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Seine Schlafgeister verflogen.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Die Stimme zitterte, gleich würde sie zu weinen beginnen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. »Ich habe Angst.«
Wenn sie schauspielerte, verdiente sie einen Preis.
»Können Sie nicht kommen? Bitte!«
Eine großartige Idee. Mal eben an den Bellhorner See rauschen und den Helden spielen ...
»Kann Ihnen das Personal nicht helfen?«
»Ich weiß nicht - es ist dunkel, ich trau mich nicht, Licht zu machen.« Das klang nach beginnender Hysterie, mit ihrer Nervosität steckte sie ihn regelrecht an.
»Okay, nur ganz ruhig, ich finde Sie. Bleiben Sie jetzt in der Nähe des Telefons. Eine Stunde, okay?«
»Ja ... ja ... sicher.«
»Bis gleich!« In fliegender Eile zog Rogge sich an und verwünschte die drei Cognacs, zu denen Dörte ihn verführt hatte. Und fluchte noch einmal, als er feststellte, dass er nur ein gefülltes Magazin für seine Dienstwaffe besaß.
Bis zum Beilhorner Stausee stellte Rogge einen neuen Rekord auf. Die Dämmerung kündigte sich an, es würde ein grauer Tag werden, die Wolken hingen dicht über dem Wasser, es war windstill und schwülwarm. Weil Rogge keine Zeit verlieren wollte, fuhr er direkt auf den Parkplatz. Der Eingang des Motels war verschlossen, zornig rüttelte er an der Tür, zwecklos, bis er jemanden vom Personal geweckt hatte ... Er rannte nach links, um den einstöckigen Flügel herum. Ganz außen, hatte sie gesagt. An der Ecke musste er über den Zaun klettern, noch war es zu dunkel, sollte sich jemand im Garten verbergen, würde er ihn nicht sehen können - das äußerste Zimmer. Fenster und Verandatür verriegelt, kein Licht, die Vorhänge nicht vorgezogen, er klopfte hastig, zweimal, dreimal, drinnen rührte sich nichts.
»Charlotte!«, rief er unterdrückt.
Keine Reaktion. Also das Zimmer auf der anderen Seite der L-förmig gebauten Anlage? Quer durch den dunklen Garten? - Oder ließ er sich von ihr verrückt machen? Warum glaubte er ihr unbesehen? - Wenn er an den Terrassen vorbeischlich, bestand Gefahr, dass Motelgäste ihn zufällig sahen und Alarm schlugen - oder sollte er das herausfordern? Und dann war da niemand, nur ein spinnerter Hauptkommissar ...
Er spurtete los, raste quer über die Beete, zertrampelte Blumenrabatte, sprang über niedrige Sträucher und hörte plötzlich zweimal ein mattes Plopp. Oder bildete er sich das nur ein? Seine Lungen stachen, die Luft wurde knapp, er sollte weniger rauchen, es konnte aber auch die Furcht sein - noch ein Plopp, in der Stille erschreckend laut, endlich warf er sich auf die Steine der Veranda vor dem Eckzimmer.
»Charlotte!«, keuchte Rogge. Die schlimmsten Alpträume wurden wahr, aber dann öffnete sich wie von Zauberhand die Tür, er kroch auf allen vieren durch den Spalt, sie drückte die Tür schon zu und schrie unterdrückt auf, als das Glas splitterte und knirschte. Ohne zu überlegen griff Rogge nach ihren Beinen und riss sie um, sie schrie vor Schreck oder Schmerz, als sie auf ihn stürzte, keine Zehntelsekunde später hörten sie zwei dumpfe Aufschläge, der Schütze hatte das Holz getroffen.
»Nicht bewegen!«, zischte Rogge und das unangenehm hohe Jammern brach ab.
»Ruhe!«
Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig. Absolute Stille. Eine Minute. Im Motel rührte sich nichts. Wie viel Zeit hatten die Männer draußen noch? Eine halbe Stunde, bis es zu hell geworden war? Langsam schob er die Frau zur Seite.
»Nicht aufrichten! Kriechen Sie zwischen Bett und Wand! Und halten Sie den Kopf unten, was immer passiert!«
»Ja«, flüsterte sie.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem erkannte er sie nur schemenhaft. So leise sie sich auch bewegte, das Kratzgeräusch übertönte alles. »Psst!«
Wieder Stille. Er holte die Waffe aus dem Halfter, entsicherte, lud durch, das Schnappen dröhnte erschreckend laut. In seinen Ohren rauschte das Blut - und dann ein kaum vernehmbares Knacken. Als ob jemand auf einen verdorrten Ast getreten war, gar nicht weit entfernt.
Millimeterweise hob Rogge den Kopf, bis er über den unteren Holzrand der Verandatür schauen konnte. Am Horizont zeichnete sich ein dunkelgrauer Streifen ab. Ihm stockte der Atem. Vor diesem Hintergrund bewegte sich, wie aus dem Boden gezaubert, eine dunkle Gestalt, ein Mann, der im schrägen Winkel auf die Veranda zu schlich. Seine Silhouette veränderte sich, der Mann drehte den Kopf zur anderen Seite, Rogge folgte der Bewegung, eine zweite schwarze Figur näherte sich von rechts, bog ab, als wolle sie im Schutz der Hauswand neben die Verandatür gelangen. Wenn er diese Deckung erst einmal erreicht hatte - mehr aus Instinkt als Überlegung riss Rogge seine Waffe hoch und feuerte durch das Glas, einmal, die linke Figur schwenkte nach rechts, die rechte erstarrte, der Mann links hob den Arm in Rogges Richtung, Rogge glaubte zu ersticken. Ein Albtraum wurde wahr, an die Bewegung des jungen Rumänen erinnerte Rogge sich wie in einer grotesk überdehnten Zeitlupe, das durfte ... Er zielte und wusste dabei glasklar, dass er jetzt aus Panik handelte. Der Schuss peitschte in seinen Ohren, der Mann stockte, ließ den Arm sinken, fiel um wie eine schlaffe Stoffpuppe und dann bemerkte Rogge in den Augenwinkeln, dass die rechte Figur in langen Sätzen davonsprang.
Irgendwo im Motel regte sich etwas. Bei diesen dünnen Wänden musste jemand von den Schüssen aufgewacht sein ...
»Los, raus! Wir müssen weg!«
Erst jetzt registrierte Rogge, dass Charlotte Zinneck wimmerte.
»Los!«
Dann stand sie neben ihm, keuchend vor Angst, und er zerrte sie rücksichtslos auf die Veranda.
»Was ist - was war ...«
»Später, wir müssen weg, bevor der zweite Mann Hilfe geholt hat.«
Trotzdem nahm Rogge sich die Zeit, kurz bei dem umgefallenen Mann niederzuknien. In seiner Angst hatte er nur zu gut gezielt, den Griff nach der Halsschlagader brauchte er gar nicht. Den Toten kannte er nicht. Ein mittelgroßer Mann, Mitte dreißig, sportlich und muskulös. Haare kurz geschnitten, nach der Erscheinung kein Schläger. Wahrscheinlich maßgeschneiderter Anzug. Seidenkrawatte. Eine Rolex.
Hastig durchwühlte Rogge die Taschen. Goldenes Feuerzeug, silberner Kugelschreiber und ledergebundener Notizblock mit leeren Seiten, fast 6.000 DM in bar, aber keine Ausweispapiere. Beim Blick auf die Waffe hielt Rogge unwillkürlich die Luft an; dieses Modell hatte er schon einmal gesehen, Heckler & Koch mit hülsenloser Munition.
Jetzt wurde es von Minute zu Minute heller. Weit entfernt klappten mehrere Autotüren.
»Kommen Sie!«
Hand in Hand rannten sie Richtung See, sie greinte, schluchzte, wenn sie stolperte und er sie einfach weiterschleifte. Das Motel besaß einen eigenen Bootsanleger, von dort führte eine Holzbohlenbrücke zu einem Liegeplatz, sie mussten noch eine Stunde überstehen, dann war es hell ... Als Rogge sich einmal umdrehte, ahnte er vor dem dunkelgrauen Hintergrund mehrere schwarze Schatten, die auf das Motel zustürmten. Verdammt, war hier eine ganze Kompanie angetreten?
Die Stiche in der Seite brachten ihn bald um. Auch Charlotte Zinneck keuchte, japste nach Luft. Die Boote vor ihnen waren zu klein.
»Da rüber!«
Auf den Bohlen dröhnten ihre Schritte wie Silvesterböller. Jetzt nicht schlappmachen, ohne Überlegen entschied er sich: »Das große Boot!«
»Wo?«
An einer Stelle war die Plane über dem Cockpit nicht festgezurrt, wie hatte er das überhaupt in diesem Zwielicht sehen können? Sie hatte noch nichts begriffen, mit einer Hand hob Rogge die Plane an, beugte mit der anderen rücksichtslos ihren Kopf nach unten und stieß sie vorwärts: »Rein!«
Wie ein Sack fiel sie in die Vertiefung, Rogge folgte ihr, trat ihr auf den Arm, sie stöhnte laut auf, aber zu Entschuldigungen war jetzt keine Zeit, warum war diese verdammte Plane so sperrig, er kratzte sich die Fingerkuppen blutig, krallte und ruckte, endlich gab sie nach, glitt wieder in die alte Position. Hinter sich hörte er sie leise weinen.
Hoffentlich schwankte das Boot nicht - »Um Gottes willen, nicht bewegen!«
Der Rumpf kam zur Ruhe, jetzt konnte Rogge sich nur noch auf seine Ohren verlassen, aber die Stille war nicht weniger bedrohlich als vorhin das Knacken. Was würden die Männer tun? Sie schienen rücksichtslos und zu jedem Risiko bereit, aber wenn Rogge die Motelgäste mit den Schüssen aufgeweckt oder das Personal alarmiert hatte ...
Wie viel Zeit verstrichen war, vermochte er nicht zu schätzen, als er die leisen, verstohlenen Geräusche hörte. Quälend
langsam kamen sie näher, vorsichtige Schritte auf der Bohlenbrücke, sie hielten inne. Von der Brücke zweigten die Stege ab, wenn er die Schritte so genau hörte, konnten die Männer nicht weit entfernt sein. Gemurmel, die beiden sprachen miteinander, zu leise, um etwas zu verstehen. Dann trennten sie sich wohl, ein Schrittgeräusch entfernte sich, ein anderes kam näher, Rogge richtete die Pistole auf die Stelle über seinem Kopf. Wenn der Mann die Lücke in der Verzurrung entdeckt haben sollte ...
In der nervenfressenden Stille hörte es sich an, als trete der Unbekannte ihnen auf den Kopf, nein, er blieb nicht stehen, ging weiter den Steg entlang bis zum Ende. Kam zurück, etwas schneller, strich wieder an ihrem Boot vorbei, täuschte er sich jetzt? - Nein, die anderen Schritte ertönten von rechts. Wieder das unverständliche Gemurmel, dann entfernten sich die Schrittgeräusche. Entweder hatten sie es aufgegeben, weil sie nicht alle Boote durchsuchen konnten. Oder es wurde zu hell, sie mussten abziehen, bevor sie entdeckt wurden.
Charlottes schwerer Atem beruhigte sich.
»Wir müssen noch warten!«, hauchte Rogge. Es konnte eine List sein, vielleicht hofften die Männer auf ihre Ungeduld.
»Ja«, gab sie leise zurück.
Eine Viertelstunde. Wenn er sich nicht täuschte, wurden Motoren angelassen, ja, da fuhren Autos weg. Die Männer - oder Motelgäste?
»Setzen Sie sich auf den Boden, aber ganz vorsichtig.«
»Ja.« Er spürte die Bewegung, das Boot schaukelte wieder, Rogge griff nach ihrem Arm und sie hielt inne. Die Kante der Sitzbank drückte in seine Rippen, er biss die Zähne zusammen.
Noch eine Viertelstunde? Mittlerweile hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Warum blieb es oben so ruhig? Manche Gäste legten wohl wenig Wert darauf, die Polizei zu alarmieren und anschließend ihre Personalien zu Protokoll zu geben. Protokoll - er musste erklären, wie und warum er einen Mann erschossen hatte. Ohne Vorwarnung, ohne Anruf. Mit seiner Dienstwaffe. Ihm schwindelte.
Dann hielt Rogge es nicht mehr aus, drückte mit der Faust die Plane nach oben, bis Licht durch den winzigen Spalt fiel, gerade genug, die Zeiger auf seiner Uhr zu erkennen. Schon 7.30 Uhr. Sie konnten doch nicht über eine Stunde ...
»Sind sie weg?«
»Ich hoffe!«, versetzte Rogge barsch und schlängelte sich nach draußen. Alle Muskeln und Knochen protestierten, vorsichtshalber blieb er auf dem Holz liegen und schaute sich um. Kein Mensch weit und breit. Beunruhigt schüttelte er den Kopf. Wo waren die Kollegen ... oder hatten die Männer die Leiche mitgenommen?
»Kann ich rauskommen?«
Ungelenk und steif krabbelte sie auf den Steg und stöhnte, als er ihr aufhalf. Richtig hell war es nicht geworden, dicke Wolken hingen tief über dem See, aber in dem trüben Licht konnte Rogge das Motel erkennen, in dem alle Gäste noch zu schlafen schienen, nirgendwo brannte Licht.
»Danke«, flüsterte Charlotte Zinneck und Rogge zuckte die Achseln.
»Ich wusste nicht mehr ...«
»Wo haben Sie sich denn die ganze Zeit herumgetrieben?«
»In Rollesheim, in einer Pension.«
Neugierig musterte er sie. Sie trug Jeans und eine hellblaue Bluse und beide Stücke sahen so aus, als habe sie mindestens eine Nacht darin geschlafen. An ihren dicken Joggingschuhen klebte Lehm.
»Frieren Sie nicht?«
»Doch«, sagte sie und prompt klapperten ihre Zähne.
»Ich glaube, Sie haben mir viel zu erzählen.«
»Ja«, stimmte sie geistesabwesend zu. »Am Montag bin ich einfach weggefahren, irgendwohin. Aber ich hatte kaum Geld und vorgestern musste ich aus der Pension ausziehen ...«
»Und was hat Sie an den Beilhorner See verschlagen?«
»Ein Freund von Achim hat hier ein Boot liegen, da hab ich mich versteckt.« Sie schüttelte sich und trat vor Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Heute Nacht sind sie dann gekommen.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Die Männer, die schon lange hinter mir her sind.«
Sie schlug die Arme um sich und Rogge gab sich einen Ruck.
»Was halten Sie von einem ordentlichen Frühstück?«
»Ganz, ganz viel«, antwortete sie und ihre hysterische Heiterkeit warnte ihn.
»Prima. Haben Sie noch Sachen auf dem Boot?«
»Meine Handtasche. Und meine Jacke.« Unwillkürlich griff sie nach der aufgesetzten Blusentasche und kicherte schrill, während sie ihm seine Visitenkarte zeigte. »Die hatte ich immer bei mir.«
»Sehr schmeichelhaft für mich«, blaffte Rogge sie an und sie fuhr zusammen. Jetzt bloß kein Ausrasten, das Schlimmste hatten sie schließlich überstanden.
Das Boot war ein winzig kleines Versteck und noch nicht für den Winter hergerichtet; Rogge schauderte bei dem Gedanken, darin übernachten zu müssen. Die Kajüte war eng und sie musste ziemlich gefroren haben. Sie kehrte mit einer scheußlichen Wolljacke zurück, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte. Weil sie seinen Blick richtig deutete, erklärte sie trotzig: »Mehr Geld konnte ich nicht ausgeben.«
»Warum haben Sie Schönborn nicht um Hilfe gebeten?«
Ihr Gesicht verschloss sich, darauf wollte sie nicht antworten. Noch nicht. Schweigend gingen sie auf das Hotel zu. Charlotte Zinneck zögerte, als er vom Weg abwich und auf die Stelle zusteuerte, an der die Leiche gelegen hatte. Weg, keine Spur, und nur wer sehr genau hinschaute, entdeckte die Schäden, die sie heute Morgen an Blumen und Sträuchern angerichtet hatten. Das Glas der Verandatür war zersplittert, nun ja, darüber würde sich später ein Gast beschweren, aber ein vernünftiger Betrieb hatte eine Versicherung.
»Wo ist - was ist ...?«, stammelte sie.
»Die haben ihren toten Kumpanen mitgenommen«, erklärte er flach. »Zum Glück. Sonst müssten Sie und ich meinen Kollegen viel erzählen.«
Das Motel hatte geöffnet, die junge Frau an der Rezeption gähnte verstohlen und betrachtete sie abschätzig. » Nein, kein Zimmer, brummte Rogge und freute sich über ihre Verwirrung, aber ein Frühstück, und zwar ein gewaltiges.«
»Ja, ja, natürlich - dort, im Restaurant.«
Sie plünderten das Buffet, als würden morgen die sieben biblischen mageren Jahre anbrechen, und Charlotte Zinneck langte zu, als habe sie seit einer Woche gehungert.
Nach der Arbeit in der Bäckerei war sie mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und hatte sich einfach in einen Zug gesetzt. Ohne Fahrkarte, sie hatte nicht einmal gewusst, wohin der Zug fuhr. In Rollesheim war sie aus gestiegen, weil im Nebenwagen ein Schaffner kontrollierte, und hatte sich die billigste Pension im Ortszentrum gesucht. Um drei Nächte bezahlen zu können, hatte sie tatsächlich auf Mittag- und Abendessen verzichten müssen, vor allem, nachdem sie diese scheußliche, aber warme Jacke gekauft hatte.
»Schönborn hätte Ihnen doch geholfen - oder?«
»Sicher«, erwiderte sie so kurz, dass er aufhorchte.
»Werden Sie ihn anrufen?«, forschte er.
Darauf antwortete sie nicht, er sah förmlich, wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht niederging, und widmete sich leise seufzend wieder seinem Teller. Auch sie schwieg, bis er ihr sein Zigarettenpäckchen hinhielt.
»Danke. Erst ein Loch im Magen und jetzt platze ich.«
»Dagegen kenne ich ein hervorragendes Mittel.«
»Ja?« Sie lächelte, sparsam, aber immerhin, und wich seinem Blick nicht aus.
»Ein großer, langer Spaziergang.«
Nach einer Weile nickte sie versonnen: »Ja, Sie haben Recht, ich möchte mich bewegen.«
Rund um den See gab es einen bequemen Weg, den sie zu dieser frühen Stunde für sich allein hatten. Nach zehn Minuten spürte Rogge die nasse Kühle nicht mehr. »Also, Frau Zinneck, Lebensrettung und Frühstück haben ihren Preis.«
»Damit geht’s schon los. Ich heiße nicht Zinneck.«
»Nein?«
»Nein.« Sie stöhnte so tief, dass er trotz seiner Spannung lachen musste. »Nein, ich heiße Charlotte Bongartz.«
»Das fängt ja gut an«, lästerte er, weil er nicht wollte, dass sich ihre düstere Stimmung festsetzte.
»Und es wird noch besser. Es ist nämlich eine lange, unglaubliche Geschichte.«
»Darauf bin ich geeicht.«
»Hoffentlich. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, Herr Rogge. Ein Einzelkind aus steinreichem Hause, wie man so schön sagt. Mein Vater ist kurz vor meinem Abitur gestorben, meine Mutter, als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, und danach war ich eine reiche Erbin. Sehr wohlhabend sogar. So reich, dass ich nicht arbeiten musste und Nürnberg verlassen habe. Für immer. Ich bin nach Frankreich gegangen und habe mir ein Häuschen in der Nähe von Cannes gekauft.« Nach einer kleinen Pause setzte sie verschlossen hinzu: »Und aus vielen Gründen alle Fäden zu meiner Vergangenheit gekappt.«
Rogge unterbrach sie nicht, sie wollte es eben auf ihre Art erzählen.
»In Cannes habe ich eine Französin kennen gelernt, die eine Keramikwerkstatt betrieb, dort bin ich später Teilhaberin geworden. In dem Geschäft habe ich einen Deutschen getroffen und nach zwölf Monaten haben wir geheiratet. Das war vor ziemlich genau vier Jahren.«
Die beiden letzten Sätze hatte sie so schnell und trotzig herausgestoßen, dass Rogge sich seinen Teil dachte, aber nur stumm nickte.
»Hans Zinneck hieß er.« Sie legte den Kopf herausfordernd schräg, aber den Gefallen, eine Frage zu stellen, tat Rogge ihr nicht.
»Zinneck arbeitete für eine internationale Investmentfirma in Marseille und verdiente ein Schweinegeld.«
Ein Schweinegeld. Sprache war verräterisch, sinnierte er, aber damals, als sie ihn heiratete, hatte sie daran keinen Anstoß genommen. Reicher Mann verliebt sich in schöne, reiche Frau.
»Einen Monat nach unserer Heirat sind wir aus Cannes weggezogen.«
»Und wohin?«
»Zuerst nach Frankfurt. Dann nach München, nach Stuttgart, Hamburg, Berlin, Hannover.«
»Etwas viel Umzüge für drei Jahre, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie ...? - Ach so, ja. Völlig richtig. So viele, dass ich - unruhig wurde.« Sie kickte zwei Kiefernzapfen zur Seite. »Es waren nämlich keine Umzüge, Herr Rogge.«
»Sondern?«
»Von einem möblierten Haus in das andere. Oder auch in Hotels. Apartmenthäuser. In den drei Jahren meiner Ehe waren wir praktisch immer auf Achse.«
»Aus beruflichen Gründen?«
»Das hat Hans Zinneck mir einzureden versucht und zu Anfang hab ich ihm das auch geglaubt. Bis mir der schreckliche Verdacht kam, er sei auf der Flucht.«
»Auf der Flucht?«, wiederholte Rogge verblüfft. »Vor wem denn?«
»Das wollte er nicht verraten. Wissen Sie, vor der Hochzeit, in Cannes, war er - gesellig, ging gerne auf Partys, machte allen möglichen Spaß mit, feierte, hatte Freunde, ließ fünf auch mal gerade sein, und wenn er Lust hatte, flogen wir mal eben nach Paris oder London oder Rom.«
»Aber danach ...«
»Veränderte er sich. Und zwar rapide! Sobald ich irgendwo halbwegs Fuß gefasst hatte, mussten wir wieder los, in eine andere Stadt. Nein, keine Freunde, keine Bekannten, keine Verwandten, Liebe macht wohl blind, aber eines Tages konnte ich wieder scharf sehen.«
»Haben Sie ihn nie zur Rede gestellt?«
»Doch, mehr als einmal. Aber er ist mir immer ausgewichen, hat mich vertröstet und gelogen. Ich konnte es mir nicht erklären ...«
»Also keine andere Frau?«
»Ach was, er war zum Schluss so nervös, dass er auch mit mir nicht mehr geschlafen hat. Und ich - na ja, ich war auch nicht so klug, wie ich hätte sein sollen, ich hab angefangen, zu trinken und Pillen zu schlucken.«
»Rauschgift?«
»Nein, nie. Aber Valium und ähnliches Zeugs. Ich dachte, sonst würde ich zerspringen. Anders hielt ich es nicht mehr aus.«
Alkohol und Diazepam. Rogge grunzte. »Ihr letztes Quartier war in Kassel, in der Beelestraße 11.«
Ihr Mund blieb offen stehen, ihre Augen wurden riesig.
»Jetzt sind Sie noch dran, nachher erzähle ich.«
»Woher wissen Sie ...?«
»Nachher, Frau Bongartz.«
Das musste sie erst einmal verdauen.
»Ja, in Kassel ... An dem Abend habe ich ihn zur Rede gestellt. Er wollte mich wieder hinhalten, auf unser nächstes Quartier in Dresden vertrösten, aber meine Geduld war - erschöpft. Aufgebraucht. Eine Minute Bedenkzeit oder ich verlasse das Haus für immer.«
»Warum ausgerechnet an dem Abend?«
»Weil ich ihn noch nie so erlebt hatte, etwas erdrückte ihn fast vor Angst. Und da machte es klick, jetzt oder nie - verstehen Sie das?«
»Doch, ja.«
»Und er hat ausgepackt. Gleich die richtig schweren Hämmer geschwungen. Er heiße nicht Hans Zinneck, sondern Wolfgang Tepper, Außerdem wisse er gar nicht, ob er rechtmäßig mit mir verheiratet sei. Denn vor gut sechs Jahren sei seine Frau aus heiterem Himmel abgehauen und seitdem habe er nichts mehr von ihr gehört. Gut möglich also, dass sie noch lebte und er immer noch mit ihr verheiratet sei.«
»Das ist stark«, murmelte Rogge konsterniert und sie lachte bitter auf: »Es kommt noch dicker, Herr Rogge. Er war auch kein Angestellter einer internationalen Investmentfirma, sondern V-Mann des Bundesnachrichtendienstes.«
»Sie fantasieren!«, platzte Rogge heraus.
»Nein, nein. Also ein V-Mann und zur Tarnung wäre er in einer Firma angestellt, die dem BND gehörte.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Die hätten ihn nach Frankreich, nach Cannes geschickt, um in eine Organisation einzudringen, die sich Liga nannte. So genau hab ich’s nicht verstanden, ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber das habe ich behalten: eine politische Organisation namens Liga, mit rechtsradikalen, antidemokratischen Zielen und hinter dem ideologischen Schmonzes verbarg sich eine Gruppe, die illegale Geschäfte rund um den Globus betrieb. Die Leute in Cannes verschoben Waffen und militärische Fabriken nach Nordafrika, für Libyen und andere Länder, die Washington heute Schurkenstaaten nennt.«
»Er hat Sie verschaukelt!«
Seinen Einwand beachtete sie nicht. »Angeblich hatte er eine große Aktion der Gruppe hochgehen lassen und dann kalte Füße bekommen, weil einige Ligisten misstrauisch geworden seien, deswegen begannen wir unser Zigeunerleben.«
»Das ist doch hochkarätiger Schwachsinn. Wenn er wirklich für den BND gearbeitet hätte, hätte der Dienst ihn doch geschützt.«
»Nein. Den hatte er nämlich beschissen, bei diesem Waffengeschäft, da hat er kräftig abgesahnt, in die eigene Tasche, rund sieben Millionen Mark.«
»Sie haben den Namen Tepper richtig verstanden? Er hieß in Wahrheit nicht zufällig Baron von Münchhausen?«
Darüber konnte sie nicht lachen. »Und jetzt fürchtete er, dass uns beide an den Hacken klebten, die Ligisten und der BND. Die einen wollten einen Verräter, die anderen einen Betrüger und möglichen Überläufer liquidieren.«
Angesichts ihres Gesichtsausdrucks gefror ihm das höhnische Lachen auf den Lippen. Nein, sie belog ihn nicht, sie gab getreulich wieder, was Wolfgang Tepper alias Hans Zinneck ihr an dem Abend gestanden hatte, und sie konnte auch heute noch nicht unterscheiden, was Wahrheit, was Lüge und was Aufschneiderei gewesen war. Wie auch immer - für sie war an dem Abend eine Welt zusammengebrochen.
»Wie ging’s weiter?«
»Er hat noch viel gestammelt und gebeichtet, aber ich wollte nichts mehr hören. Ich war hundemüde, hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, weil er mich pausenlos gehetzt hatte, ich bin aus dem Zimmer gelaufen, die Treppe hoch in mein Zimmer.«
Beunruhigt registrierte Rogge, dass sie bleich wurde und ihre Stimme sich in die Höhe schraubte.