegel größter Verschwiegenheit anvertrauen?«
»Nein. Aber vielleicht sollten Sie mich mit der kryptischen Bemerkung zitieren, dass ich nicht an einen Fahrer von auswärts glaube, der zufällig die Landstraße von Herlingen nach Stockau benutzt hat. Dass ich durch reinen Zufall herausgefunden habe, dass es Frauen gibt oder gegeben hat, die von Martin Lohses Existenz nicht begeistert waren.«
»Dieser Zufall hat sich im Zusammenhang mit den Ereignissen im Bären ergeben?«
Einen Minute prüfte Rogge ihre Miene aufmerksam. Sie konnte giftig, gallig und gehässig sein, aber gerade weil sie das so offen zu erkennen gab, entschloss er sich, ihrer Intelligenz und Korrektheit zu vertrauen.
»Ja«, brummte er deshalb und erhob sich vorsichtig. Trotzdem knarrte das Bodenbrett erschreckend laut. »Vielen Dank, Frau Matussek.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal hereinschauten. Ihre Furcht ist übrigens unbegründet. Mein Chef wiegt an die drei Zentner und das Haus steht immer noch.«
Vor der Zimmertür hielt Rogge unwillkürlich einen Moment inne, diese Wände und Decken bildeten doch kein Rechteck mehr, sondern schon eine Raute, und die Journalistin nutzte ihre Chance: »Sie haben doch nicht wegen Ollis Schiebereien im Bären gewohnt?«
Schmunzelnd drehte er sich um; zuckersüß himmelte sie ihn an und ließ den Bleistift über dem Stenoblock wippen. »Nein. Das war sozusagen ein Abfall-Ergebnis. Ich sollte die Identität der Frau feststellen, die im vorigen September auf dem Parkplatz Feltenwiese gestrandet ist.«
»Und? Hatten Sie Erfolg?«
»Natürlich.« Angesichts Rogges prahlerischem Ton schnaufte sie. »Sie heißt Charlotte.«
»Charlotte und wie weiter?« Ilse Matussek stenographierte ausgesprochen schnell.
»Das erzähle ich Ihnen bei meinem nächsten Besuch.« Vor ihrem Protest hob Rogge lachend beide Hände. »Die Geschichte geht nämlich noch weiter ... Nein, alles andere später.«
Wibbeke verbarg seinen Unmut nicht. Die Szenen, die sich bei dem verunglückten Bus abgespielt hatten, waren ihm an die Nieren gegangen und Rogges Eigenmächtigkeit strapazierte seine Geduld bis zum Äußersten. Nach einem flüchtigen Blick hatte er Rogge die Artikel unwirsch zurückgegeben.
»Alles bekannt.«
»Gertrud behauptet, Olli habe nie erfahren, wer Martins Vater war.«
»Gut möglich.«
»Es war Adalbert Fuhrmann.«
»Was? Der Arzt? Das ist doch Blödsinn!«
»Nein. Angi war seine Patientin, als es passierte, sie hat es Gertrud gestanden, und Gertrud hat keinen Grund, mich zu belügen.«
»Fuhrmann? Mit einer Patientin? War Angi überhaupt volljährig, als sie geschwängert wurde?« Wibbeke hatte Mühe, seine Gedanken von dem Busunglück loszureißen und sich auf Rogge zu konzentrieren.
»Warum nicht? Als Arzt war er besonders leicht verwundbar. Oder erpressbar. Was, Herr Wibbeke, wenn seine Frau eines Tages doch dahinter gekommen ist und Martin, den Sohn, den sie nie hatte, nie bekommen konnte, überfahren hat?«
»Sehr weit hergeholt, Herr Rogge.«
»Dann quartiere ich mich aus einem ganz anderen Grund im Bären ein. Erzähle Gertrud absichtlich, wer ich bin. Die berichtet es Monika Ziegler, die Arzthelferin erzählt es wiederum ihrem Chef und der plaudert es ganz harmlos vor seiner Ehefrau aus.«
»Und die wird nervös, meinen Sie.« Wibbeke verpackte seinen Hohn nur schlecht.
»Möglich, nicht wahr? Warum ist denn sonst auf mich geschossen worden?«
»Moment mal, Sie trauen der Fuhrmann - das halte ich für ausgeschlossen.«
»Wirklich? Ich bin ihr einmal begegnet, und wenn die Frau nicht bis zur Halskrause mit Hass oder Angst abgefüllt ist, gebe ich meine Hundemarke zurück.«
»Aber deswegen schießt man doch nicht ...«
»Wenn sie mich nun gar nicht treffen wollte? Sondern nur verscheuchen?« Wibbeke grunzte Protest, aber Rogge ließ sich nicht beirren. »Benno leugnet stur, auf mich geschossen zu haben.«
Eine ganze Weile grummelte Wibbeke etwas Unverständliches vor sich hin. »Na gut, und wenn sie den Stockerboten liest ... Soll ich Ihnen etwas gestehen?«
»Sie haben bis jetzt heimlich Olli verdächtigt, das Kind seiner Frau umgebracht zu haben.«
»Stimmt. Und mal ganz undienstlich, Herr Rogge: Ich hätt’s ihm seinerzeit gerne angehängt.«
»Daran zweifele ich keine Sekunde.«
»Sie haben übrigens Glück gehabt, dass Sie die Matussek angetroffen haben, sie ist die einzig Vernünftige in dem Idiotenzirkus da drüben.«
Kriminalrat Simon war nicht zu sprechen. Angeblich eine Konferenz, die gerade begönne, nein, täte ihm Leid, erst in der nächsten Woche wieder. Verstimmt legte Rogge auf und trat ans Fenster. Keine Silbe hatte er Simon eben geglaubt. Seinen Bericht würde er noch schreiben, aber dann durfte ihm der Kriminalrat im Mondschein begegnen, dann war Schluss, noch länger ließ er sich nicht wie eine Figur auf einem Schachbrett hin und her schieben. Obwohl ... Er griente schräg. Diese Kombination aus Urlaub und Ermittlung hatte ihm gut getan, das konnte er nicht leugnen, er hatte Abstand gewonnen und schon viele Tage nicht mehr an den verrückten Jungen gedacht, der mit der Pistole in der Hand auf ihn losgestürmt war. Man konnte über Simon meckern und schimpfen, aber er nahm Rücksicht auf die Eigenarten seiner Leute.
Kili hatte Witze reißen wollen: »Hast du etwa versucht, damit deinen Kaffee zu filtern?«, dann aber alle Eide geschworen, den Inhalt der Diskette erstens sauber auszudrucken und zweitens vor jedermann zu verschweigen und geheim zu halten, was immer passiere.
»Auch vor jederfrau!«
»Denkst du dabei zufällig an Jasmin?«
»Genau das tue ich.«
Bis zur Abendbesprechung hatte Rogge seinen dritten Bericht getippt, korrigiert und gedruckt. Kollege Klaus Schubert hatte sich zum Dienst zurückgemeldet, zusammen mit Peter Dingeldey biss er sich die Zähne an einem mehr als verqueren Fall aus: Ein allseits verhasster Hausmeister war schwer verletzt im Waschmaschinenkeller gefunden worden, aber kein Mieter wollte etwas gehört oder gemerkt haben, obwohl jedem die Schadenfreude aus allen Knopflöchern leuchtete.
Binnen Stunden trabte Rogge wieder voll im Kommissariats-Trott, und weil Kili wohl gewarnt hatte, erkundigte sich niemand, was der Chef in den vergangenen Tagen gemacht hatte. Zum Ausgleich deponierten sie mit faulen Ausreden ihre Akten auf seinem Tisch; die Wochenendarbeit ärgerte ihn, andererseits freute ihn, dass sie ihm vertrauten und selbstverständlich vom Chef Hilfe erwarteten.
Auch Grem schaute »rein zufällig« vorbei; Rogge seufzte, diese Begegnung hätte er gerne vermieden, aber weil der Flurfunk wahrscheinlich mit höchster Leistung sendete, wollte Rogge Grem nicht mit Ausflüchten abspeisen. Dass er Inge Webers Namen herausgefunden hatte, beeindruckte Grem und vergrätzte ihn zugleich; sein verkniffenes Gesicht hellte sich auf, als er hörte, dass Inge Weber/Charlotte Zinneck abgetaucht war: »Also hat sie doch simuliert.«
»Gut möglich«, räumte Rogge ein.
»Ich hab’s Simon immer wieder vorgetragen, aber der wusste es natürlich besser.«
Einen Moment überlegte Rogge, aber Grem strahlte vor guter Laune und Schadenfreude, und deshalb riskierte Rogge es: »Sag mal, Grem, ist dir oder deinen Leuten eigentlich aufgefallen, dass sich noch jemand für Inge Weber interessierte?«
»Na klar doch! Nach dieser blöden Fernsehsendung! Plötzlich kurvten da ganz merkwürdige Typen herum und stolperten meinen Leuten über die Füße.«
»Journalisten?«
»Die auch. Ganz schräge Vögel. So hat der Knatsch mit Simon doch begonnen, ich bin den Leutchen kräftig auf die Zehen getreten und einer hat sich wohl bei Simon - oder noch weiter oben — beschwert.«
»Davon steht aber nichts in deinen Akten.«
»Nee, warum auch? Ich musste bei Simon antanzen und der hat mir eine dicke Zigarre verpasst. Behinderung der Presse, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte und so weiter, und zum Schluss Anweisung, mich von der Weberin zurückzuziehen.«
»Nach PDV wohl ganz korrekt«, sinnierte Rogge laut.
»Scheiß auf die Polizeidienstvorschrift! Die Frau hat uns alle an der Nase herumgeführt ...«
»Was nicht unbedingt strafbar ist.«
»Irreführung der Behörden, Erschleichung von Sozialhilfe, Führen eines falschen Namens.«
»Moment, Grem. Nur wenn die Weberin von Anfang an simuliert hat, hättest du Recht.«
»Hör auf! Das kenne ich bis zum Erbrechen von Simon.
Mehrere Gutachten von renommierten Sachverständigen, ohne Zweifel totale Amnesie, kein Staatsanwalt wollte ran, kein begründeter Verdacht auf eine Straftat, also Finger weg von der Weberin.«
»Ja«, murmelte Rogge zerstreut, »diese anderen Typen — das waren nicht nur Journalisten?«
»Wahrscheinlich nicht. Privatdetektive, Sensationsjäger, vielleicht auch schlicht Perverse, was weiß ich.«
»Hm. Und jetzt mal vertraulich unter uns Simon-Opfern: Hast du dich an seine Anweisung gehalten?«
»Bin ich verrückt? Natürlich nicht!«
Darauf nickte Rogge nur unverbindlich, aber Grem war noch nicht fertig: »Bis Simon mir den Fall offiziell weggenommen hat. Das verüble ich ihm, das werde ich ihm auch so schnell nicht vergessen.«
An der Tür drehte sich Grem noch einmal um, seine gute Laune sank schon wieder: »Ich hab auch so eine Idee, wer mich angeschwärzt hat, weil ich die Weberin weiter überwachen ließ.«
»Ach ja?«
»Das war dieser Weißbart.«
»Wer ist Weißbart ... Du meinst den Gerichtsreporter vom Tageblatt? «
»Genau der. Weißt du, mit wem der befreundet ist?«
»Du meinst Rolf Kramer.«
»Genau. Und dieser windige Privatdetektiv ist ein Spezi von dir, nicht wahr?«
»Willst du jetzt Sippen- und Freundschaftshaftung einführen?«
»Es ist immer gut zu wissen, wer mit wem zusammen kungelt.« Die Tür knallte ins Schloss, Grems Blutdruck hatte wieder die übliche Höhe erreicht.
Während der Abendbesprechung saß Rogge geistesabwesend auf der Fensterbank und hörte nur mit einem Ohr zu. Trotz seiner starken Sprüche war Grem ein guter Polizist, doch für Diplomatie und bürokratische Winkelzüge besaß er kein Gespür. Nicht einmal hatte er über den merkwürdigen Widerspruch nachgedacht, dass Simon ihm den Fall weggenommen und einem anderen Beamten übertragen hatte. Denn dann hätte Grem auch zu dem Schluss kommen müssen, dass Simon nicht die Tatsache der Ermittlung, sondern nur Grems Methode, die massive Überwachung der Weberin, kritisiert hatte.
»Chef, kennst du den Witz von der Frau, die ihren Mann fragt, warum er denn so lange habe arbeiten müssen, und der sagt, nix Überstunden, sondern eine besondere Gemeinheit der Kollegen, die ihn bei Dienstschluss nicht geweckt hätten.« Kili reckte das Kinn in die Flöhe und schielte dabei auf Petra Steiniger.
»Den kenne ich, Kili«, erwiderte Rogge friedfertig.
Kirchbauer schnaufte: »So, wer übernimmt freiwillig Wochenendbereitschaft?«
Alle Köpfe drehten sich zu Rogge, der von der Fensterbank herunterrutschte und freundlich abwinkte: »Ich muss noch etwas erledigen.«
Die Staatsanwältin studierte zuerst die Speisekarte, fingerte dann am Gürtel ihres Kleides herum und musterte Rogge endlich finster: »Weißt du, was du bist?«
»Nix, liebe Dörte, das Wort Sadist weise ich weit von mir. Du hast Kleid und Gürtel ausgesucht.«
»Bist du eigentlich immer im Dienst?«
»Du meinst, weil ich meinen scharfen Blick nicht an der Garderobe abgebe?«
»Himmel hilf!«, stöhnte sie laut auf; am Nebentisch drehte sich ein Paar beunruhigt um. »Was zum Teufel willst du eigentlich von mir?«
»Was soll ein Mann von einer schönen Frau schon wollen?«
»Im Moment stelle ich die Fragen, Angeklagter.«
»Aber ich sitze auf dem Zeugenstuhl, Frau Staatsanwältin.«
»Nicht mehr lange.«
»Richtig. Ich sitze nicht mehr lange still. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, laufe ich zum Bahnhof. Da gibt’s fantastische Reibekuchen, so richtig schön kross in Fett gebraten ...«
»Kein Wort weiter!«
Nach dem Vorgeplänkel bestellte sie und Rogge amüsierte sich über ihre Zungenspitze, die voller Vorfreude über ihre Lippen huschte. Dörte liebte gute Restaurants und aufmerksame Bedienung, viele kleine Gänge und französische Rotweine, und die innere Wärme stimmte sie heiter, so vergnügt, dass sie beim Kaffee und Cognac seine Attentatspläne auf die geheiligten Prinzipien der Staatsanwaltschaft gelassen, sogar mit einer Spur Wohlwollen ertrug,
»Ich versuche, Jens, aber große Hoffnungen kann ich dir nicht machen.«
»Simon verschweigt mir einiges ... Ja, kein Einwand, du hast mich vor ihm gewarnt, aber wenn er angewiesen worden ist, Grem von dem Fall zurückzuziehen, muss es einer deiner Kollegen angeordnet haben.«
»Nein, muss nicht. Es kann auch über euren Präsidenten gelaufen sein.«
»Ja, möglich. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Denn das würde heißen, dass sich irgendjemand - eine Behörde, ein Amt - außerhalb unseres Gerichtsbezirks für den Fall Inge Weber interessiert.«
»Kommt dir das ganz ausgeschlossen vor?«
Dass Dörte mit ihren blind gefeuerten Schüssen so oft ins Schwarze treffen musste! Die Logik sagte ihm, dass es unwahrscheinlich war, aber sein Gefühl piesackte ihn, eben das zu vermuten. Wer sollte denn diese Typen geschickt haben, die ihn verfolgt hatten, die er beinahe vor Schönborns Villa gestellt hatte - aber eben nur beinahe? Wer hatte ihn in der Weber-Wohnung so fachmännisch außer Gefecht gesetzt?
Sein unglückliches Gesicht verriet ihn, Dörte lachte auf und streichelte seine Hand: »Jens, ich hör mich im Amt um, das ist versprochen, aber zu mehr kannst du mich nicht überreden.«
XV.
»Ja?«
»Hier ist Kuckuck. Wir haben seit zweiundsiebzig Stunden keine Nester mehr gefunden. Sollen wir weitermachen?«
Seit drei Tagen keinen Kontakt mehr. Das hieß, die anderen hatten sich zurückgezogen. Höchstwahrscheinlich.
»Wie viele brütende Paare waren es zum Schluss?«, erkundigte Jockel Pertz sich vorsichtshalber,
»Drei.«
Sechs Leute. Ein teurer Spaß, um die 50 Mille pro Monat. Mal zwölf, rund eine halbe Million. Das ging ins Geld. Jeder vernünftige Kaufmann setzte sich ein Limit und eine halbe Million klang nach einem kalkulierbaren Einsatz, einer Summe, die man aufwenden konnte, vielleicht sogar riskieren musste.
Sie hatte ein Taschentuch herausgeholt und wischte Pertz den Lippenstift ab. Dass sie schweigen musste, wenn er diesen haften Blick bekam und seine Backenmuskeln spielten, hatte sie gelernt. Und noch einiges mehr, von dem er hoffentlich nichts ahnte. Deswegen versuchte sie gar nicht erst zu lauschen, sondern glitt von seinem Schoß und tappte lautlos zur Tür, wo sie wartete, die Hand auf der Klinke.
»Okay, wir machen Schluss.«
»Verstanden, Ende.«
Pertz legte auf und sie huschte durch die Tür.
Nach dem Telefongespräch hatte Pertz den Apparat umgestellt und sein Arbeitszimmer abgeschlossen, um ungestört Akten zu lesen. Wie immer bei solchen Aktionen war viel Papier zusammengekommen, aber die Aussagekraft verhielt sich umgekehrt proportional zur Menge. Deshalb hatte er sich angewöhnt, bei der ersten Lektüre die wirklich wichtigen Passagen rot zu unterstreichen, und mit diesen Stellen wäre er in zwanzig Minuten fertig gewesen.
Für die Existenz dieser Liga gab es nur drei dürftige, halbwegs sichere Beweise: die Auswertung der mitgeschnittenen Telefongespräche, die Berichte ihres V-Mannes, die Aussage eines Mitarbeiters, der zufällig Zeuge einer Auseinandersetzung in einem Drei-Sterne-Restaurant geworden war. Die V-Mann-Rapporte legte er vorerst zur Seite. Nach den Transkripten der vom BND aufgezeichneten Telefongespräche existierte eine Gruppe, ein loser Zirkel, der sich den Namen Liga gegeben hatte, aber abgesehen von der Tatsache, dass seine Mitglieder etwas mit Import und Export, Wirtschaft und Finanzen, Industrie und Forschung zu tun hatten, waren Größe, Organisation und Zielsetzung völlig vage geblieben. Für die sieben namentlich identifizierten Mitglieder hatten sie eine vergleichende Recherche nach Gemeinsamkeiten angestellt: Schule, Universität, studentische Verbindungen, Ausbildung, Sportclubs, Hobbys, Vereine. Das Ergebnis fiel negativ aus. Auch die so genannten Lebenskreise überschnitten sich nicht so, dass wie bei der Mengenlehre eine allen gemeinsame Schnittmenge übrig blieb.
Genauso unergiebig war die Literaturrecherche ausgefallen. Aus den unendlichen Mengen von Artikeln, Broschüren, Flugblättern, Zirkularen, die mit Fleiß und hohem Aufwand gesammelt wurden, ließ sich keine Organisation extrahieren. Das musste nichts zu bedeuten haben, vorsichtige Menschen mieden schriftliche Aussagen, erst recht, wenn sie zwar gemeinsame Interessen verfolgten, aber keine einheitliche ideologische Basis besaßen. Ihr Ohrenzeuge hatte, wenn man kritisch las, nur einen wichtigen Satz beigesteuert, den erregten Vorwurf eines Unternehmers: »Wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da einlasse, hätte ich nie einen Finger für diese verdammte Liga gerührt.«
Den Sprecher hatten sie ausfindig gemacht und nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet. Er hatte Schulden, er betrog das Finanzamt und seine Frau, er zahlte Schmiergelder an das Wasserwirtschaftsamt. Alles in allem hässliche Flecken auf der weißen Weste, aber weder größer noch schwärzer als bei vielen anderen auch, die nicht unter dem Verdacht standen, einer verfassungsfeindlichen Organisation anzugehören und gezielt gegen das Waffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz zu verstoßen.
Blieb also nur der V-Mann. Wenn man seinen Berichten Vertrauen schenken konnte, hatte er sich unter Berufung auf die Liga in einen Kreis eingeschlichen, dem tatsächlich ungesetzliche Aktivitäten nachzuweisen war, wobei offen blieb, welches Ziel die Mitglieder wirklich verfolgten: Füllten sie sich nur die eigenen Taschen oder finanzierten sie eine politische Idee?
Jockel Pertz lehnte sich zurück. Mehr als einmal hatte er sich den ketzerischen Gedanken verboten: Gab es die Liga überhaupt? Die Tonbänder hatte er nie gehört, sondern nur die Abschriften gelesen. Mit dem Mitarbeiter war er nie zusammengetroffen, um sich selbst einen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Blieb der V-Mann, dessen Tipps lange Zeit zu etwa neunzig Prozent gestimmt hatten - in diesem Gewerbe eine ungewöhnlich hohe Trefferrate. Vielleicht zu hoch, um nicht vorsichtig zu werden. Der Trick war beliebt: Ein Doppelagent festigte seinen Ruf durch anfänglich hervorragende Informationen; im Laufe der Zeit nahm die Zahl der richtigen Informationen ab, die der gezielten Falschinformationen zu. Was hier allerdings nicht zutraf. Die Zahl der Informationen war bei konstanter Trefferquote kontinuierlich gesunken. Zu dieser Aussage hatte Pertz das Trio Ellwein, Gönter und Weinert regelrecht zwingen müssen und selbst jetzt war Pertz sich nicht sicher, ob sie ihn nicht belogen hatten, und zwar aus einem allen gemeinsamen, wenn auch voreinander verschwiegenen Motiv: Sie ahnten das Ende der Aktion und hatten die Kooperation in Gedanken bereits aufgekündigt, behielten deshalb all jene Erkenntnisse für sich, die in Zukunft für ihre »Mutter«-Dienststellen wichtig werden konnten.
Wie sich überhaupt gezeigt hatte, dass der Egoismus der Dienste und Ämter eine wirklich vertrauensvolle Zusammenarbeit erschwerte.
Nun gut! Pertz rieb sich die Augen. Die Liga existierte, aber sie hatten den Kontakt verloren. Wiederum zwei mögliche Erklärungen: Der Laden hatte sich so gut getarnt, dass nach dem Ausfall des V-Mannes die Abschottung perfekt funktionierte. Oder die Gruppe hatte sich aufgelöst, weil sie nach dem ersten Einbruch in ihren inneren Kreis misstrauisch, übervorsichtig geworden war.
Nebenan hatte die Frau sich an den Flügel gesetzt und Pertz ließ sich eine halbe Minute ablenken. Schubert, ein Impromptu. Warum sie bei ihrem Talent die Ausbildung abgebrochen hatte, verstand er bis heute nicht. Eine Verschwendung von Begabung und Mühe, diese Überlegung bedrückte ihn immer wieder.
Viele der Entscheidungen, die Pertz treffen musste, fielen nach Aktenlage und manchmal fühlte er sich dabei wie ein Mann in einem großen, völlig finsteren Saal mit vielen Ausgängen. Hatte der andere bereits lautlos den Raum verlassen? Oder lehnte er immer noch irgendwo an der Wand und wartete mit endloser Geduld ab, was geschehen würde? Selbst Erfahrung führte da nicht viel weiter, es blieb immer eine Mischung aus wenigen Fakten, Intuition und Erinnerung an viele Niederlagen und einige wenige Erfolge. Das Trio Ellwein, Gönter und Weinert hatte sich, jeder einzeln, strikt geweigert, ihm bei dieser Entscheidung zu helfen. Seine Intuition sagte Pertz, dass sich der Kreis aufgelöst hatte. Entweder waren alle Spuren bereits verwischt — oder die letzte gemeinsame Aktivität bestand zurzeit darin, gefährliche Zeugen auszuschalten und mögliche Beweise zu vernichten. So oder so - es lohnte keine Mühe mehr.
Sorgfältig räumte er die Akten in den kleinen Tresor. Wie immer litt er unter dem Zwiespalt von Erleichterung darüber, dass er sich durchgerungen hatte, und nagendem Zweifel, er könnte etwas übersehen haben.
Petra hörte auf, als er ins Zimmer kam und vor dem Flügel stehen blieb.
»Du siehst unglücklich aus, Jockel«, flüsterte sie zärtlich.
»Unglücklich? - Nein. Unglücklich bin ich nicht. Unruhig.«
»Warum? Meinetwegen?«
Er lächelte trübe, während sie aufstand und die Träger ihres Hängerkleids über die Schultern streifte. Zwei Jahre hatte er sich gegen sie gewehrt, weil er nicht begriff, was sie an ihm fand, und sich zugleich trotz des beruflichen Misstrauens mit allen Fasern nach ihr sehnte.
Sie hakte den BH auf und er zog sie an sich. Weil er ein zärtlicher Liebhaber war, schlief sie gerne mit ihm und schämte sich manchmal, dass sie ihn ausspionierte. Aber dafür wurde sie gut bezahlt, und wozu ihre Informationen dienten, wollte sie gar nicht wissen.
Samstag, 30. September
Das Telefon riss Rogge aus dem tiefsten Schlaf, wütend grabbelte er nach dem Wecker: Viertel nach drei. Welcher Idiot im Präsidium hatte da wieder nicht auf die Liste geschaut?
»Ja?«, grollte er los.
»Herr Rogge? Hier ist Inge Weber. Oder Charlotte Zinneck.«
Zuerst verstand er gar nichts, und das nicht nur, weil die heisere Stimme flüsterte. Noch benommen vom Schlafdusel traute er seinen Ohren nicht. »Wer?«
»Charlotte Zinneck.«
Das war nicht wahr! Das konnte nicht sein!
»Hören Sie mich?«
»Ja«, krächzte er, die Stimme dick belegt.
»Ich brauche Hilfe.«
»Was?«
»Bitte! Die sind hinter mir her.«
»Wer ist ... wo sind Sie?«
»In einem Motel. Am Bellhorner See.«
»Das kenne ich.«
»In einem fremden Zimmer, die Nummer weiß ich nicht, ganz außen. Da habe ich mich versteckt.«