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Clive Caravaggio verständigte inzwischen unser Field Office.
Orry erreichte das Ende des Dachs, blickte hinab.
Sofort zuckte er zurück, als auf ihn geschossen wurde.
Dicht zischte das Projektil an seinem Kopf vorbei.
Eine Feuertreppe führte hinunter in einen Hinterhof. Orry hörte die schnellen klappernden Schritte auf den Metallrosten, aus dem die Feuertreppe bestand. Er blickte über den Dachvorsprung. Der G-man sah kurz das Gesicht des Flüchtenden. Es war zu einer Maske der Angst erstarrt. Umrahmt wurde es von gelocktem Haar. Ein dünner Oberlippenbart gab dem unteren Teil des Gesichts Kontur. Orry schätzte den Kerl auf nicht älter als 25 Jahre.
Er stand auf einem Treppenabsatz und ballerte in die Höhe.
Orry feuerte zurück.
Es machte klick. Der Flüchtende hatte das Magazin seiner Waffe offenbar leergeschossen. In Panik lief er weiter.
"Stehenbleiben!", rief Orry.
Der G-man landete mit einem Satz auf dem obersten Absatz der Feuertreppe. Orry nahm immer mehrere Stufen auf einmal und hetzte weiter hinunter.
Der Lockenkopf war inzwischen mit einem tollkühnen Sprung auf dem Asphaltbelag gelandet. Er schrie auf, rollte sich einigermaßen geschickt auf dem Boden ab, wie man es in Selbstverteidigungskursen beigebracht bekam.
Der Flüchtende hielt sich kurz den Fuß, rappelte sich auf und hetzte weiter.
Orry feuerte einen Warnschuss ab.
"Bleiben Sie stehen, Mann!"
Der Lockenkopf dachte gar nicht daran. Keuchend rannte er weiter. Er riss das leere Magazin aus dem Griff seiner Pistole heraus, schleuderte es von sich und griff in die Jackentasche, um ein neues hervor zu holen.
Der Hinterhof wurde von drei Seiten durch Gebäude unterschiedlicher Höhe begrenzt. Einige Pkw parkten hier. Außerdem standen auf der linken Seite einige überfüllte Müllcontainer. Auf der vierten Seite befand sich eine zwei Meter hohe Mauer, die von einer Zufahrt zur nahen Melrose Street unterbrochen wurde.
Eine Schranke versperrte den Weg. Nur wer die richtige Chipcard hatte, konnte mit dem Wagen hindurch.
Der Lockenkopf lief in Richtung der Müllcontainer.
Er schob hastig das frische Magazin in die Waffe, wirbelte herum und feuerte in Orrys Richtung.
Der G-man hatte gerade den letzten Absatz der Feuertreppe erreicht.
Für seinen Gegner war er ein Ziel wie auf dem Präsentierteller.
Orry duckte sich, feuerte zurück.
Dicht zischten die Kugeln des Lockenkopfs an ihm vorbei. Manche wurden von den Metallstreben der Feuertreppe als tückische Querschläger weitergeschickt.
Der Lockenkopf rettete sich inzwischen hinter einen Mercedes.
Orry nahm die letzten Stufen mit einem Sprung. Der Lockenkopf tauchte kurz aus seiner Deckung hervor, aber Orry rettete sich hinter einen Chevy. Dessen Seitenscheiben zerbarsten Augenblicke später unter dem Beschuss des flüchtigen Gangsters.
Der Lockenkopf rollte sich unter den parkenden Fahrzeugen hinweg.
Clive Caravaggio hatte inzwischen die Feuertreppe erreicht, hetzte mit weiten Schritten hinunter.
Im Hintergrund waren die Sirenen der Einsatzfahrzeuge des NYPD zu hören. Verstärkung war also im Anmarsch.
Der Lockenkopf tauchte plötzlich zwischen zwei parkenden Fahrzeugen hervor und feuerte auf Clive. Clive duckte sich und feuerte zurück.
Orry schnellte ebenfalls aus seiner Deckung hervor und schoss.
Der Lockenkopf duckte sich und rannte zu den Müllcontainern. Im nächsten Moment war er hinter ihnen verschwunden.
Orry setzte zu einem Spurt an.
Er verständigte sich mit Clive durch ein paar Handzeichen.
Von zwei verschiedenen Seiten pirschten sich die beiden G-men langsam an die Müllcontainer heran. Sie trafen dabei auf kein Gegenfeuer mehr.
Vorsichtig schlich Orry vorwärts, hielt sich dabei dicht an einem der Container. Als er ihn umrundet hatte, schnellte er mit der Waffe im Anschlag hervor.
Eine Gestalt tauchte von der anderen Seite her auf.
"Clive!", entfuhr es Orry. Unser indianischer Kollege senkte die Waffe.
Von dem Lockenkopf war nichts zu sehen.
Clive machte ein ziemlich ratloses Gesicht. "Verdammt, wo ist der Kerl?" Er blickte sich suchend um.
"Jedenfalls kann er sich nicht in Luft aufgelöst haben", brummte Orry. Auch er ließ den Blick schweifen. Schließlich deutete er zu einem Rost, das den Schacht zu einem Kellerfenster schützte.
Orry machte zwei schnelle Schritte darauf zu, bückte sich und hob mit einem Ruck das Rost an. Er schleuderte es zur Seite.
Der Schacht war etwa ein Meter fünfzig tief.
Das kaum gesicherte Kellerfenster war eingetreten worden.
"Bingo", flüsterte Orry. Er nahm die SIG mit beiden Händen. Ein Satz und er war unten im Schacht. Im Inneren des Kellers herrschte Halbdunkel.
Ein Geruch stieg von dort unten empor.
Gas!
Clive sah, wie selbst das bronzefarbene Gesicht unseres indianischen Kollegen ziemlich blass wurde.
"Hey, was ist los, Orry?"
"Hinlegen!"
Orry schwang sich aus dem Schacht, presste sich auf den Boden.
Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Explosionsgeräusch. Der Keller verwandelte sich in einen Glutofen.
Glut und Hitze schossen aus dem Kellerfenster heraus.
Genau wie Orry hatte sich Clive flach auf den Boden gelegt, in der Hoffnung, nicht allzu viel abzubekommen.
Risse bildeten sich im Brownstone-Gemäuer.
Orry und Clive rappelten sich auf, spurteten los und entfernten sich so schnell wie möglich vom Explosionsort.
"Der Kerl muss verrückt geworden sein!", stieß Orry hervor. "Sich selbst in die Luft zu jagen!"
Clive zuckte die Achseln. Sein Griff ging zum Handy. Außer den Verstärkungskräften von NYPD und FBI musste jetzt auch der Fire Service gerufen werden.
"Oben in Dolores Montalbans Wohnung wartet übrigens noch eine Überraschung", sagte Clive, bevor er Verbindung bekam.
Orry hob die Augenbrauen.
"Wovon sprichst du?"
"Im Bad liegt ein Toter. Während ich die Verstärkung rief, warf ich einen kurzen Blick hinein und sah den Kerl in der vollen Wanne liegen."
8
Eine Viertelstunde später wimmelte es rund um das Haus, in dem sich Dolores' Montalbans Wohnung befand, von Einsatzfahrzeugen. Der Fire Service war damit beschäftigt, den durch die Explosion verursachten Brand zu löschen. Es gab eine starke Rauchentwicklung. Außerdem war nicht klar, an welcher Stelle das Gas letztlich aus dem Leitungssystem ausgetreten war. Das alles machte besondere Vorsichtsmaßnahmen notwendig. Die Bewohner mehrerer Blocks mussten sicherheitshalber evakuiert werden. Bei dem Gebäude, in dessen Keller die Explosion stattgefunden hatte, ging das nur über die Leiterwagen des Fire Service. Bei den am Gebäude installierten Feuertreppen war nicht klar, wie fest sie noch verankert waren, denn die Bausubstanz hatte durch die Detonation erheblichen Schaden erlitten. Selbst ein Einsturz konnte nicht ausgeschlossen werden.
Dazu kam, dass ein Gemisch aus Rauch und giftigen Gasen innerhalb des Hauses emporstieg.
Wer dort hineingeriet, war unter Umständen innerhalb weniger Minuten ohnmächtig, was in dieser Situation den sicheren Tod bedeutete.
Das gesamte Gebiet war auf Clives Anweisung hin weiträumig umstellt worden. Eine Personenbeschreibung des flüchtigen Täters war an alle NYPD-Einheiten gegangen. So schnell es ging würde ein Phantombild folgen, das an sämtliche Police Precincts des Big Apple gehen und über das Datenverbundsystem NYSIS nationwide abrufbar sein würde.
In Dolores Montalbans Wohnung herrschte ebenfalls Gedränge. Außer den Erkennungsdienstlern der Scientific Research Division waren dort auch die FBI-Spurensicherer Mell Horster und Sam Folder tätig.
Clive und Orry befanden sich im Bad.
In der Wanne lag ein Mann im schwarzen Anzug.
Das Gesicht war unter der Wasseroberfläche, die Füße ragten dafür aus der Wanne heraus. Eine automatische Pistole lag auf dem Boden.
"Was sollen wir denn davon halten?", brummte Orry.
"Es heißt, dass Montalban seine Tochter bewachen ließ", sagte Clive. "Der Kerl könnte einer der Wachhunde gewesen sein. Er schöpfte Verdacht, überraschte die beiden Einbrecher und..."
"...die haben ihn dann überwältigt und in die Wanne gelegt."
"Sie haben ihn nicht erschossen, weil das Lärm gemacht hätte, Orry."
Orry nickte nachdenklich. "Keiner der beiden hatte eine Waffe mit Schalldämpfer dabei. Woran starb der Kerl dann?"
Clive trat auf die Wanne zu.
Er griff ins Wasser, schob das Kinn des Toten etwas zur Seite. Am Hals wurde ein kleiner Einstich sichtbar. Nicht größer als ein Mückenstich. "Na, kommt dir das nicht bekannt vor, Orry?"
9
"Du kehrst allein von deinem Auftrag zurück, Brett?", fragte die heisere, tiefe Stimme des Kuttenträgers.
Brett schluckte.
Das Licht einiger flackernder Kerzen erhellte den Raum nur notdürftig. Der junge Mann mit den gelockten Haaren und dem dünnen Oberlippenbart trat nur zögernd einen Schritt näher an den Kuttenträger heran.
Knarrend fiel hinter ihm eine Tür ins Schloss.
Jetzt bin ich allein mit ihm, durchzuckte es Brett schaudernd.
Die Kerzen bildeten ein Pentagramm. Der Kuttenträger saß in sich versunken davor. Er drehte Brett den Rücken zu und rührte sich nicht.
"Mike und ich waren dort in... Dolores Wohnung..." Brett sprach abgehackt, stotterte sogar ein wenig.
"Wo ist Mike? Warum ist er nicht hier? Berichte mir alles! Das bist du unserer Gemeinschaft schuldig!"
Brett nickte. "Wir haben versagt, Bruder Maleficius", brachte er schließlich heraus.
"Der Herr der Finsternis hört das nicht gerne."
"Scheiße, Mann, es geht auch alles schief bei dieser Sache!"
"Du vergisst dich!"
"Verzeih, Herr!"
"Dein Temperament geht manchmal mit dir durch, Brett. Die Kraft der Dunkelheit sollte dir inzwischen schon deutlich mehr Gelassenheit geben!"
"Ja, Herr."
Der Kuttenträger, der sich Bruder Maleficius nennen ließ, erhob sich mit überraschender Schnelligkeit.
Er trat auf Brett zu. Sein entstelltes Gesicht lag vollkommen im Schatten der Kapuze. Nichts als Finsternis war dort zu sehen.
"Berichte, Brett!"
"Da war ein Typ, der zu Montalbans Leuten gehörte und uns schon länger gefolgt sein muss! Wir konnten ihn ausschalten..."
"Das ist gut!"
"Die werden uns jagen, Bruder Maleficius!"
"Was ist noch geschehen?"
"Zwei FBI-Leute haben uns überrascht. Wir mussten die Durchsuchung der Wohnung abbrechen."
"Und wo ist Mike?"
"Er ist tot, Bruder Maleficius."
"Dann wird es vielleicht ein paar Unannehmlichkeiten für uns geben!"
"Unannehmlichkeiten? Verdammt, ich..."
"Mäßige dich, Brett. Die Macht der Finsternis scheint zurzeit nur sehr schwach in dir ausgeprägt zu sein. Wir sollten die Rituale bei dir erneuern, Bruder des Bösen."
Brett atmete tief durch.
Er hatte das Gefühl, als ob ihm jemand den Hals abzuschnüren versuchte. Wir hätten einfach die Finger von einer Braut mit dem Familiennamen Montalban lassen sollen!, ging es Brett durch den Kopf. Dann hätten wir jetzt keine Probleme. Weder mit dem FBI noch mit den Mobstern des Montalban-Clans...
Aber Brett schluckte diese Kritik an Bruder Maleficius herunter.
Der Narbengesichtige schätzte es nicht sehr, wenn man seine Entscheidungen nachträglich in Frage stellte. Er sah sich selbst als der Stellvertreter Satans auf Erden an. Das beinhaltete auch die Vollmacht, über Leben und Tod zu entscheiden. Ganz besonders galt das für die Mitglieder seiner Gemeinschaft.
"Ich weiß, was du sagen willst, Brett. Ich kenne jeden deiner Gedanken. Vergiss niemals, wie stark die Macht der Finsternis in mir ist. Sie durchdringt jede Faser meines Körpers, jeden Winkel meines Bewusstseins und verleiht mir die innere Kraft, das zu tun, was getan werden muss. Die zu richten, die der Macht Satans im Wege stehen. Aber habe ich dir je versprochen, an meiner Seite einen einfachen Weg gehen zu können, Brett?"
"Nein", flüsterte der Lockenkopf.
"Und jetzt fahre fort in deinem Bericht! Ich will jede Einzelheit wissen!"
"Ja."
"Wir sind Brüder und Schwestern in Schande, Diener des Bösen, Verkünder des Unaussprechlichen..."
"Ja, Bruder."
"Erinnere dich der Kraft, die du selbst während des Einführungsrituals erhalten hast. Erinnere dich, wie du ein Teil von uns wurdest. Ein Teil der Finsternis..."
"Ja", murmelte Brett fast tonlos.
"Wenn Dolores Montalban wirklich eine der unseren geworden wäre, hätte uns das große Macht in die Hände gegeben. Wer konnte schon ahnen, dass das Höllenfeuer der Dunkelheit in ihrem Geist offenbar noch nicht stark genug brannte, um die Prüfung bestehen zu können..."
10
Ich fuhr den Sportwagen gerade über die Brooklyn Bridge. Zu beiden Seiten glitzerte das Wasser des East River im milchigen Licht der Abendsonne. Vor uns lag die Skyline des Big Apple, wie man sie sonst nur auf Postkarten fand.
Das Handy schrillte.
Milo nahm ab. Über die Freisprechanlage konnten wir beide die Stimme von Jonathan D. McKee hören, dem Chef des FBI Field Office New York im Rang eines Special Agent in Charge.
"Milo, Jesse, wo sind Sie jetzt gerade?"
"Die Brooklyn Bridge haben wir zur Hälfte passiert. Wenn wir nicht in einen der berüchtigten Staus auf dem Elevated Highway geraten, sind wir in Kürze bei Ihnen, Sir", antwortete mein Kollege.
"Ich brauche Sie beide an der Pier 41. Wir haben einen Tipp bekommen. Danach soll Tommy Aranjuez eine Riesenladung Kokain in Empfang nehmen. Aranjuez gilt als Montalbans Vertrauensmann in der South Bronx."
"Schon ein eigenartiger Zufall, dass dieser Tipp ausgerechnet jetzt kommt", fand ich.
"Das mag sein, Jesse. Aber so einen Fang können wir uns in keinem Fall durch die Lappen gehen lassen. Aranjuez wäre die größte Nummer in Montalbans Organisation, die uns je ins Netz gegangen ist. Vielleicht ist er kooperativ und wir erfahren von ihm etwas mehr über das, was hinter den Kulissen dieses Syndikats so vor sich geht."
"Wann soll der Deal über die Bühne gehen?", fragte Milo.
"Nicht vor 18.00 Uhr. Sie brauchen also keinesfalls mit Rotlicht anzubrausen", antwortete Mister McKee. "Jay und Leslie sind schon dort. Jay hat die Einsatzleitung. Ansonsten schicke ich jeden Agenten hin, den ich im Moment freibekommen kann..."
11
Etwa fünfzehn Minuten später trafen wir auf einem Parkplatz am West Side Highway in der Nähe von Pier 41 ein. Man hatte einen guten Blick auf die Pier, konnte alles überblicken. Ein Container-Terminal befand sich dort. Den Sportwagen parkten wir etwas abseits. In einem als Pizza-Express-Wagen getarnten Van war unsere mobile Einsatzzentrale. Dort trafen wir unsere Kollegen Jay Kronburg und Leslie Morell.
Agent Fred LaRocca war kurz vor uns eingetroffen. Außerdem waren noch Lieutenant Ray Grogan von der Drogenpolizei DEA sowie Captain Barry Sykes von der Hafenpolizei anwesend.
Jay erläuterte uns die Lage. "Zunächst einmal sei gesagt, dass der Informant eine bislang absolut zuverlässige Quelle ist, die sowohl uns als auch die Kollegen der DEA bislang immer mit zutreffenden Informationen aus dem Umfeld der kolumbianischen Drogenkartelle versorgt hat. Wir können also davon ausgehen, dass auch dieser Tipp brandheiß ist."
"Es geht um eine Ladung Kokain?", fragte ich.
Jay Kronburg nickte. "Versteckt in einer Ladung Landmaschinen. Die Maschinen sind bereits an Land. Fünf große Container mit der Aufschrift "Pan-Americana Cargo". Sie kommen von einem Schiff mit der Bezeichnung Panama Queen, das zurzeit am Kai liegt. Es wird in Kürze den Hafen verlassen..."
"Bevor der Deal über die Bühne geht?", fragte Fred LaRocca.
Jay nickte. "Natürlich. Kapitän und Mannschaft hängen in der Sache mit drin und wollen natürlich kein Risiko eingehen."
Captain Barry Sykes von den Kollegen der Hafenpolizei ergriff das Wort. "Unsere Leute und die Einheiten der Coast Guard werden den Kahn im Auge behalten und ihn nach Möglichkeit stoppen, solange er sich noch nicht in internationalen Gewässern befindet. Aber zunächst müssen wir die Brüder leider ziehen lassen, wenn wir an die größeren Fische heranwollen."
Jay Kronburg aktivierte einen Flachbildschirm, der zu der Computeranlage in der mobilen Einsatzzentrale gehörte. Das Bild eines Mannes mit Knebelbart, hoher Stirn und schütterem, blauschwarzem Haar wurde sichtbar.
"Das ist Aranjuez, den die Kollegen der DEA für Montalbans Vertrauensmann halten", erklärte Jay.
DEA-Lieutenant Grogan mischte sich in das Gespräch ein. "Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Nur sind sowohl Montalban als auch Aranjuez äußerst clever. Als zuletzt ein District Attorney versucht hat, gegen Aranjuez eine Anklage zusammenzubasteln, ist er damit vor Gericht mit Pauken und Trompeten untergegangen."
"Diesmal kriegen wir ihn vielleicht", sagt Jay. "Denn den Angaben des Informanten nach kommt die Koks-Ladung von einem neuen Geschäftspartner. Aranjuez' Job ist es also, hier her zu kommen und die Lieferung zu bezahlen."
"Hier an der Pier?", fragte ich.
Jay nickte. "Beide Partner misstrauen sich und setzen wahrscheinlich darauf, dass jeder hier nur mit einem kleinen Aufgebot an Mobstern auftreten kann", gab Leslie Morell zu bedenken.
"Hier ist so viel los, dass so ein Deal gar nicht auffällt", ergänzte Jay. "Unseren Einsatz macht das auch nicht gerade unkomplizierter. Aber dazu später mehr."
"Wie soll der Deal genau ablaufen?", erkundigte sich Milo.
"Aranjuez trifft sich mit einem Mittelsmann und übergibt das Geld", gab Jay Auskunft.
"Kennen wir den Mittelsmann?", fragte ich.
Jay schüttelte den Kopf. "Leider nicht. Wir müssen uns an Aranjuez halten. Sobald das Geld übergeben ist, wird der Mittelsmann die Container mit den Landmaschinen für den Weitertransport freigeben. Vielleicht übergibt er die entsprechenden Papiere auch gleich an Ort und Stelle. Zielort ist ein Wiederverkäufer in Connecticut, aber auf dem Weg nach Norden machen die Trucks einen kleinen Zwischenstopp auf einem stillgelegten Industriegelände in der Bronx. Da wird das Rauschgift aus den Containern geholt."
"Okay, dann würde ich sagen, legen wir unsere Kevlar-Westen an!", meinte Fred LaRocca.
"Moment", sagte Jay. "Wir haben einige Dutzend Arbeitsjacken und Schutzhelme organisieren können, wie sie von Hafenarbeitern hier im Terminal getragen werden."
"Wo sind die Jacken?", hakte ich nach.
Jay machte eine wegwerfende Handbewegung. "Auf dem Weg hier her. So wie im Übrigen auch ein Großteil der Kollegen, die an der Operation teilnehmen soll. Ich hoffe nur, dass diese improvisierte Aktion glatt über die Bühne geht."
12
Wenig später befanden sich Milo und ich in der Nähe der Container mit der Aufschrift "Pan-Americana Cargo". Wir trugen Arbeitsjacke und Schutzhelm, darunter die Kevlar-Weste und die SIG. Über Ohrhörer und Kragenmikro hatten wir Funkverbindung zu den Kollegen.
Sobald Aranjuez auftauchte und seinen Mittelsmann traf, war der Erfolg dieser Operation weitgehend eine Frage der Koordination.
Im Laufe der Zeit trafen immer mehr Kollegen ein.
Jeder von uns versuchte sich so unauffällig wie möglich auf dem Pier zu bewegen.
Die "Panama Queen" legte ab und fuhr Richtung Battery Park und Statue of Liberty nach Süden.
"Ich frage mich, was das für ein Informant ist, der für diesen Supertipp verantwortlich ist", raunte ich Milo zu, während wir darauf warteten, dass sich irgendetwas tat. Wir standen uns die Füße platt, mussten die Umgebung im Auge behalten und gleichzeitig den Eindruck vermitteln, irgendetwas an den Containern oder der Hafenanlage zu tun zu haben.
"Sofern der Tipp gut ist, ist mir das ziemlich gleichgültig", bekannte Milo.
"Das ist doch kein Zufall! Montalbans Tochter wird wahrscheinlich bei einer schief gegangenen Entführung getötet, wenig später geht ein brandheißer Tipp ein, der den großen Boss vielleicht in ziemlich große Schwierigkeiten bringt!"
"Du meinst, dass eine hat etwas mit dem anderen zu tun?"
"Kannst du das ausschließen?"
"Sieht ganz so aus, als wollte da jemand Rick Montalban in arge Schwierigkeiten bringen!"
"Kann man wohl sagen."
Milo zuckte die Achseln. "Um ehrlich zu sein, das würde sogar ziemlich gut zusammenpassen. Der Tippgeber hat vielleicht etwas mit der Entführung zu tun und will sich jetzt vor Dirty Ricks Rache schützen, indem er zum Gegenangriff ansetzt. Und dass die Entführer zumindest Helfer unter den Insidern des Montalban-Syndikats gehabt haben müssen, dürfte außer Frage stehen."
"Bevor wir uns in Spekulationen versteigen, sollten wir mehr über den Typ wissen, der es wagt, Dirty Rick zu verraten, Milo", erwiderte ich.
Wir hatten keine Gelegenheit mehr, uns weiter zu unterhalten.
Über Ohrhörer vernahmen wir Jay Kronburgs Stimme.
"Aranjuez' Wagen ist im Anmarsch. Eine blaue Ford-Limousine. Sie fährt auf den ehemaligen Anlegeplatz der Panama Queen zu..."
An der Kai-Mauer standen ein paar vereinzelte Angler. Einer der gewaltigen Kräne hievte einen zwanzig Tonnen fassenden Container durch die Luft und setzte ihn zielsicher auf den vorgesehenen Truck.
Wenig später sahen wir die Limousine.
Zwei Männer stiegen aus, blickten sich um.
Sie trugen schwarze Anzüge. Bei einem der Kerle blitzte kurz eine Waffe auf, als das Jackett zur Seite glitt.
Schließlich stieg noch jemand aus. Das war Aranjuez. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er trug einen Koffer, der mit einer Kette an seinem Handgelenk befestigt worden war.
Die Drei warteten.
Milo und ich postierten uns an der Ecke eines Containers.
Jay dirigierte per Funk die Einsatzkräfte an strategisch günstige Positionen.
Einige Augenblicke lang geschah gar nichts.
Mir fiel ein großes Schlauchboot mit Außenbord-Motor auf. Es war am Heck eines Schrott-Frachters mit der Bezeichnung "Albany Star" befestigt. Zwei Männer standen in dem schaukelnden Boot und bemühten sich offenbar, die meterhoch aufragende Stahlwandung mit Rostprimer zu streichen. Die beiden machten mir einen ziemlich unkonzentrierten Eindruck. Sie blickten immer wieder in Richtung des Ufers.
"Da fährt gerade ein metallicfarbener Van vom West Side Highway ab!", berichtete Jay Kronburg über Funk. "Dem Kennzeichen nach gehört er Tobias Garcia, einem von Aranjuez' Leuten."
"Aranjuez will offenbar auf Nummer sicher gehen", murmelte Milo.
Der Van parkte in einigem Abstand von dem ehemaligen Anlegeplatz der "Panama Queen" hinter einer Reihe von Trucks, die darauf warteten, beladen zu werden. Von Jay Kronburgs Position aus war das alles gut zu überblicken. Er beschrieb uns die Position. Einige unserer Leute wurden eingeteilt, um den Van und seine Insassen im Auge zu behalten.
Endlich bewegte sich etwas.
Einer der Angler packte seine Sachen zusammen und ging auf Aranjuez zu.
Der Angler sprach den Mann mit dem Koffer an.
"Achtung, es geht gleich los!", verkündete Jay Kronburg über Funk. Abhörspezialisten der DEA dokumentierten das Geschehen per Kamera und Richtmikrofon.
Schließlich musste am Ende alles juristisch wasserdicht sein.
Der Angler gab Aranjuez ein kleines Päckchen. Dieser gab es an einen seiner Mobster weiter, einem breitschultrigen Mann mit Ohrring. Der wandte sich in Richtung Ufer. So konnten wir nicht sehen, was er tat. Vermutlich nahm er eine Prise, um sie zu testen. Der Mann mit dem Ohrring nickte Aranjuez zu.