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Charlotte schrak zusammen, als er sie anredete, und Dörte spitzte die Lippen: »Gut sieben Jahre.«
»... gut sieben Jahren wegen - ich vermute mal: betrügerischen Konkurses ermittelt worden ist. Mich interessiert besonders, wer daran gedreht hat, dass das Verfahren eingestellt wurde.«
»Aha. Und mit all diesen Neuigkeiten soll ich den Knaben um den Hals fallen?«
»Ich halte sie für Zivilfahnder. Also werden sie sich ausweisen, du wirst dich als Staatsanwältin vorstellen und dir alle diese Details bröckchenweise aus deiner hübschen Nase ziehen lassen.«
»Großartig. Und das ganze Manöver nur, damit ihr in deine Wohnung könnt?«
Ihr leicht unfreundlicher, anzüglicher Ton entging ihm nicht; sollte Dörte eine leise Regung von Eifersucht verspüren? »Nein. Ich bin’s leid, dass mich alle herumschubsen, ich will endlich Stinkbomben werfen.«
Dörtes Blick wanderte zwischen ihm und Charlotte hin und her, bis sie schließlich ungehalten die Schultern zuckte: »Für unsere Kripo tun wir doch alles. Also verhaltet euch schön ruhig, ich werd sie in die Wüste schicken.«
Hinter Dörte fiel die Tür unnötig laut ins Schloss; Rogge zwinkerte Charlotte zu und ging zum Telefon, das er unter einem Berg von Akten ausgrub.
Hauptkommissar Kierle wollte gerade seine Wohnung verlassen und knurrte: »Ja, Jens, was gibt's?«
»Tut mir Leid, wenn ich störe, aber ich sitze da in einer Klemme. Ist dir der Name Liga mal untergekommen?«
»Liga?«
»Angeblich ein sehr exklusiver Verein von rechten Kapitalisten. Operieren international, Antidemokraten, antisemitisch und weiß der Geier was noch, und damit tarnen sie zum Beispiel Waffengeschäfte und illegale Industrieexporte.«
Am anderen Ende blieb es lange still, Rogge drückte sich die Daumen, dann räusperte sich Kierle umständlich: »Wie bist du denn darauf gestoßen?«
»Ach, durch einen Zeugen. Hat bei einer Investmentfirma gearbeitet und wohl was mitgehört, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Mit der Folge, dass jemand versucht hat, ihn umzubringen. Behauptet er, aber dafür suche ich noch Beweise.«
»Sag mal, Jens, diese Liga, die würde mich interessieren. Wo bist du jetzt?«
»Unterwegs nach Köln.«
»Köln?«
»Zum Bundesamt - na ja, für Verfassungsschutz. Da hab ich einen alten Kumpel sitzen, der soll für mich mal herausfinden, ob's diese Liga überhaupt gibt.«
»So, ja.« Kierle zögerte, aber bevor er sich entscheiden konnte, flötete Rogge freundlich: »Tschüss und danke, Norbert!«, und legte rasch auf.
Charlotte Bongartz stand in der Tür und sah ihn unsicher an: »Sie können aber sehr flüssig lügen.«
»Das lernt man, wenn man ein Leben lang schwere Jungens und leichte Mädchen verhört.«
»Den einen lassen Sie ausrichten, Sie führen nach Wiesbaden, Ihrem Freund flunkern Sie vor, Sie wollten nach Köln ...«
»Freund? Kierle ist nicht mein Freund«, stellte er klar. »Er ist Leiter des Staatsschutzes. Wenn ich mal ausnahmsweise ganz gute Laune habe, erzähle ich Ihnen, was ich von Staatsschutz und Verfassungsschutz halte.«
Darauf wusste Charlotte nicht, was sie antworten sollte, und er betrachtete sie erheitert. Die Tragweite dessen, was sie ihm bei dem Spaziergang am Beilhorner See erzählt hatte, konnte sie wohl nicht einschätzen, und Rogge dachte nicht im Traum daran, sie aufzuklären. Aber wenn er nicht ganz falsch lag, wurde sie verfolgt, weil sie bis jetzt die einzige Zeugin war, die Zinneck oder Tepper mit der Liga in Verbindung brachte. Mit seinem Anruf und Dörtes Botschaft hatte er signalisiert, dass jetzt auch mindestens ein Polizist diese Details kannte. Und was ein Polizist wusste, verbreitete sich auf dem Dienstweg nach der schönen Formel: erst zwei, dann vier, danach acht. Zu viele, um alle Mitwisser kaltzustellen oder zum Schweigen zu vergattern.
»Sagen Sie mal, Frau Bongartz, an dem Montag, an dem ich Ihnen mitgeteilt habe, dass Sie Charlotte Zinneck heißen - haben Sie da anschließend mit jemandem telefoniert oder gesprochen.«
»Darüber, dass Sie herausgefunden haben ... Nein.«
Zur selben Zeit hatte Kili per Computer, Faxgerät und Fernschreiber und E-Mail die Neuigkeit an alle möglichen Dienststellen verbreitet. Und von einer Stelle aus war diese Neuigkeit jemandem zu Ohren gekommen, der zwei Männer in Marsch setzte, um Charlotte Zinneck in ihrer Wohnung zu kidnappen.
»Warum sind Sie nicht mehr zu Ihrer Wohnung gefahren?«
Zu Rogges Erstaunen rang sie die Hände und schluckte so heftig, dass ihm plötzlich ein Licht aufging.
»Sie haben befürchtet, Schönborn sei ein Ligist?«
Sie wurde so bleich, dass er aufsprang, um sie festzuhalten, aber sie fing sich: »Ja, ja, natürlich.«
So natürlich war das nicht, aber er verstand, welche Zweifel sie an dem Abend überfallen hatten, als sich vor dem Plakat des Reisebüros der Vorhang hob. Ein reicher Mann, der sie an Hans Zinneck oder Wolfgang Tepper erinnerte, bemühte sich um sie, eine hilflose Frau, die nicht wusste, wer sie war. Nahm sie quasi in sein Haus mit, begann ein Verhältnis mit ihr, bot sich als Schutz und Helfer an. Wenn es nun keine Zuneigung war, sondern Kontrolle? Ihrem Ehemann hatte sie nicht vertrauen dürfen, warum sollte sie sich auf Achim Schönborn verlassen?
»Wann haben Sie Schönborn kennen gelernt? Vor oder nach dieser Fernsehsendung?«
»Nachher.« Sie schwankte.
»Setzen Sie sich!«, befahl Rogge und führte sie zu dem einzig freien Stuhl; alle anderen Sitzgelegenheiten hatte Dörte wieder mit Akten belegt. Charlotte weinte nicht, aber hielt die Tränen nur mit Mühe zurück. Daran hätte er eher denken müssen: Mit ihren Erfahrungen musste sie doch allen Menschen misstrauen. Auch ihm. Auch einem Achim Schönborn, der - wie er sich nur zu genau erinnerte - aus seiner konservativen bis reaktionären Gesinnung kein Hehl machte und für Polizei und Gesetze nur Hohn und Spott übrig hatte. Speziell für Staatsanwälte. Wenn es diese Liga tatsächlich gab und sie sie richtig beschrieben hatte, war Schönborn ein Top-Kandidat für diesen Verein.
Dörte knurrte und knallte den Schlüssel auf den Tisch: »Sie haben’s geschluckt.«
»Zivilfahnder?«
»Ja. Halte dich fest - zu deinem Schutz abgestellt!«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Und ich werde nach allem, was ich für dich tue, heilig gesprochen.«
»Heilige trinken keinen Cognac«, beschied er sie fröhlich. »Danke dir, wir verschwinden.«
»Und wohin?«
»Ins Ausland.«
»Na, dann viel Spaß.«
Ganz Baden-Württemberg schien auf Achse zu sein und die Mehrheit bewegte sich offenbar Richtung Bodensee. Obwohl Rogge angeboten hatte, Charlotte in ihre Wohnung zu begleiten, lehnte sie ab und deswegen opferten sie eine Stunde in Neuenburg, um das Nötigste für sie einzukaufen, damit die Reisetasche nicht ganz leer blieb. Anfangs sträubte sie sich, Geld von ihm anzunehmen, aber als er sachlich fragte, wie sie denn in der Schweiz die Fahrkarte nach Zürich bezahlen wollte, willigte sie ein; den Schuldschein lehnte er wiederum ab: »Meine Adresse haben Sie ja.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Gar nicht. Außerdem ruinieren Sie mich nicht.«
»Aber Sie werden fürchterlichen Ärger kriegen,«
»Meinen Sie?« Er gluckste. »Das glaube ich nicht. Ich habe mittlerweile den dumpfen Verdacht, dass einige Stellen, die zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufgerufen sind, uns wie Schachfiguren hin und her schieben wollten. Plötzlich spielen die Figuren nicht mehr mit, was sehr peinlich ist, und deshalb wird der Amtsmechanismus greifen. Keiner war’s, keiner wollte was, man geht kollektiv in Deckung.«
Darüber grübelte sie bis zur nächsten Vollbremsung, es hatte sich schon wieder ein Stau aufgebaut, und seufzte: »Das alles kommt mir manchmal wie ein Albtraum vor.«
»Auch daran gewöhnt man sich!«, tröstete Rogge.
Weil es schon dämmerte, versuchten sie gar nicht erst, ein Hotel auf der Insel zu finden, sondern mieteten sich in einem mächtigen vierstöckigen Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende ein. Zwei Einzelzimmer, die letzten, ganz großes Glück, dass vor einer Viertelstunde ein Gast abgesagt hatte; Rogge starrte den älteren Mann unbewegt an und zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, was den grauhaarigen Knaben mächtig verstimmte. So konnte man Kunden auch vergraulen, aber das behielt Rogge für sich.
Eine Martha Zinneck war tatsächlich im Telefonbuch eingetragen; Rogge rieb sich über das knisternde Kinn und strich alle Pflichten für heute: Morgen war auch noch ein Tag.
In der Halle schauten sie sich unsicher an und lachten wie auf Kommando los: Beide unterdrückten ein Gähnen.
»Zu früh, um schon ins Bett zu gehen!«, befand Rogge.
»Aber zu müde für einen großen Stadtbummel.«
Ein Taxifahrer empfahl ihnen ein Restaurant und sie folgten seinem Rat. Das mächtige Frühstück lag ihm noch im Magen, Rogge hielt sich lieber an den Wein, der herrlich entspannte.
»Kennen Sie Lindau?«, fragte Charlotte unvermittelt.
»Kennen wäre zu viel gesagt, ich bin vor Jahren einmal hier gewesen. Mit meiner Frau, auf einer Urlaubsreise.«
»Mich hat’s immer schon nach Frankreich gezogen.« Wahrscheinlich hatte ihr genau das an Zinneck gefallen. Oder auch imponiert, weil er nicht nur perfekt Englisch und Französisch sprach, sondern in beiden Ländern und Kulturen lebte, sich dort zu Hause fühlte. Wenn sie zusammen eingeladen wurden, beneidete sie ihn manchmal wegen der Selbstverständlichkeit, mit der die Franzosen Zinneck akzeptierten, so, als habe er schon immer zu ihnen gehört. Auch nach Jahren, die Charlotte in Frankreich gelebt hatte, war sie immer noch die Deutsche gewesen, »Jean« dagegen besaß zufällig einen deutschen Pass. Es hatte sie gekränkt, bis sie begriff, dass Zinneck ihre Verstimmung gar nicht verstand, weil er es nie anders kennen gelernt hatte. Es hatte auch nicht unbedingt mit Selbstbewusstsein zu tun, an dem es ihm übrigens nicht fehlte, sondern mit seiner Unbefangenheit. Zinneck drängte sich nicht auf, aber er bezweifelte nie, dass er mit allen Leuten mindestens auf gleicher Stufe verkehrte. - Ach, es war schwer zu beschreiben. Sie hatte Jahre gebraucht, sich einen kleinen Freundeskreis aufzubauen, er klopfte an und ihm wurden alle Türen weit geöffnet.
»Hat Zinneck seine Geschäfte nie erwähnt?«
Selten, sehr selten sogar. Man brauchte lange, um zu merken, dass er sehr verschwiegen sein konnte. Diskret, so nannte er es ironisch, aber das war eine Beschönigung, manchmal redete er viel, um viel zu verschweigen. In Cannes hatte Zinneck mit einer Gruppe französischer Geschäftsleute verhandelt, die in Nordafrika investierten, und Kontakte zu deutschen und englischen Geldgebern und Produzenten hergestellt. Das lag ihm, er dirigierte gerne andere Menschen an unsichtbaren Fäden, dann blühte er auf. Anfangs hatte Charlotte seine Klugheit, sein Fingerspitzengefühl bewundert und erst später voller Unbehagen registriert, dass Zinneck gerissen war. Doch da waren sie schon verheiratet gewesen - sie verbesserte sich: Da hatte sie angenommen, mit ihm verheiratet zu sein, obwohl Zinneck von seiner ersten Frau noch nicht geschieden war.
»Hat er nie von seiner Familie erzählt?«
Doch. Dass seine Mutter hier in Lindau lebte und von ihm nichts mehr wissen wollte. Der Vater bei einem Arbeitsunfall umgekommen, zwei Schwestern, beide verheiratet, mit den Schwägern verband ihn eine herzliche Abneigung. Man ging sich aus dem Wege, seit Zinneck sich früh von der Familie losgesagt hatte.
»Sind Sie nicht misstrauisch geworden?«
Nein. Nicht, solange sie in Frankreich wohnten. Auch noch nicht, als er plötzlich darauf drängte, fortzuziehen. Manches hätte ihr auffallen müssen, aber damals - sie verstummte und schob mit gesenktem Kopf ihr Glas hin und her. Nach einer langen Pause atmete sie tief durch. Jetzt durchschaute sie seine Taktik. Wie ein dummes Gör war sie darauf hereingefallen. Erst bemühte er sich um sie, bis sie mit ihm ins Bett stieg, dann zeigte er ihr die kalte Schulter und brachte sie dazu, ihm nachzulaufen. Ein uralter Trick, wie oft hatte sie sich über Romane geärgert, in denen Frauen so dumm dargestellt wurden und den Männern in die Falle nachliefen. Dass sie selbst ... Aber da war es zu spät gewesen und er hatte sie nie mit anderen Frauen betrogen. Belogen, getäuscht, hingehalten, ja, aber nicht betrogen. Rogge schaute sie stumm an und spürte, wie seine Zweifel wieder wuchsen.
»Vor diesem Abend in Kassel hat er das Wort Liga nie ausgesprochen?«
Nein. Nicht direkt. Manchmal hatte Zinneck ein Konsortium erwähnt und darunter hatte sie sich eine Gruppe von Kaufleuten oder Financiers vorgestellt, mit denen er über Kreuz geraten war. Doch warum - sie zuckte die Achseln. Geschäftlich ging’s ihm nicht schlecht, Geld war immer da, und Charlottes leise Befürchtung, Zinneck habe es auf ihr Erbe abgesehen, war schnell verflogen. Nur diese Unruhe, dieses ewige Umziehen, Weiterziehen ... Natürlich stimmte was nicht mit ihm, und als Zinneck sich weigerte, ihr Rede und Antwort zu stehen, starb ihre Liebe.
Warum hatte Zinneck sie überhaupt geheiratet - oder, wenn alle Einzelheiten stimmten, so getan, als heiratete er sie? An ihrem Geld schien er nicht interessiert zu sein, große Liebe hatte er für sie wohl auch nicht empfunden, da drängte sich natürlich der Verdacht auf, dass er Charlotte als Schutz benötigte. Falls Zinneck wirklich vor diesem Konsortium geflohen war, das sich vor einer Zeugin hüten musste. Denkbar, sozusagen um vier oder fünf Ecken gedacht, und so schien Zinneck vorgegangen zu sein, war auch ein anderes Motiv. Eine reiche Erbin erklärte, dass Zinneck über viel Geld verfügte, zumindest nach außen hin, und wenn er bei einem Geschäft, in das er als V-Mann eingeschleust worden war, wirklich abgesahnt hatte, würde sein Führungspersonal eine Begründung für diesen plötzlichen Reichtum verlangen. Zinneck wäre nicht der erste V-Mann gewesen, der zuletzt drei Herren diente, dem Auftraggeber, den Überwachten und sich selbst. In dieser Grauzone von Lüge, Gefahr und Abenteuer versagten viele, weil die tägliche Anspannung sie überforderte und die ständige Versuchung Maßstäbe verschob. Wenn Rogge mit einem Informanten redete, ging er immer davon aus, dass der Mann seine Kenntnisse auch der anderen Seiten verkaufte, aus Geldgier und aus Selbstschutz.
Charlottes vorwurfsvolles Hüsteln riss ihn aus seiner Grübelei: »Soll ich Ihnen mal sagen, was ich heute wirklich glaube?«
Rogge blubberte ein Ja und beäugte sie aufmerksam.
»Er war ein Spieler. Keiner, der sich beim Roulette oder an diesen Automaten ruinierte, aber einer, der ohne diesen Kitzel nicht leben konnte, alles auf eine Karte zu setzen.«
»Ja«, stimmte Rogge zu und lächelte befreit. »Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.«
»Dann verraten Sie mir mal, wieso ich ausgerechnet auf einen Spieler hereingefallen bin.«
Mit der Antwort ließ Rogge sich viel Zeit. Charlotte war eine hübsche, attraktive und intelligente Frau; selbst das billige Kleidchen, das sie in Neuenburg gekauft hatte, stand ihr gut und das Dämmerlicht in der niedrigen Gaststube verdeckte die Müdigkeit in ihrem Gesicht. Ob sie eine ernsthafte Frage gestellt hatte? Natürlich konnte Rogge sie trösten: Säufer und Spieler entwickelten fantastische Fähigkeiten, ihre Umgebung zu täuschen, ihre Sucht zu verheimlichen. Und ein Betrüger, der nicht charmant und zuvorkommend auftrat, hatte seinen Beruf verfehlt. Aber wollte sie das alles wirklich hören?
Charlotte schnitt eine ironische Grimasse: »Hiermit ziehe ich meine Frage zurück.«
»Meine Antwort hätte Sie auch nicht überzeugt.«
»Ich heiße tatsächlich Charlotte.«
Er verbeugte sich: »Jens.«
»Aber eine Verkürzung kann ich nicht leiden.«
»Charly, nicht wahr?«
Sonntag, 1. Oktober
Rogge hatte wie ein Toter geschlafen, und ohne diese Erschöpfung wäre es nicht bei einem Kuss vor der Zimmertür geblieben. Doch so war es besser, sie mussten sich heute trennen und sie konnten sich unbefangen ansehen. Ein böser Traum hatte ihn aufgeweckt, ein junger, gesichtsloser Mann mit zwei Pistolen in den Händen stürmte auf ihn los und schoss an ihm vorbei, traf einen anderen, der ebenfalls bewaffnet war und tot zusammenbrach. Den Wunsch seines Unterbewusstseins, sich für den Tod des Mannes vor dem Bellhorner Motel zu rechtfertigen, verstand er, doch mit diesem Bild würde er noch lange leben müssen. Er fühlte sich nicht schuldig, sondern verantwortlich, ein winziger, doch wichtiger Unterschied, das hatte er sich eingestanden. Doch selbst wenn seine Erinnerung ihm bestätigte, dass er in Notwehr geschossen hatte, bildete das nur einen schwachen Trost.
»Wenn man zu viel geschlafen hat, ist man schrecklich faul«, begründete Charlotte ihren Wunsch nach einem weiteren Kaffee.
»Ob die Schiffe auch so denken?«
»Schon verstanden. Du bist ein Sklaventreiber.«
»Na prima, dann also auf zum Rudern.«
Zwanzig Minuten später bremste Rogge vor einem winzigen Häuschen, das mit wildem Wein bis unter das Dach zugewachsen war. Über Nacht hatte es geregnet und die schwüle Feuchtigkeit verursachte Kopfschmerzen. Um diese Zeit war die schmale Gasse menschenleer, in dem grauen Licht wirkte sie trostlos, ja schäbig.
»Muss ich mitkommen?«
Das hatte Rogge sich auch schon überlegt. »Nein, ich gehe besser alleine.«
Das verrostete Gittertor im Zaun klemmte und quietschte lauter als jede Klingel. Ein Dackel kam um die Hausecke gebraust und bellte sich die Lunge aus dem Leib, wurde aber umgehend friedlich, als sich Rogge bückte und ihn hinter den Ohren kraulte.
»Ja, Sie wünschen?« Sie stand sehr gerade, sehr aufrecht unter der Tür und blitzte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie die achtzig erreicht, das Alter hatte seinen Tribut von ihren Kräften gefordert, jedoch nicht von ihrer Wachsamkeit.
»Guten Tag, Frau Zinneck, mein Name ist Rogge.«
»Guten Tag.« Ihre Musterung war offenbar zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen, denn sie lächelte schwach, und wie Rogge sie einschätzte, verließ sie sich auch auf ihren Dackel, der neben Rogge saß und fröhlich hechelte.
»Ich würde mich gerne nach Ihrem Sohn Hans erkundigen«, begann Rogge sehr vorsichtig und erschrak über ihr fassungsloses Gesicht.
Sie schwankte und musste sich am Rahmen festhalten. »Nach - Hans?« Die Stimme wollte ihr nicht gehorchen.
»Ja«, nickte er zurückhaltend.
»Was soll denn ... Mein Sohn ist doch tot.«
»Tot?«, echote er verwirrt.
»Hans ist vor zehn Jahren ertrunken.«
»Nein!«
»Wussten Sie das nicht?«
»Nei..,ein«, stotterte Rogge. An ihren Worten zweifelte er nicht, dazu hatte sie zu entsetzt und zu spontan geantwortet.
»Wie kommen Sie dazu - was ist denn passiert?«
So geriet man in Klemmen und jetzt musste Rogge aufpassen, dass er sich einigermaßen elegant herauswand: »Nein, das wusste ich nicht, Frau Zinneck. Es tut mir Leid, ich wollte nicht ..,«
»Das ist lange her«, unterbrach sie ihn würdevoll. Der Dackel gähnte.
»Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Ich suche einen Hans Zinneck, von dem ich nur weiß, dass er in Lindau geboren worden ist.«
»Hans ist in Lindau zur Welt gekommen«, sagte sie, jetzt zeigte sie ihren Argwohn offen.
»Ja«, stimmte er schnell zu, »aber mein Hans Zinneck hat vor zwei Jahren noch gelebt.«
»Dann ist er nicht mein Sohn«, behauptete sie fest. Der Dackel konnte ihre Gedanken lesen und schob sich leise knurrend ins Haus. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Rogge betäubt und rührte sich nicht, bis er hörte, dass sie den Schlüssel im Schloss drehte. Drinnen verabschiedete sich der Dackel mit einem unfreundlichen Wuff, Rogge drehte sich um und stakste zur Straße zurück. Also hatte Charlotte wohl doch die Wahrheit ... Rogge erstarrte, eine Hand noch am Griff des Törchens.
Zwei Männer, wie aus dem Boden emporgewachsen, versperrten ihm den Weg und musterten ihn finster. Der linke mochte Mitte zwanzig sein und die Natur hatte ihm wohl mehr Muskeln als Grips mitgegeben. Dagegen besaß der rechte, gut zehn Jahre älter und kleiner, ein intelligentes, aber gemeines Gesicht.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, fuhr der Gemeine Rogge an.
Wäre dieser arrogante Tonfall nicht gewesen, hätte Rogge versucht, sich herauszuschwindeln oder sie mit einem Bluff abzuschütteln, doch jetzt schoss die Wut wie eine Hitzewelle in ihm hoch,
»Ich hab Sie was gefragt!«
Wenn es sein musste, funktionierten die Reflexe immer noch. Mit aller Wucht trat Rogge dem Arroganten zwischen die Beine und traf, der Mann klappte laut aufschreiend wie ein Taschenmesser nach vorn, der Schläger, eine Sekunde lang von dem plötzlichen Angriff überrumpelt, bewegte sich schon vorwärts, doch Rogge tänzelte bereits zur Seite, aus der Reichweite des Brüllenden, der sich zu Boden fallen ließ, und riss die Pistole aus dem Halfter. Wieder zögerte der Bullige, der über seinen sich windenden Kumpel hinwegsteigen musste, gerade ausreichend lange, dass Rogge entsichern und durchladen konnte. Zwei, drei Sekunden standen sie wie die biblischen Salzsäulen einander gegenüber, der andere wimmerte und presste beide Hände auf seinen Unterleib. Dann senkte Rogge die Waffe auf den Mann am Boden.
»Zurück!«, befahl er und selbst der Schläger begriff, dass es hier jemand ernst meinte. Millimeterweise schob er sich zurück.
»Noch weiter. Schneller.«
Der Mann gehorchte, Rogge wechselte die Pistole in die linke Hand und bückte sich zu dem Arroganten, presste ihm die Waffe an den Kopf: »Sag deinem Freund, dass er abhauen soll, und zwar ganz schnell und ganz weit.«
»Was soll... ich kann ...«
»Ich zähle bis drei. Eins ...«
»Hau ab! Los!« Vor Angst schrillte seine Stimme, der Schläger kratzte sich unschlüssig am Kopf und Rogge rief laut: »Zwei...«
»Nun mach schon, du Idiot!«
Langsam drehte sich der andere um und entfernte sich, verfiel in einen merkwürdigen Zockeltrab.
»Dein Glück!«, zischte Rogge.
»Was ... was wollen Sie?«
»Erst einmal möchte ich deine Waffe, wenn du eine hast. Und bitte ganz langsam, ich bin sehr nervös.« Seine Stimme zitterte tatsächlich vor Wut.
»Ich habe - ja ...« Unendlich vorsichtig, als könne er jeden Moment einen empfindlichen Zünder berühren, griff der Arrogante unter die Jacke, Rogge drückte die Pistole fester an seine Schläfe, die Hand bewegte sich noch langsamer zurück. Tatsächlich, eine Pistole. Und kein Finger am Abzug.
»Gib mir die Waffe, Hand am Lauf.«
Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet, eine Männerstimme rief: »Ist was passiert?«
»Kann jederzeit geschehen«, zischte Rogge leise.
»Soll ich den Notarzt rufen?«
»Der käme zu spät!«, knurrte Rogge und riss dem Arroganten die Waffe aus der Hand, richtete sich auf und trat schnell zwei Schritte zurück, noch immer auf den Liegenden zielend.
Der Zuschauer vergaß seine staatsbürgerliche Pflicht zur Hilfe und staunte über den Livekrimi in seiner Gasse.
»Bleib noch liegen. Ich werde dir eine Quittung für die Waffe geben.«
»Wa...as?« Die Angst hatte den Schmerz betäubt und jetzt siegte die Verblüffung. »Was wollen Sie?«
Die Marke kannte er nicht, ein großes Kaliber, wahrscheinlich neun Millimeter. Einen Besen samt anhängender Putzfrau wollte Rogge fressen, wenn das eine Dienstwaffe war. Der Mann rollte sich herum, um ihn zu beobachten, das Gesicht immer noch vor Schreck und Schmerz verzerrt, aber er wagte nicht aufzustehen.
Rogge steckte die Pistole in eine Jackentasche und holte mit einer Hand mühsam Brieftasche und Kugelschreiber hervor, bückte sich wieder, legte das Ledermäppchen auf das Pflaster, holte eine Visitenkarte heraus und schrieb, immer wieder auf den Arroganten schielend: Quittung über eine 9-mm-Pistole. Lindau, 1. Oktober.
Die Karte legte Rogge vor sich hin, stand auf und zog sich noch weiter zurück.
»Ich rufe die Polizei!«, drohte der Zuschauer nun mit maximaler Lautstärke.