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Am nächsten Tag nieselte es, das Zimmerchen war kühl und Karin hauchte auf ihre kalten Finger.
»Das Ermittlungsverfahren gegen Ihren Mann ist eingestellt worden«, erklärte Driesch nüchtern und beobachtete die Frau scharf. Die Auskunft schien sie zu erstaunen, aber vielleicht schauspielerte sie auch nur überzeugend.
»Das ist ja - dann wissen Sie also nicht, wo Wolfgang - mein Mann - jetzt steckt?«
»Nein, Frau Tepper, die Justiz hat kein Interesse mehr an Ihrem Mann.«
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte sie hilflos und Driesch zuckte die Achseln: »Haben Sie einmal an einen Privatdetektiv gedacht?«
»Da war ich schon, bei Altmann & Müller, aber die haben abgewinkt. Keine Chance, meinen sie.«
»Das spricht für ihre Seriosität«, versetzte er burschikos. »Tja, das wär's dann wohl, Frau Tepper.«
Für Feiern hatte Norbert Driesch nicht viel übrig, erst recht nicht, wenn sie in der deprimierend hässlichen Kantine der Staatsanwaltschaft stattfanden. Aber vor der Verabschiedung seines Kollegen Samtleben konnte er sich nicht drücken und deshalb handelte er mit sich selbst einen Kompromiss aus: Er würde sich erst nach den feierlichen Reden dort blicken lassen; dann war zwar das kalte Buffet bis auf klägliche Reste geplündert, aber darauf verzichtete er ohnehin gern. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, ein paar private Sätze mit Samtleben zu wechseln, den er wegen seiner ruhigen, bedächtigen Art mehr als die meisten anderen Kollegen schätzte. Bei ganz viel Glück traf er auch die Neue ... Er klemmte die Mundwinkel ein.
Die Reihen hatten sich tatsächlich schon gelichtet, aus Erfahrung erkannte Driesch, dass sich bereits die harten Kerne bildeten, die bis kurz vor Mitternacht durchhalten würden, entweder hier oder in einer Kneipe neben dem Landgericht. Es roch durchdringend nach Wein und Bier, unter der Decke schwebte der blaue Baldachin aus Zigaretten- und Pfeifenrauch und aus einer Gruppe erscholl ein Lachen, wie es nur deftige Männerwitze auslösten. In der entferntesten Ecke hielt der leitende Oberstaatsanwalt Hof und Driesch schnitt eine Grimasse. Der Leitende hieß Hommel, der Spitzname Hammel ergab sich also unvermeidlich und wie ein Leithammel benahm er sich gelegentlich auch. Zu Beginn seiner Laufbahn war Hommel schnell befördert worden, alle prophezeiten ihm eine blendende Karriere, aber aus unerfindlichen oder gut geheim gehaltenen Gründen erlitt sie einen Knick. Seitdem kompensierte Hommel seine Frustrationen durch peinliche Anbiederung oder ebenso unverständliche Feindseligkeit. Driesch ging ihm aus dem Weg, zwischen ihnen herrschte eine Art brüchiger Waffenstillstand, den keiner von ihnen testen oder durch mehr als unvermeidliche Kontakte belasten wollte.
»Ich habe Sie schon vermisst«, tadelte Samtleben neben ihm vergnügt und Driesch lachte ihm zu: »Sie kennen doch meine klaustrophobischen Anwandlungen.«
»Es war wirklich unerträglich eng.«
»Wie alles in diesem Hause.«
Den Doppelsinn hatte Samtleben natürlich verstanden und deshalb gestand er verschwörerisch: »Ich bin eine gespaltene Persönlichkeit ...«
»Ah ja?«
»Doch, doch. Einerseits leugne ich nicht, dass ich den Betrieb vermissen werde, aber auf der anderen Seite übt der Gedanke, mit all dem nichts mehr zu tun zu haben, einen gewaltigen Reiz aus.«
»Sie waren klug genug, sich rechtzeitig ein Hobby zuzulegen.«
Vor drei Jahren hatte Samtleben seinen ersten Aufsatz über die Entwicklung der niederen Gerichtsbarkeit im Erzbistum Trier veröffentlicht, der von der historischen wie der juristischen Zunft sehr wohlwollend aufgenommen worden war, und Driesch wusste, dass der Kollege jetzt jede freie Stunde in Archiven und Bibliotheken verbrachte.
»Ach, Hobby, Herr Driesch. Das alte Geschäft auf der Basis der Freiwilligkeit.«
»Aber immerhin ohne einen Leithammel im Nacken.«
»Dafür allerdings danke ich aus ganzem Herzen.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück, viel Zeit und viel Gesundheit. Dass ich Sie nicht gern davonziehen sehe, wissen Sie ja.«
Samtleben kniff ihm ein Auge zu; sie gaben sich nicht die Hand, dazu verstanden sie sich zu gut. Außerdem war beiden klar, dass Samtleben noch mehr als einmal hier zu Besuch erscheinen würde, er zählte zu den glücklichen Menschen, die ohne Groll und Kränkung aus ihrem Beruf schieden.
Eine Viertelstunde schlich Driesch durch den Saal, redete ein paar Sätze mit einigen Kolleginnen und Kollegen, hielt sich aber bei keiner Gruppe länger auf, weil er in einer Ecke die neue Kollegin Brigitte Damerow entdeckt hatte. In großen Kurven pirschte er sich an sie heran und zweimal begegneten sich zufällig, aber viel versprechend ihre Blicke.
»Sieh da, Herr Kollege Driesch.«
Als die joviale Stimme hinter ihm ertönte, verfluchte Driesch seine Unaufmerksamkeit. Auch der Leithammel hatte sich in Bewegung gesetzt und kreuzte nun seinen Weg. Nach einem Blick in das leicht gerötete Gesicht stand fest, dass Hommel die Phase der Leutseligkeit erreicht hatte.
»Wir haben Sie schon vermisst.«
Du verdammter Lügner, dachte Driesch erbost. Laut erklärte er möglichst ausdruckslos: »Ich wurde von einer Frau aufgehalten.«
»Das ist doch eine angenehme Belästigung.«
»Nicht unbedingt, Herr Hommel. Eine Frau Tepper, Karin Tepper.«
»Sagt mir nichts, der Name.«
»Vor sieben Jahren habe ich gegen ihren Ehemann Wolfgang ermittelt. Betrügerischer Konkurs, Betrug, Urkundenfälschung.«
Hommel runzelte die Stirn, auch bei ihm schien ein Glöckchen anzuschlagen.
»Der Kerl, der rechtzeitig alle Unterlagen beseitigt hatte.«
Jetzt zog Hommel die Augenbrauen zusammen, aber Driesch strahlte in schönster Harmlosigkeit: »Sie haben mich damals angewiesen, die Ermittlungen einzustellen.«
»Hab ich das?«
Darauf nickte Driesch nur, gespannt, wie sich Hommel aus der Affäre ziehen würde, doch der Leitende verschwendete keinen Gedanken daran, dass ein Untergebener ihm wegen einer Entscheidung grollen könnte, sondern erkundigte sich neugierig: »Und was wollte seine Frau - wie hieß sie noch?«
»Tepper, Karin Tepper.«
»Ah ja! Und was wollte sie von Ihnen?«
»Sie war nach Amerika entschwunden, noch bevor das Verfahren eingestellt wurde. Nun hat sie’s wieder in die Heimat verschlagen und ich soll ihr helfen, den Ehemann zu finden.«
»Nach sieben Jahren?«, meckerte Hommel.
»Die Liebe geht seltsame Wege«, erwiderte Driesch spöttisch und der Leitende klatschte in die Hände: »Sie sagen es, Kollege Driesch, so ist es.«
Damit entfernte er sich, um eine andere Gruppe mit seiner Gegenwart zu belästigen, und Driesch blies viel Luft ab. Je länger er mit Hommel zu tun hatte, desto unsympathischer wurde ihm der Mann, was, so stand zu befürchten, auf Gegenseitigkeit beruhte. Nun ja, alles zu seiner Zeit, er zuckte die Schultern, als müsse er den Leitenden abschütteln, und steuerte energisch die Gruppe um die neue Kollegin an.
Brigitte Damerow betrachtete Driesch offen und ein wenig herausfordernd, wie er fand. Ihre Mundwinkel zuckten.
»Der letzte Mohikaner«, moserte sie ihn an.
»Vorsicht, keine vorwitzigen Urteile. Der Hammel hat mich eben mit Herr Kollege angeredet.«
Die beiden jüngeren Staatsanwälte staunten und vergaßen einen Moment, was sie zusammengeführt hatte; Brigitte Damerow riss dagegen die dunkelbraunen Augen weit auf: »Und was hat das zu bedeuten? Lob, Tadel, Strafversetzung oder vorzeitige Beförderung?«
»Das kommt ganz darauf an. Wenn er schlechte Laune hat, heißt es, er beginnt einen Rückzug. Wenn er gute Laune hat, will er damit ausdrücken: Vergessen Sie nicht, ich bin Ihr Vorgesetzter.«
»Das verstehe ich nicht!«, räumte sie ein und die beiden Kollegen amüsierten sich. »Hier geht’s ja - merkwürdig zu.«
»Streng dienstlich, Frau Kollegin.«
»Frau - das ist ja ätzend - Sagen Sie mal, haben Sie jetzt gute oder schlechte Laune?«
»Tja, eigentlich schlechte, aber bei Ihrem Anblick wird sie von Sekunde zu Sekunde besser.« Driesch wusste, dass er alberte, was so gar nicht zu ihm passte, die beiden anderen Männer warfen sich bereits Blicke zu und zerkauten ein wissendes Lächeln, aber er schaffte es einfach nicht, sich in Brigitte Damerows Gegenwart normal zu geben. Zumal sie gern zu lachen schien und mit ihren feuerroten Löckchen und unzähligen Sommersprossen ganz bestimmt kein Kind von Traurigkeit war. Er hatte sich in ihre dunklen Kulleraugen verguckt, die sie prachtvoll rollen konnte. Was sie jetzt wieder tat, ein schneller Blick streifte seinen Ehering, bevor sie ihm ihr leeres Glas hinstreckte: »Mit trockenem Hals höre ich ausgesprochen schlecht.«
IV.
In der Nacht war es abgekühlt, die Sonne kämpfte sich durch einen dichten Wolkenschleier und wärmte noch nicht. Zu dieser frühen Morgenstunde hatten Hommel und Reineke den Golfplatz praktisch für sich allein, zweihundert Meter vor ihnen marschierte ein Unentwegter, der alle fünfzig Schritt gymnastische Übungen einlegte, Kniebeugen und Armkreisen oder Luftsprünge wie ein Hampelmann.
»Was ist los mit dir? Seit wann kriegt man dich an einem normalen Arbeitstag so früh aus den Federn?«
Hommel drehte ärgerlich den Kopf, aber Reineke ordnete ungerührt die Schläger in seinem Wägelchen, wobei er leise vor sich hin pfiff.
»Mit mir ist gar nichts los«, sagte der leitende Staatsanwalt endlich verkniffen. Ihm war kalt, er hasste das Frühaufstehen und Lust zu einer Runde verspürte er überhaupt nicht. »Ich wollte dir einen Gefallen tun.«
»Dann im Voraus besten Dank.«
»Kannst du dich noch an diesen Tepper erinnern?«
»Tepper?«, wiederholte Reineke ausdruckslos und richtete sich auf.
»Wolfgang Tepper. Vor sieben Jahren.«
»Doch, ja, schwach.« Er runzelte die Stirn.
»Du wolltest ihn unbedingt haben.«
Reineke nickte zögernd: »Das war der Mann mit der französischen Mutter und dem deutsch-englischen Vater?«
»Genau der.«
»Was ist mit ihm?« Reineke schien mehr aus Höflichkeit denn Interesse zu fragen.
Hommel verschluckte eine böse Bemerkung. Zwanzig Schritte schwieg er beleidigt, passte sich aber unwillkürlich dem Tempo an, das Reineke vorlegte.
»Teppers Frau ist abgehauen, noch bevor ich die Einstellung - angeordnet hatte. Auf deinen Wunsch hin, Fuchs«, setzte er aufgebracht hinzu.
»Ja, ich erinnere mich, er war verheiratet«, sagte Reineke ungerührt. »Mit einer sehr Hübschen.«
»Nach sieben Jahren ist sie jetzt aus Amerika zurückgekommen und sucht nun ihren Mann.«
»Wirklich? Woher weißt du das?«
»Sie hat den Kollegen aufgesucht, der damals die Ermittlungen eingeleitet hatte, und wollte von ihm eine Adresse ihres Mannes haben.«
»Weiß sie denn nicht, wo ihr Mann steckt?«
»Offenbar nicht. Angeblich hatten sie seit ihrer - Flucht nach Amerika überhaupt keinen Kontakt mehr.«
»Ungewöhnlich«, murmelte Reineke nach einer Pause und stellte sein Wägelchen ab. »Wer schlägt zuerst?«
»Was ist eigentlich aus diesem Tepper geworden?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn weitervermittelt und aus den Augen verloren.«
Hommel betrachtete seinen Kollegen scharf, aber Reineke erwiderte seinen Blick offen.
»Ich muss mir also keine Sorgen machen?«
»Aber nein! Warum denn?«
Nach neun Löchern kehrten sie in stillschweigendem Übereinkommen um, Hommel fror immer noch, die Bewegung half einfach nicht, ihn aufzuwärmen, und Reineke musste sich zusammenreißen, um keine Ungeduld zu zeigen. Während des Studiums hatten sie sich kennen gelernt und angefreundet, zusammen in der Uni-Mannschaft Degen gefochten, in Klausuren vereint gemogelt und zwei Semester lang auch eine Bude geteilt. Der bessere Jurist war ohne Zweifel Eckehard Hommel, aber Peter Reineke besaß mehr Fantasie und Unternehmungsgeist. Für Hommel stand das Berufsziel immer fest, Staatsanwalt oder Richter; der Gedanke, als Anwalt ohne festes Einkommen zu praktizieren, hatte ihn regelrecht gelähmt. Ohne große Lust hatte Reineke noch das zweite Staatsexamen absolviert und vorübergehend mit dem Gedanken geliebäugelt, zur Polizei zu gehen, doch zu dieser Zeit las er eine Anzeige: Das Landeskriminalamt stellte Volljuristeri ein. Mehr aus Jux bewarb er sich und wurde angenommen, die Tätigkeit gefiel ihm sogar, wenigstens zu Beginn, bis seine alte Unruhe, verbunden mit seiner Unfähigkeit, irgendetwas so tierisch ernst zu nehmen, wie man das von ihm erwartete, wieder durchbrach. Zugleich stellte er fest, dass er tatsächlich in einer Behörde arbeitete, es gab Vorschriften, Dienstwege, Vorgesetzte, und das alles ertrug er immer schwerer. Seine Beliebtheit sank dramatisch, schließlich fasste er sich ein Herz und marschierte zu seinem Chef: »Ich möchte raus aus dem Amt, praktisch arbeiten, am Schreibtisch ersticke ich.«
Nach einer langen Bedenkpause nölte sein Chef: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.«
»Wie bitte?«
»Die Verbrecher, die Sie jagen möchten, lachen sich bei Ihrem Anblick tot.«
»Heißen Dank!«
»Nicht so hitzig. Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass Sie acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, sechs Monate lang eine Hütte im Wald beobachten, in der sich möglicherweise ein Gesuchter mit einem anderen trifft?«
»Nein«, fauchte Reineke, »aber so blöd wäre ich auch nicht, für so was gibt’s technische Geräte. Und Kollegen von der Schutzpolizei.«
»Die erste Idee ist gut, die zweite schlecht.« Wenn sein Chef still in sich hineinlachte, wackelte sein beachtlicher Bauch. »Aber es gibt eine Koordinierungsstelle im Haus, die solche Kooperationen mit den anderen Ämtern, mit den Brüdern aus Wiesbaden und mit der örtlichen Polizei regelt. Regeln sollte, denn daran hapert's bis jetzt. Ich gebe Ihnen eine Chance, warum, weiß ich selbst nicht, und versetze Sie probeweise in die Abteilung XIII.«
»Dreizehn ist eine richtige Glückszahl!«
»Ach, da sind nur Verrückte beschäftigt, Herr Reineke, bei denen kann eine Dreizehn auch nicht mehr schaden.«
»Ihr Wohlwollen beschämt mich!«
»Empfinden Sie das so? - Dann hab ich was falsch gemacht. Also, wie ist’s?«
Reineke überlegte gründlich, aus seinem Chef wurde er noch nicht schlau. Der Alte soff, dass man ihn gelegentlich in seinen Dienstwagen tragen musste, und tätschelte bei jeder Gelegenheit liebevoll seinen Bauch: »Essen und trinken hält die Seele zusammen und treibt den Leib auseinander.« Sein Repertoire an ordinären Sprüchen genoss legendären Ruhm, er kümmerte sich scheinbar um nichts und erfuhr doch immer alles, was im Amt ablief. Streit schlichtete er nicht gerne, sondern ging mit einer so jähzornigen Wut gegen beide Kontrahenten vor, dass die meisten ihre Differenzen lieber gütlich beilegten. Für Politiker und Juristen hatte er nichts übrig, fleißige Mitarbeiter waren ihm unheimlich, dafür verstand er sich prächtig mit den faulen Genies.
»Ich kann’s ja mal versuchen.«
Nach zwanzig Dienstjahren arbeitete Reineke immer noch in der Abteilung XIII, mittlerweile als Abteilungsleiter. Eine Beförderung zum Vizepräsidenten hatte er ausgeschlagen, zwei Versetzungen abgewehrt. Vom ersten Tag an hatte er den Euphemismus Koordinierungsstelle durchschaut und eisern über seine neue Tätigkeit geschwiegen. Sie stimmten tatsächlich ab, mit den anderen Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt, mit Verfassungsschutz, Staatsschutz, Zoll, Militärischem Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst, das auch, aber die meisten Aktionen gingen über Abstimmung weit hinaus, darüber führten sie keine Akten. Sie betrachteten es jedes Mal als Niederlage, wenn die Abteilung XIII in der Öffentlichkeit genannt oder in den Zeitungen erwähnt wurde. Noch heute wunderte sich Reineke darüber, dass der dicke Alte ihn trotz seiner Jugend und offenkundigen Unzufriedenheit in diese Abteilung vermittelt hatte, und mehr noch, dass er genau die Aufgabe gefunden hatte, die ihm gefiel.
Tepper, Wolfgang. Was war aus dem Kerl eigentlich geworden?
Roland Pertz blieb am Telefon sehr kühl: »Tut mir Leid, keine Ahnung, wo sich der Mann aufhält.«
»Du hast ihn damals - erbeten.«
»Richtig. Auf Wunsch des Verfassungsschutzes. Was die mit Tepper angestellt haben ... Du kennst doch die Regel, je weniger man weiß, desto mehr kann man abstreiten.«
Mit einem äußerst unguten Gefühl beendete Reineke das Gespräch. Pertz verschwieg alles, manchmal sogar, dass der BND, dem er als Abteilungsleiter diente, gezielte Aktionen durchführte. Natürlich mauerte Pertz und das hieß höchstwahrscheinlich, dass etwas schief gelaufen war, Pertz aber Einzelheiten entweder nicht kannte oder nicht preisgeben wollte. Nein, entschied Reineke, gegen Überraschungen sicherte sich der vorsichtige Mensch ab. Diese Karin Tepper konnte Lärm schlagen und deshalb galt es, sie aufzustöbern und dann im Auge zu behalten.
Er drückte auf eine Taste des Telefons: »Heinrich und Opitz sollen sich so schnell wie möglich bei mir melden.«
»Geht in Ordnung.«
Montag, 11. September
Kriminalrat Karl Simon schüttelte energisch den Kopf: »Nix! Ich will den Fall endlich vom Tisch haben.«
Seine beiden Besucher schwiegen. Wenn Simon einen bestimmten Ton anschlug und die Augenbrauen zusammenzog, war mit ihm nicht mehr zu diskutieren.
Kriminalhauptkommissar Ulf Grembowski schmollte und schaute gekränkt an seinem Vorgesetzten vorbei. Ziemlich genau zwölf Monate hatte er sich die Zähne an diesem Fall ausgebissen und war, wie er eingestehen musste, nicht einen Schritt weitergekommen. An seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit hatte es nicht gelegen. Zwar sah Grem, wie er im Präsidium allgemein genannt wurde, eher nach einem Preisringer aus, der lieber seine Muskeln als seinen Grips einsetzte, aber selbst Simon, der ihn nicht sonderlich schätzte, musste nach der Lektüre der umfangreichen Akte einräumen, dass Grems Mannschaft alles Menschenmögliche unternommen hatte. Nur eben ohne jeden Erfolg und der hämische Kommentar in der Samstagsausgabe des Tageblatts hatte dann wohl das Fass überlaufen lassen.
»Was meinen Sie, Herr Rogge?«
Jens Rogge seufzte. Grems Verbitterung begriff er sehr gut und der Gedanke, Simons Entscheidung werde sein ohnehin gespanntes Verhältnis zum Leiter der Abteilung Vermisste noch weiter verschlechtern, behagte ihm überhaupt nicht. Wenn es nach ihm ginge, würde die Akte Inge Weber geschlossen. Einmal musste sie ja ihr Gedächtnis wiederfinden und bis dahin sollten sich alle gedulden.
»Große Hoffnungen mache ich mir nicht«, erwiderte er endlich und Simon lächelte schmal.
Wort für Wort hätte er die Überlegungen des hageren, grauhaarigen Mannes niederschreiben können, aber gerade deswegen schlug er nicht vor, sondern drohte mit einem dienstlichen Befehl. Sollte Grem sich quer legen oder Rogge Knüppel zwischen die Beine werfen, würde er mit dem Riesen Schlitten fahren. Erstens beabsichtigte er das schon lange und zweitens schadete es diesem ganzen Sauhaufen nicht, wenn wieder einmal verdeutlicht wurde, wer hier im Präsidium das Sagen hatte.
»Große Hoffnungen müssen nicht sein«, versetzte er deshalb ungerührt, »eine kleine reicht mir vorerst.«
Nach einer Weile zuckte Rogge die Achseln. Mit Simon kam er gut aus, aber deswegen kannte er den Rat auch besser als Grem, der vor unterdrückter Wut schwitzte und die Fäuste ballte, statt angestrengt zu überlegen, was sein Abteilungsleiter im Schilde führte.
»Okay, ich sehe, wir haben uns verstanden. Kollege Grem gibt also den Fall offiziell an den Kollegen Rogge ab. Ich informiere die Staatsanwaltschaft und die Pressestelle.«
»Muss das sein?«, knurrte Grem.
»Keine Nachricht an die Presse, aber die nächsten Anfragen laufen über das Erste. Alles klar?«
Wie von der Feder geschnellt sprang Grem hoch und stürzte zur Tür. Rogge wollte noch etwas sagen, aber Simon winkte ärgerlich ab. Mit einem gemurmelten »Wiedersehen« verließ Grem das Zimmer.
Auf der Treppe gingen sie nebeneinander, Grem atmete schwer.
»Ich hab mich nicht danach gedrängt, Grem«, sagte Rogge ruhig.
»Dieser Scheißkerl hat was gegen mich, das ist alles, und du machst sein Spiel mit.«
»Er kann mich anweisen, das weißt du genau.«
»Was erwartet der Blödian eigentlich?«
»Woher soll ich das wissen? Ich kenn den Fall nicht.«
»Vom Tisch haben! Wenn ich so was schon höre! Der große Herr Rat schnippt mit den Fingern, prompt schlägt sie die Augen auf und flüstert: Ich bin die gute Lotto-Fee.«
»Wenn sie die nächsten sechs Richtigen ausplaudert ...«
Grems Zimmer war ein hoher, tiefer und entsetzlich schmaler Schlauch, so, als habe der Architekt sich verrechnet und während des Baus mit einem Mal festgestellt, dass zwischen zwei Zimmerwänden noch eine Lücke geblieben war. Aus purer Not hatte er ein Fenster in die Außenwand gebrochen, das die gesamte Breite des Zimmerchens einnahm. Hinter Grems Rücken munkelten die Kollegen, die ihm nicht wohl wollten, er habe sich den Raum bewusst ausgewählt, weil er jeden Morgen beide Arme gegen die Zimmerwände stemme und versuche, sie auseinander zu schieben. Erst wenn ihm das gelungen sei, würde er umziehen, aber vorher noch mit seinem Dick- und Quadratschädel die Mauern einrennen.
»Setz dich!«, brummte Grem und warf sich in seinen Rollensessel, den er sofort nach hinten kippte.
Abgerissene Tapete und bröckelnder Putz zeugten von seiner
Lieblingsposition. Rogge musste sich regelrecht auf den Besucherstuhl schlängeln, weil der mit der Lehne ebenfalls an die Wand stieß. Trotz des geklappten Oberlichts stank es bestialisch nach dem Knaster, den Grem in einer uralten Pfeife rauchte.
»Hier sind die Akten.«
»Danke, ja.« Ein beachtlicher Stoß, Rogge schob ihn zur Seite und erkundigte sich sachlich: »Diese XY ... ungelöst-Sendung hat nichts gebracht?«
»Überhaupt nichts!«, grollte Grem, dem noch heute der Kamm schwoll, wenn ihn die Kollegen als »unseren Fernsehstar« hänselten.
»Eigentlich merkwürdig.«
»Das darfst du singen, flöten und deklamieren. Ein Juwelier hat sich gemeldet und behauptet, die Schließe der Halskette scheine ihm ein französisches Fabrikat zu sein, aber damit sind wir auch nicht weitergekommen.«
»Die Unterwäsche könnte auch aus Frankreich stammen.«
»Richtig, aber Frankreich ist groß und Simon hat nicht erlaubt, dass einer von uns eine Dienstreise nach Frankreich macht.«
»Und wie steht’s mit ihrer Amnesie?«
»Unverändert. Aber du musst dich mal mit diesen Idiotenärzten unterhalten. Die überschütten dich mit einem Schwall komplizierter Fremdwörter, eiern herum, sondern ellenlange Sermone ab, und wenn du sie zwingst, sich verständlich auszudrücken, kriechen sie ganz kleinlaut unter den Teppich: Nischt, nischt, nischt. Keine Ahnung, wann die Dame geruhen könnte, ihre Erinnerung wiederzufinden. Keine Ahnung, warum und wie sie ihr Gedächtnis verloren hat.«
Nicht ganz so grob, aber in der Sache unverändert hatte es Grem in den Montagskonferenzen vorgetragen, zu denen sich die Leiter aller Abteilungen und Dezernate am Wochenanfang zwischen acht und neun Uhr trafen. Als Simon heute Morgen zum Schluss die Kollegen Grembowski und Rogge zu sich bat, war ein Raunen durch den Versammlungssaal gegangen. Alle Anwesenden hatten am Wochenende das Tageblatt gelesen.
»Was macht sie jetzt eigentlich?«
»Steht alles in den Akten«, sagte Grem, aber weil Rogge nur den Kopf schräg legte, räusperte Grem sich ausgiebig. »Sie arbeitet in einer Bäckerei, als Aushilfsverkäuferin. Seit sechs Monaten hat sie einen Freund und der heißt - halt dich fest! - Achim Schönborn.«
»Ach nee!«, kommentierte Rogge gedehnt, was Grem zu beruhigen schien: »Ja, genau der.«
»Lebt sie bei ihm da draußen in seiner Villa?«
»Nein, sie hat immer noch ihre eigene Wohnung. Aber sie verbringt manche Nacht und fast jedes Wochenende in Steinfurth.«
»Was Ernstes zwischen den beiden, Grem?«