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»Oben habe ich - ja, zu viel und zu schnell getrunken. Und eine Menge Tabletten geschluckt.«
»Eine gefährliche Mischung«, warf Rogge leise ein und sie nickte hastig.
»Und dann — ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich eingeschlossen hatte dann krachte es unten zweimal. Ganz laut und - wie soll ich’s beschreiben - gefährlich. Um mich herum war alles wie in Watte verpackt, können Sie das verstehen?«
»Ja, sehr gut sogar.«
»Ich bin zur Tür gegangen, habe aufgeschlossen und gerufen: Hans, was ist passiert? Oder so ähnlich - ich weiß es nicht mehr genau. Hans, was ist los? Er hat nicht geantwortet, aber unten klappten Türen. Da bin ich die Treppe hinuntergegangen. Und habe wieder gerufen: Hans, wo bist du?« Entschuldigend streckte sie Rogge beide Hände entgegen: »Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich wunderte. Woher kam plötzlich der Nebel vor meinem Gesicht? Und warum war alles so unscharf, so weit weg? Hans lag im Wohnzimmer, am Boden, er rührte sich nicht, ich habe noch gelacht, mein Gott, wenn du schlafen willst, warum gehst du nicht ins Bett? - Aber er bewegte sich nicht und ich habe mich zu ihm gebückt, um ihn wachzurütteln, und da war alles voller Blut. Das ganze Hemd - und es wurde immer mehr - ich habe mich hingekniet und ihn angefasst und geschrien, aber er war tot, und irgendwie - es war doch nicht wirklich, das hatte doch nichts mit mir zu tun - oder mit Hans - und dann habe ich gesehen, dass mein Kleid voller Blutflecken war, und auch meine Schuhe - es war so komisch, nein, ekelhaft, alles rot und dreckig, ich dachte, du musst sofort dieses widerliche Kleid ausziehen, das war das Wichtigste in dem Moment - Plötzlich stand ich im Bad, hab das Kleid ausgezogen und die Schuhe und mir gründlich die Hände gewaschen. In dem Augenblick war mir völlig klar, dass ich Weggehen musste, nur weg, verstehen Sie? Ich hatte gar keine andere Wahl, ich musste fort, weg aus diesem Haus, bevor dieser Nebel noch dichter wurde. Dann hab ich mir die Schlüssel vom Haken genommen und bin zum Auto rausgegangen. Das hatte Hans vor dem Haus stehen lassen. Alles rauschte, und als der Motor ansprang, fuhr das Auto wie von selbst, in ein — ein ...«
»In ein graues Loch«, ergänzte Rogge leise.
»Danach weiß ich nichts mehr. Ich bin wieder wach geworden, als ich in einem fremden Auto neben einem fremden Mann saß. Den Rest kennen Sie.«
Rogge senkte den Kopf. Sollte er ihr glauben? Hatte sie das, was sie subjektiv für die Wahrheit hielt, wirklich erlebt? Oder sich etwas zurechtgelegt? Tabletten, Alkohol, Erregung, Übermüdung, Schock - es konnte so abgelaufen sein, aber er wagte es nicht zu beurteilen.
»Nein«, sagte Rogge endlich hilflos, »den ganzen Rest kenne ich noch nicht.«
»Der Rest - ja«, fuhr sie endlich fort. »Die ersten Wochen waren - scheußlich. Die Ärzte. Und die vielen Tests. Und dieses Gefühl, dass fast alle glaubten, ich würde - simulieren,. Wie Ihr Kollege Grembowski. Ich bin erst zur Ruhe gekommen, als die meisten überzeugt waren, dass ich tatsächlich mein Gedächtnis verloren hatte. Da musste ich mich nicht mehr - verteidigen. Dumm, nicht wahr?«
»Nein, gar nicht.«
»Das größte Glück war dieser Job in der Bäckerei. Regelmäßig etwas tun, nicht mehr völlig abhängig sein, ach, das können Sie sich kaum vorstellen.«
»Nein. Vorstellen nicht, aber verstehen.«
»Eines Tages keuchte ein Jogger in das Geschäft. Er sah aus, als hätte er mit seinen Klamotten unter der Dusche gestanden. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Man könne auch alles übertreiben. Er wurde sehr zornig und am nächsten Tag kam er wieder. Wieder klitschnass. So habe ich Achim kennen gelernt. Natürlich wollte er was von mir - soll ich Ihnen mal verraten, wie er mich herumgekriegt hat? Mit einem einzigen Satz: Lieber eine Frau ohne Gedächtnis als eine Frau mit Krebs.«
»Das klingt sehr herzlos.«
»Ja, das hab ich ihm auch vorgeworfen und dann hat er mir von Miriam erzählt. Der erste Mann, der mich als Frau so akzeptiert hat, wie ich war. Der nicht versuchte, mich zu heilen. Oder hinter mir herzuschnüffelte, wie Ihr Kollege Grem und seine Leute ... Ja, ja, ich hatte mein Gedächtnis verloren, aber nicht meinen Verstand, und dass da immer Männer und Frauen hinter mir herschlichen, habe ich natürlich bemerkt.«
»Wann ist dieses graue Loch verschwunden?«
»Ende Mai.« Sie antwortete ohne Zögern. »Vor einem Schaufenster in der Semperstraße. Ein Reisebüro. Die hatten ein Plakat von Cannes aufgehängt, für irgendwelche Wochenendtrips. Das Panorama kam mir seltsam bekannt vor, das hatte ich schon einmal gesehen, Cannes, und plötzlich ging ein Vorhang auf. Nicht blitzartig, sondern wie - wie - wie ein langsamer Film.«
»Dann erinnern Sie sich also auch ...«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Es gibt immer noch eine Lücke. Von dem Moment an, wo der Motor ansprang, bis zu dem Augenblick, an dem ich neben diesem Jödel in seinem Auto saß.«
Das würde Bennos Anwalt freuen, dachte Rogge grimmig. Und eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie nun log, weil sie etwas verbergen wollte, oder die Zeit hinter dem Steuer tatsächlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war.
»Warum haben Sie niemandem erzählt, dass Ihre Amnesie vorbei war?«
»Weil ich Angst hatte.«
»Angst vor wem?«
»Vor den Ligisten. Vor den Mitarbeitern des Dienstes. Vor den Leuten, die hinter mir her waren.«
»Sie hätten zur Polizei gehen können.«
»Der hab ich auch nicht mehr getraut.« Sein skeptischer Blick entging ihr nicht, sie straffte sich: »Herr Rogge, ich hab’s nicht gern, wenn man mich für dumm hält. Zinneck besaß Personalpapiere auf den Namen Hans Zinneck, Geburtsurkunde, Abi-Zeugnis, Führerschein, eben all den amtlichen Krams, den der gute Bundesbürger im Laufe eines Lebens ansammelt. Wer hat ihm diese Papiere besorgt?«
»Vielleicht keiner, vielleicht waren sie echt, weil er tatsächlich Hans Zinneck war«, versuchte er sie zu reizen, doch sie erklärte bedächtig: »Eben das wollte ich feststellen.«
»Wie das?«
»Er hatte mir noch in Frankreich mal erzählt, er sei in Lindau geboren und seine Mutter lebe noch dort.«
Die Idee ist nicht schlecht, überlegte Rogge. Irgendwo musste sie ja anfangen. In Frankreich hatte sie den Worten des Hans Zinneck geglaubt, jetzt durfte sie nichts mehr ungeprüft für wahr halten. Aber warum hatte sie damit so lange gewartet?
Mit der Antwort ließ sie sich Zeit. »Solange mir alle glaubten, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte, war ich ungefährlich. Deswegen habe ich den Mund gehalten und weiter Inge Weber gespielt. Bis Sie dann kamen und mir erzählten, dass meine Tarnung geplatzt war.«
»Dieser Wolfgang Tepper - hat Zinneck, oder wie er tatsächlich hieß, etwas über Wolfgang Tepper erzählt?«
»Ja, hat er. Er war Investmentberater und Anlagenvermittler in Frankfurt und lebte im Taunus. Mit seiner Frau Karin.« Rogge zuckte zusammen, aber sie schaute an ihm vorbei. »Bei einem riskanten Geschäft hatte er sich gründlich verschätzt und Verluste gemacht. Um die auszugleichen, vergriff er sich an Kundengeldern, alles geriet ins Rutschen und eines Tages rief ihn jemand an, er solle sich auf den Besuch des Staatsanwaltes vorbereiten. Der erschien dann auch, aber Zinneck-Tepper hatte die verfängliche Korrespondenz vernichtet. Während der Untersuchung tauchte dann plötzlich ein Mann auf, der Tepper einen Handel vorschlug. Wenn Tepper sich bereit erkläre, für einen Geheimdienst als V-Mann zu arbeiten, würde der Dienst dafür sorgen, dass der Staatsanwalt die Ermittlungen einstelle.«
»Worauf er sich eingelassen hat.«
»Ja. Er hatte nichts mehr zu verlieren, sein Geschäft war pleite, seine Frau hatte ihn verlassen, und er wurde auf die Liga angesetzt.«
»Das hat er Ihnen am frühen Abend des 15. September in Kassel berichtet.«
»Ja. So kam er nach Cannes, weil es dort einen Ring von Waffenhändlern geben sollte.«
»Diese Liga - er muss doch was über diesen Verein herausgefunden haben.«
»O ja. Eine Art Geheimbund, international, etwas für feinere, betuchte Leute. Vorherrschaft der arischen Rasse, antisemitisch, rassistisch, elitär und natürlich antidemokratisch. Herrschaft der Besten über eine ständisch gegliederte Gesellschaft.«
»Das klingt alles sehr abstrus.«
»Kann sein, Herr Rogge, aber Hans nahm sie ernst. Alles sehr exklusiv, nichts Schriftliches, man wurde mündlich aufgefordert beizutreten, und wenn man dazugehörte, beteiligte man sich äußerst diskret an illegalen, aber lukrativen Geschäften mit muslimischen Staaten.«
»In Form von Waffenschmuggel.«
»Zum Beispiel. Oder Lieferung von Firmen, die verbotene Sachen hersteilen, wie etwa Giftgas.« Charlotte Bongartz zuckte die Achseln und ignorierte Rogges forschenden Blick. Von der Existenz dieser Liga hatte sie Rogge nicht überzeugt. Zinneck/Tepper konnte durchaus vor zornigen Gläubigern oder skrupellosen Waffenhändlern auf der Flucht gewesen sein, was er ihr gegenüber mit der V-Mann-Existenz für einen Geheimdienst verbrämte. Allerdings irritierte Rogge ein Detail: dass ein Ermittlungsverfahren gegen Wolfgang Tepper niedergeschlagen worden war, sozusagen als Köder für seine Mitarbeit. Das ließ sich bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt nachprüfen.
»Hat Tepper den Namen des Staatsanwalts genannt, der damals in Frankfurt gegen ihn ermittelt hat?«
»Dr. Driesch, den Vornamen habe ich vergessen.«
Noch war nichts von ihrer Räuberpistole bewiesen. Weder ihr Name noch ihre Heirat mit einem Hans Zinneck alias Wolfgang Tepper, einfach gar nichts. Vielleicht verschaukelte sie Rogge auch gewaltig und amüsierte sich heimlich über ihn. Ihre Intelligenz unterschätzte Rogge nicht; wenn sie die Amnesie immer nur vorgetäuscht hatte, und nicht erst seit Mai, durfte er nie vergessen, dass sie einige erfahrene Arzte und Psychiater an der Nase herumgeführt hatte. Weil sie den Mann in Kassel erschossen hatte? - Wenn es da überhaupt einen Toten gegeben hatte! Sein Gefühl sträubte sich gegen diesen Verdacht, aber Gefühle waren schön, Beweise besser.
»Sie glauben mir nicht?«
Bei ihrer ruhigen, fast beiläufigen Frage zuckte Rogge zusammen: »Es fällt mir schwer, Frau Bongartz.«
»Das verstehe ich.«
»Ich bin Polizist, und wenn man so oft angelogen worden ist wie ich, entwickelt man großes Misstrauen. Besonders bei so ungewöhnlichen Geschichten.«
»Das nehme ich Ihnen nicht übel, aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, Herr Rogge: Was hätten denn Sie - oder Ihr Kollege Grembowski - gesagt, wenn ich mit dieser Story zu Ihnen gekommen wäre?«
Was sollte Rogge darauf erwidern? Grem hätte sich vor Lachen gekugelt. Und er selbst? - Gut, er hätte sich nicht auf ihre Kosten amüsiert, in dem Punkt besaß er mehr Takt als Grem - aber geglaubt hätte er ihr auch nicht.
»Erst gelacht, dann nachgedacht. Richtig?«
»Wahrscheinlich«, gab er zu.
»Na fein. Dann bei den Kollegen in Kassel angerufen. Ob da im vergangenen September eine männliche Leiche gefunden worden ist. Im Haus Beelestraße 11.«
»Natürlich.«
»Version eins: Tatsächlich wurde dort eine Leiche gefunden. Täter? - Unbekannt. Aber da hat man ja jetzt jemanden, eine überspannte Frau, die bei der Kripo ein saublödes Lügenmärchen erzählt. Immer noch richtig?«
»Richtig. Wir hätten Sie massiv verdächtigt.«
»Version zwei: keine Leiche und keine Spuren eines Verbrechens. Was schnattert die dumme Gans denn da von Leichen und Schüssen und Blut? Im Wohnzimmer gibt’s keinen Teppich, geschweige denn einen mit Blutspuren. Ach so, Gedächtnisverlust - Herr Kollege, hat man die Dame mal daraufhin untersucht, ob sie nicht völlig plemplem ist?«
Rogge lächelte, weil sie laut und temperamentvoll geworden war, mit den Armen herumfuchtelte und ihn schließlich am Jackenärmel festhielt, dass er stolperte. So gefiel sie ihm besser als gedrückt schlurfend.
»Ja, so wär's wohl abgelaufen«, stimmte Rogge endlich zu.
Zwanzig Schritte spazierten sie stumm.
Schließlich murmelte Charlotte Bongartz: »Vor beiden Möglichkeiten hab ich Angst gehabt.«
Jetzt blieb Rogge stehen und sah sich um. An dieser Stelle führte der Weg direkt bis an den See heran und der überhängende Felsen war zu einer Aussichtsplattform geglättet worden.
Zehn Meter unter dem dicken, festen Geländer gluckerte das Wasser und Rogge lehnte beide Unterarme auf das Holz. Ein Ort zum Träumen, dachte er traurig. Ein Hauch von Wind kräuselte die Oberfläche des Sees und bewegte den grauen Dunst.
Plötzlich stand sie neben ihm, auch nach vorn gebeugt, und starrte auf das Wasser hinunter.
»Aber jetzt erzählen Sie mir die Geschichte«, sagte Rogge leise. »Obwohl sie immer noch so unglaublich ist wie vor Monaten.«
»Wirklich? Und ich dachte, der Mann, den Sie erschossen haben, verleihe ihr eine Spur von Wahrscheinlichkeit.«
Den Hohn hatte er verdient, deswegen sagte er nichts.
Nach einer Weile flüsterte sie: »Wie kann ich Sie denn überzeugen?«
»Weshalb haben Sie sich Schönborn nicht anvertraut?« Rogge wandte sich zu ihr und musterte sie versonnen. Verrückte Geschichten mussten nicht erfunden sein, neun von zehn Fällen, die sie im Kommissariat bearbeiteten, waren langweilig, oft mehr als stumpfsinnig, und der zehnte übertraf alles, was sich Krimiautoren ausdachten. Doch auch die verrückteste Geschichte gehorchte einem Gesetz, sie war in sich stimmig, logisch, selbst wenn ihre innere Logik einem Kriminalbeamten nicht auf den ersten Blick einleuchtete. Was Charlotte Bongartz bis jetzt erzählt hatte, fiel in die Kategorie unwahrscheinlich, aber die Fakten wie die Lücken passten zueinander. Nur ihr Verhalten ab dem Tag, an dem sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte - das begriff er nicht.
Auch sie hatte sich umgedreht, lehnte jetzt schräg, mit einem Arm abgestützt, an dem Geländer und schaute ihn fest an. Ein anziehendes Gesicht, fiel ihm wieder auf, nachdenklich und ernst. Zu seiner Schülerzeit verguckte man sich noch in ein Mädchen, vielleicht passierte ihm das gerade auch. Ihr Blick ließ ihn nicht los, bis sich ihre Mundwinkel verzogen. Sie konnte die Nase herrlich krausen und zugleich die Stirn runzeln, wie ein Kobold, er lächelte zurück.
»Gehen wir noch ein Stück?«
»Gerne.«
Sie schlenderte neben ihm her. »Warum ich Achim ... Wissen Sie, was mein erster Gedanken war, nachdem sich dieses graue Loch verflüchtigt hatte? - Dass Achim Schönborn eine verteufelte Ähnlichkeit mit Hans Zinneck hat.«
Ja, so konnte man es sehen.
»Natürlich habe ich mir immer wieder überlegt, ob ich ihm die Geschichte erzählen soll, aber ich habe mich nie darauf verlassen können, wie er reagieren würde.«
Damit kam sie der Wahrheit wohl sehr nahe. Schon einmal waren sie Schönborn auf die Pelle gerückt und hatten ihm unterstellt, beim Tode seiner reichen Frau nachgeholfen zu haben. Den Ärger ein zweites Mal? Hätte Schönborn sich für Charlotte stark gemacht?
»Dann schlichen mir immer noch Grembowskis Leute nach. Und die anderen, mein Gott, Herr Rogge, wenn mir Zinneck nun keinen Bären aufgebunden hat, sondern diese Liga tatsächlich einen Verräter liquidiert hat?«
Alles logisch und trotzdem noch nicht überzeugend.
»Aber der wirkliche Grund - als ich plötzlich wieder Charlotte Bongartz war, wusste ich, dass ich Achim nicht liebte. Dankbar, ja, das war ich und bin ich immer noch, aber ich brauchte ihn nicht mehr.« Unvermittelt blieb sie stehen, Rogge ging noch ein paar Schritte weiter und drehte sich um.
»Es fehlt noch etwas«, erinnerte Rogge.
»Ja.« Sie holte tief Luft und blitzte ihn wütend an. »Ja, von Rollesheim habe ich ihn angerufen, da wusste er schon, dass ich Charlotte Zinneck heiße, und es hat ihm gar nicht gefallen, dass ihm das ein Mensch aus dem Polizeipräsidium offenbaren musste. Ich war enttäuscht über seine Reaktion, aber darf ich Schönborn deswegen Vorwürfe machen?«
»Nein«, gab Rogge zu. »Aber Sie brauchten Hilfe. Ohne Geld sind Sie nicht weit gekommen ...«
»Nein, und in meine Wohnung traute ich mich nicht.«
»Was immer Sie geplant hatten, Schönborn musste Ihnen helfen. Und sei es auch nur noch mit einem Tausendmarkschein.«
»Ja, ja, ja«, schrie sie ihn an und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Sie Klugscheißer, so weit war ich auch schon gekommen. Nachdem ich auf dem Boot untergekrochen war, habe ich Achim auf Band gesprochen, wo ich bin und dass er kommen soll. Stattdessen haben mich drei Männer fast erwischt. Sind Sie nun zufrieden, Sie ... Sie ...?«
Rogge schüttelte den Kopf. Zufrieden traf's nicht, aber die größten Lücken waren geschlossen. Er ging auf sie zu und nahm ihren Arm, zornig machte sie sich frei: »Was wollen Sie noch?«
»Frau Bongartz, man kann Anrufbeantworter abhören. Auch durch eine Fernabfrage. Die Männer, die heute Morgen hier waren, schrecken vor nichts zurück. Meinen Sie, die wüssten nicht, wie man Telefonleitungen anzapft oder in ein Haus einbricht?«
Sie wollte Rogge nicht zuhören, deswegen schlenderte er langsam Richtung Motel zurück.
Nach fünf Minuten vernahm Rogge schnelle Schritte, und als sie atemlos zu ihm aufschloss, sagte sie zerknirscht: »Entschuldigung, ich bin wohl - ich weiß nicht, was ...«
»Aber ich weiß«, erwiderte Rogge gemütlich. »Nämlich, was wir jetzt tun werden.«
»Wir? Was?«
»Sie wollten doch nach Lindau.«
»Klar«, pflichtete sie bei. »Und dann mit der Fähre nach Rorschach.«
»In die Schweiz?«
»Wo deponieren reiche Erbinnen ihr Geld, wenn weder Finanzamt noch Ehemann zugreifen sollen?«
»Ach so, ja, natürlich. Nur schlecht, wenn man mangels kleiner Münzen den ganzen Weg zum Geld laufen muss.«
»Ja, das ist ausgesprochen dumm. Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, bieten Sie sich als Chauffeur an?«
»Um Mutter Zinneck aufzusuchen - falls sie noch lebt,«
»Dann können Sie doch sicher noch zwei, drei oder vier Kilometer dranhängen, um mich zum Fähranleger zu bringen.«
Von der Seite schoss Rogge ihr einen scharfen Blick zu, doch sie schmunzelte. Von einer Sekunde auf die andere war ihre Laune umgeschlagen, sie hatte ihm elegant den Ball zugespielt und nun durfte er sich mit seinem dienstlichen Gewissen herumplagen. Denn wenn sie mit ihren Ersatzpapieren auf den Namen Inge Weber erst einmal in die Schweiz eingereist war und dort tatsächlich an ihr Geld kam, würde sie freiwillig nie zurückkehren. Und an eine Auslieferung war nicht zu denken, ganz abgesehen davon, dass ihm beim besten Willen nicht einfiel, wessen man sie anklagen sollte. Wegen des Mordes an Hans Zinneck? Selbst wenn der so geschehen war, wie sie berichtet hatte - wo war die Leiche? Wer hatte sie beseitigt? Kili hatte so viele Suchanfragen in alle Teile der Republik wegen Hans und Charlotte Zinneck losgeschickt, dass irgendein Computer Alarm geschlagen hätte: Achtung, eine Tötung zum Nachteil von Zinneck, Hans. Täter unbekannt. Was sonst? Irreführung der Polizei? Wenn sie, wie sie behauptete, erst im Mai ihr Gedächtnis wiedergefunden hatte, traf selbst das nicht zu - dass Grem auf eigene Faust bis in den September hartnäckig wie ein Terrier auf ihren Spuren geblieben war, hatte sie nicht zu verantworten. Schön, ein Korinthenkacker mit ganz spitzem Bleistift würde aufheulen: unberechtigter Bezug von Sozialhilfe, vielleicht auch von Wohngeld, wenigstens seit Mai. Ach nein, das ergab alles nichts und selbst ein nur mäßig gewiefter Anwalt würde alle Argumente wie Krümel vom Tisch fegen.
Rogge konnte sie nicht festhalten und vielleicht durfte er es nicht einmal, solange skrupellose Typen hinter ihr her waren. Doch wenn er sie über die Grenze brachte, musste er auch dafür sorgen, dass man sie nicht länger verfolgte. Dazu verpflichtete ihn keine Vorschrift, sondern sein Gewissen.
»Reicht das Benzin?«, neckte sie und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wieso Benzin? - Ach so, ja, das reicht. Wenn ich bis Weihnachten hungere, kann ich Ihnen sogar das Fahrgeld bis nach Zürich schenken.«
»Leihen.«
»Abwarten. Noch haben wir’s nicht geschafft.«
Den Rest des Weges liefen sie schweigend. Ab und zu hörte er sie summen, nach allem, was sie erlebt hatte, schien sie unangebracht heiter zu sein. Aber sie hatte auch keinen Mann erschossen - oder doch? Zum Teil verstand er ihre Stimmung, sie hatte gebeichtet, ihn zum Mitwisser gemacht und damit einen Teil Verantwortung auf ihn abgeladen. Irgendwann, nicht heute, musste er sich entscheiden, was er wegen des Mannes unternahm, den er im Motelgarten erwischt hatte. Obwohl - er konnte später viel erzählen, aber nichts beweisen.
Aus den Wipfeln der Nadelbäume stieg senkrecht ein feiner Dunst auf. Doch die Sonne würde sich nicht mehr durchkämpfen. Auf dem Parkplatz gähnte sie, was sofort ansteckte.
»Es war eine kurze Nacht«, erklärte sie verlegen.
»Und der Tag wird noch lang.«
Auf der Autobahn berichtete sie, wie sie in eines der Motelzimmer eingedrungen war; man würde eine zweite Verandatür neu verglasen müssen.
»Wie haben Sie die Leute überhaupt bemerkt?«
Sie kicherte nervös: »Einer ist ins Wasser gefallen, als sie die Boote kontrollierten. Vor Schreck hat er gebrüllt.«
»Glück muss die Frau haben«, kommentierte er trocken.
Vor seiner Haustür zupfte sie ihn am Jackenärmel: »Bei Ihnen gibt’s doch bestimmt eine Dusche?«
»Und ein Handtuch, na klar doch. Haben Sie eigentlich Ihre Ausweise und Papiere dabei?«
Sie klopfte auf die Handtasche: »Immer. Ich lebe - auf Abruf.« Sie zögerte und streckte trotzig das Kinn vor: »Seit ich Sie kennen gelernt habe.«
Rogge verließ den Aufzug vor ihr und ging auf seinen Flur zu, bog um die Ecke und zuckte zurück. Sie prallte auf ihn, gerade noch rechtzeitig war er herumgefahren und presste ihr eine Hand auf den Mund: »Kein Laut. Zurück zur Treppe!«
»Waas«, gurgelte sie, aber Rogge drehte sie schon herum und schubste sie. Zum Glück gehorchte sie ohne Widerstand, die beiden Männer, die vor seiner Wohnungstür dösend an der Wand lehnten, hatten ihn wohl nicht bemerkt, Rogges Schuhe machten keinen Lärm. Löchrige Jeans, Lederjacken und lange, ungepflegte Haare; ausnahmsweise schienen sie es mit Polizei, mit Zivilfahndern zu tun zu haben. Obwohl sie aussahen, als bestünde ihr größtes Vergnügen darin, bei Dunkelheit kleine Mädchen zu erschrecken.
»Runter!«
Hoffentlich hatte Frau Staatsanwältin wie immer am Samstag lange geschlafen, Rogge klopfte, einmal, zweimal, hinter der Tür hörte er Schritte, und als Dörte von Sandau den Mund zu einer geharnischten Predigt öffnete, legte er ihr rasch einen Finger an die Lippen: »Leise!«
»He, was ist ...« Trotz des Protestes hatte Dörte von Sandau unwillkürlich die Stimme gesenkt, Rogge schob beide Frauen energisch in die Diele und klinkte die Tür lautlos zu. Erst dann wagte er tief durchzuatmen.
»Welcher Floh hat dich heute gebissen - und wer sind Sie?«
»Darf ich vorstellen? Dörte von Sandau, Staatsanwältin ihres Zeichens. Inge Weber. Zwei Flöhe stehen oben vor meiner Wohnungstür und warten auf mich.«
»He? Was? Wer wartet auf dich?«
»Liebe Dörte, Inge Weber ist die Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat.«
»Das sind Sie?« Ein guter Staatsanwalt ließ sich nicht verblüffen und trotz seiner Anspannung musste Rogge schmunzeln, als er sah, wie Dörte von Sandau sich bemühte, ihrer Rolle der Unerschütterlichen gerecht zu werden.
Charlotte sah sie schuldbewusst an, mit einer Staatsanwältin hatte sie nicht gerechnet, deshalb redete Rogge rasch weiter: »Sag mal, Dörte, du könntest mir einen Gefallen tun.«
»So?«
»Die Blumen in meiner Wohnung müssen gegossen werden.«
»Die einzigen Blumen, die ich bei dir je gesehen habe, welkten in Biergläsern.«
»Das weißt du, mein Schatz, das ist aber den beiden Typen unbekannt.«
»Welchen Typen?«
»Die vor meiner Wohnungstür herumlungern.«
»Ich verstehe. Du bist also verreist?«
»Exakt. Und zwar bis zum Sonntagabend.« Rogge nestelte den Schlüssel von seinem Bund. »Nach Wiesbaden, zum BKA, falls man dich fragt. Dort will ich mit einem guten Bekannten privat sprechen, und zwar über einen gewissen Wolfgang Tepper, gegen den vor - wann war das ... ?«